"Social Marble": Aktionskunst aus Belarus

Interview

Ein dynamisches, künstlerisches Archiv der Demokratiebewegung Belarus. Der belarusische Aktionskünstler Sergey Shabohin dokumentiert noch bis zum 20. November die Neufindung der Zivilgesellschaft in Belarus. Zu verfolgen durch ein Schaufenster am Berliner "Haus der Statistik" und online.

Lesedauer: 5 Minuten
Plakat, grau: Aktionskünstler Sergey Shabohin

Fragen zu seinem Projekt beantwortet hier der Aktionskünstler Sergey Shabohin

Die Idee zum Projekt Social Marble?

Dieser Zyklus meiner Arbeiten basiert auf Beobachtungen der Minsker Stadtreinigungsbetriebe, die nicht in der Lage waren, eingeätzte Pigmente der Graffiti zu entfernen, die sich auf Marmorwänden der Fußgängerunterführungen befinden. Weil es nicht klappte, fingen sie an die Graffitispuren mit Marmorklebefolie, meist „Made in China, zu überkleben. Für mich persönlich ist es ein unglaubliches und ein sehr aussagekräftiges Bild für die Ideologie des derzeitigen belarussischen Staates, der gerade zwar in seiner Form noch besteht, aber seine Legitimität bereits eingebüßt hat, der sich auf das sowjetische Erbe beruft, aber nicht mehr in der Lage ist gegen, so könnte man sagen, kapitalistische Pigmente und gegen Phänomene von Freiheit, Nonkonformismus und Demokratie vorzugehen. Und dann versuchen sie es mit Maßnahmen einer Pseudosanierung, versuchen die Spuren des Anderen mit Fake-Folien, Fake-Marmor zu überkleben. Und eben diese Marmorfolie bezeichne ich als „Sozialen Marmor.

Was steht denn hinter dem Titel „Social Marble“? 

Künstler sitzt hinter einer Scheibe in seiner Ausstellung "Social Marble" am Laptop

Bei „Social Marble“ gibt es eine Vielzahl von Konnotationen. Einerseits ist es eine Art von „Marmorder für jeden erschwinglich ist. Auf der anderen Seite ist Marmorgestein mit seiner Textur und seinem Muster das Ergebnis chemischer, geologischer und biologischer Prozesse, die im Bodengrund stattgefunden haben und dessen Spuren zu einem wundersamen, allseits beliebten Ornament geronnen sind. Der Zyklus meiner Arbeiten handelt von geronnenen gesellschaftlichen Prozessen in Belarus, vor allem dort. Auch wenn manche der Installationen aus der Reihe in anderen Ländern erstellt wurden und bestimmte Ideenkontexte jener Länder auch verhandeln, widmet sich „Social Marble“ vor allem doch Belarus. In erster Linie geht es dabei um soziale Prozesse und moderne Mythen. Zum Beispiel dem sowjetischen Mythos oder dem Mythos von einer besonderen Toleranz der Belarussen oder dem Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg. Diese Mythen sind Teile einer modernen Mythologie, auf welcher die heutige belarussische Ideologie baut. Von der Auseinandersetzung damit handelt der Zyklus. Ich verwende bewusst billige Materialien wie Karton und Sperrholz, die dann mit dem „Social Marble beklebt werden.

Für die Installation in Berlin habe ich folgendes Format entwickelt: Eine seitenoffene, klammerförmige Stellwandkonstruktion aus Sperrholz, die mit der weißen Marmorfolie beklebt ist. Im Raum der Konstruktion verbringe ich 20 Tage und spreche mit unterschiedlichen Menschen, studiere den Kontext, untersuche historische Konnotationen und versuche gemeinsam mit meinen Gesprächspartner*innen den zukünftigen Verlauf der belarussischen Proteste vorherzusagen.

