Die Bahnstadt in Heidelberg ist die größte Passivhaussiedlung der Welt. Doch aus Perspektive der (sozial) nachhaltigen Stadtentwicklung gibt es auch Kritikpunkte an dem Quartier.
- Gesamtfläche: 116 Hektar (Heidelberger Kernaltstadt: 105 Hektar, HH Hafencity: 154 Hektar)
- Projektlaufzeit seit 2008 bis 2027 (geplant)
- 61 % Bauland, 18 % öffentliche Grünflächen und Plätze, 21% Verkehrsflächen
- 180.000m² Grün- und Freiflächen
- Bewohner*innen: 4.923 (Ziel: 6.800, Wohneinheiten: 3.700)
- Altersschnitt: 29 Jahre, jüngster Stadtteil Heidelbergs, höchste Geburtenrate Heidelbergs
- erste Bewohner*innen sind im Juni 2012 eingezogen
- Straßenbahnneubau mit zwei neuen Linien
- eine Grundschule, acht Kitas
- sozialversicherte Arbeitsplätze: 2.875 (2019), geplant: 6.000
- Projektentwicklung durch „privaten Entwickler“ (Landesbank, Sparkasse und städtische Baugesellschaft GGH)
- Private und öffentliche Investitionen: ca. 2 Milliarden Euro (Schätzung)
- Kulturelle Angebote und Gewerbe: bspw. Kultur- und Veranstaltungszentrum halle02, Kino, Konferenzzentrum, Einzelhandel
- flächendeckend Passivhausstandard und Fernwärmeverpflichtung
- Versorgung mit Wärme und Strom aus 100 Prozent regenerativen Energien
- durchschn. Heizwärmeverbrauch: 18,3 kWh/m²/a, durchschn. Gesamter Wärmeverbrauch (heizen und Warmwasser): 45kWh/ m²/a
Im Jahr 2008 hat Heidelberg begonnen, die Bahnstadt zu bauen. Ein kompletter Stadtteil, der im altehrwürdigen Heidelberg in zentraler Lage “aus dem Boden gestampft” wurde. Klar war: Hier besteht riesiges Potential innovativ, kreativ und modern zu bauen und zu entwickeln. Heute kann sich Heideberg mit der größten Passivhaussiedlung der Welt rühmen. Doch aus Perspektive der (sozial) nachhaltigen Stadtentwicklung gibt es auch Kritikpunkte an der Bahnstadt.
Entstehungsprozess
Die Bahnstadt liegt zentral in Heidelberg auf der Fläche des ehemaligen Güter- und Rangierbahnhofs, der bis 1997 in Nutzung war. Sie schließt im Norden direkt an den Hauptbahnhof an und hat gute verkehrliche Anschlüsse an das Autobahnnetz, liegt aber gleichzeitig im Süden mit unmittelbarem Anschluss an einem großen Naherholungsgebiet (über 400 Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche).
Im Rahmen eines Wettbewerbs wurden 2001 die städtebaulichen Rahmenbedingungen festgelegt, durch eine “städtebauliche Entwicklungsmaßnahme” wurde deren Umsetzung gesichert und es wurde festgehalten, dass der gesamte Stadtteil im Passivhausstandard gebaut werden soll. Weitere Details wurden quartiersweise über Bebauungspläne festgelegt.
Entwicklungskonzept
Zum Kauf des Areals von der Bahntochter Aurelis beauftragte die Stadt ein privates Konsortium von Landesbank, Sparkasse und städtischer Baugesellschaft – tatsächlich schien zu jener Zeit das Projekt als finanzielles Wagnis. Das Konsortium wurde mit einem städtebaulichen Vertrag beauftragt, in Einhaltung des städtischen Rahmen- und Bebauungsplans die Grundstücke zu verkaufen und die Entwicklungsmaßnahme zu steuern. Diese Beauftragung und die dadurch limitierte politische und städtische Steuerung sollten letztlich mitverantwortlich für eine geringe soziale Durchmischung der Bahnstädter*innen zu sein.