Das, was gerade in Belarus geschieht, ist ein sehr besonderer historischer Moment, ein unglaublicher Ausbruch, die Wiedererweckung einer Gesellschaft. Direkt vor unseren Augen sehen wir sie wachsen und erstarken und wir können auf der einen Seite bereits wichtige und sehr achtenswerte Erfolge dieser Revolution der Wiedererweckung erkennen. Auf der anderen Seite sehen wir sehr große Ängste was die Zukunft betrifft, wir sehen diese nicht mehr legitime Staatsmacht, die sich immer noch ungebrochen und mit Gewalt halten kann. Ein Machttransfer hat bisher noch nicht stattgefunden. Vor diesem Hintergrund sehen wir zugleich wie das zivilgesellschaftliche Bewusstsein wächst. Ich halte es für unglaublich wichtig diese sozialen Prozesse festzuhalten und nutze dazu die Gestalt des „Sozialen Marmors“ als Zeugnis dieser einzigartigen Zwischenzeit, in der wir uns gerade befinden. Einiges ist bereits Vergangenheit und nicht mehr existent, die Zukunft noch schwer vorherzubestimmen und doch scheinen gleichzeitig verschiedenste utopische Ideen möglich. Dieser historische Moment von Inspirationen und Verwirrung steht im Zentrum meines Versuchs, diesen Augenblick festzuhalten und ein Zeitdokument zu erschaffen.     

Wie wähle ich meine Interviewpartner aus?

Sonnenuntergang. Künstler steht vor dem Schaufenster seiner Ausstellung.

Einerseits ist meine Auswahl intuitiv. Zugleich aber ist sie sehr bedacht. Ich wusste beispielsweise ganz genau wer meine erste Gesprächspartnerin sein wird: Olga Shparaga. Wir haben bereits im Rahmen der Projekte zu „Social Marble“ zusammengearbeitet. Sie hat bereits sehr viel Reflexionsarbeit zu meinen Werken geleistet und wir teilen beide die Idee von der Notwendigkeit, dass die Zivilgesellschaft wachsen muss. Auch sind wir beide sehr an der Bildung und Entwicklung von Gemeinschaften interessiert. Nach einem Gespräch mit ihr wurde mir klar, dass ich unbedingt mit einem Historiker sprechen muss, mit Alexej Bratotschkin, dass ich mit Künstlern sprechen muss, die von Repressionen betroffen waren, zum Beispiel Aleksej Kuzmitsch und Nadja Sajapina. Und wenn ich es weiterentwickle, weiß ich jetzt, dass mir noch Stimmen der Straße fehlen. Ich muss unbedingt mit einem Urbanisten sprechen, mir fehlt ein feministischer Blick und daher muss ich unbedingt mit einer Feministin sprechen. Gerade ist es sehr schwierig den Ablauf zukünftiger Entwicklungen vorherzusagen, es liegen nur sehr wenige Prognosen vor, aber auch die Trigger der Vergangenheit, die diesen Prozess geprägt haben, sind nicht ausreichend beleuchtet - so wird mir klar, ich muss mehr mit einem Historiker sprechen. 

Und eben auch mit den wirklichen Stimmen von der Straße: Anarchisten, Werkarbeiter usw. Meine Entscheidungen intuitiv und gleichzeitig entwickeln sie sich Schritt für Schritt in einer eigenen Folgerichtigkeit. Anfangs wollte ich mit sehr vielen Menschen reden, aber dann zeigte sich, dass die Meisten doch Ähnliches verhandeln. Und so möchte ich mich mehr auf eine Vielseitigkeit der Stimmen konzentrieren, damit unterschiedliche Perspektiven auf die Ereignisse zur Geltung kommen.

Nach den Interviews besteht die nächste Etappe meiner Arbeit im Studium der Presse, der Entwicklung von einem Symbolsystem für wichtige Daten und Trigger für bestimmte Ereignisse, vor allem die Entwicklung weiterer künstlerischer Gestalten und Formen, damit dieses Projekt sich nicht nur im Rahmen einer soziologischen Befragung bewegt, sondern auch im Raum der Kunst.        

Übersetzt von Wanja Müller

Das Projekt "Social Marble" wird organisiert vom Verein "Razam", unterstützt von der Heinrich-Böll-Stiftung. Es ist auch auf Instagram zu verfolgen.