Nach dem Baubeginn 2008 konnten 2012 die ersten Bewohner*innen einziehen. Etwa zeitgleich wurde auch entschieden, die 2002 im ehemaligen Güterbahnhof gegründete Kulturinitiative “halle02” zu behalten, das Gebäude zu sanieren, und in den Stadtteil zu integrieren. Sie wurde nachträglich im Bebauungsplan als “Anlage kultureller Zwecke” festgeschrieben, was die halle02 wohl bundesweit zum ersten Veranstaltungshaus und Club mit diesem rechtlichen Status macht. Bis heute empfängt sie ca. 200.000 Besucher*innen im Jahr, versorgt den Stadtteil mit Kultur, über Die Anerkennung als Kulturstätte (im Gegensatz zur Vergnügungsstätte) bietet Clubs sowohl bau- als auch steuerrechtliche Vorteile. regionaler Strahlkraft und Identität und ist nicht zuletzt Standortfaktor für die Ansiedlung von kreativen Unternehmen in der Bahnstadt.
Mobilität und Infrastruktur
Die zentrale Lage der Bahnstadt ermöglicht sehr gute infrastrukturelle Rahmenbedingungen und auch die Nahversorgung ist in exzellenter Weise gesichert. Eine intelligente und sensorgesteuerte LED-Beleuchtung schafft effizient Sicherheit und Qualität. Die Breitbandversorgung ist durch Glasfaser gesichert. Als erster Schritt wurde im Sommer 2012 der Querbahnsteig am Hauptbahnhof mit dem Ausgang zur Bahnstadt eröffnet. Dadurch, dass der ÖPNV-Anschluss über zwei neue Straßenbahnlinien erst 2018 realisiert werden konnte, herrscht aber immer noch ein zu hohes Autoaufkommen im Stadtteil. Außerdem wurde, um der gültigen Stellplatzverordnung Baden-Württembergs entsprechen zu können, damals alle größeren Baufelder mit Tiefgaragen versehen, was heute einer wirklichen Verkehrswende im Stadtteil entgegensteht. Zudem lädt die durchgängig als gerade Linie geplante Durchgangsstraße, die die Bahnstadt von Westen nach Osten durchteilt, zum Rasen ein. Allerdings gibt es neben zahlreichen Carsharing-Angeboten auch eine Vielzahl an attraktiven Radwegeverbindungen und ein vielfältiges Angebot an E-Roller- und Bike-Sharing-Anbietern.
Wohnen
Die 3.700 zum Teil noch im Bau befindlichen Wohneinheiten sind komplett im Passivhausstandard gebaut und sind preislich im gehobenen Bereich angesiedelt (Die warmen Mietpreise beginnen etwa bei 11,50 €. Die durchschnittliche Mietspiegel-Miete in Heidelberg beträgt kalt 9,14 Euro pro Quadratmeter (2019). Durch eine städtische Miet- und Kaufpreisförderung, durch Bauaktivitäten der städtischen Wohnungsbaugesellschaft sowie durch die Ermöglichung von Projekten von Baugesellschaften wurde versucht, eine Preisexplosion zu vermeiden. Mehr als vermeintlich hohe Baukosten für den Passivhausstandard waren wohl die zentrale Lage, die hochwertige Ausstattung der Wohnungen sowie der generell starke Wohndruck in Heidelberg Gründe für die Preisentwicklung.
Durch die aus dem Nachhaltigkeitsgedanken resultierende vergleichsweise dichte Bebauung sollte möglichst viel Wohnraum bei möglichst wenig Flächenverbrauch entstehen. Dies führte aber auch zur bereits erwähnten Kritik über zu viele versiegelte Flächen und Wärmeinseln sowie (durch noch zu geringes Baumwachstum) fehlende Schattenplätze im Stadtteil. Auch eine mangelnde Berücksichtigung des bereits vorangeschrittenen Klimawandels in Kombination mit der Passivhausbauweise führt bei fehlenden Außenverschattungen oder falscher Nutzung und noch nicht ausgeführter Fernwärme-Kühlung zu vergleichsweise „heißen Sommern“ in der Bahnstadt.
Energie und Wärme
Der zentrale Nachhaltigkeitsgedanke des gesamten Stadtteils kommt nicht nur durch den Passivhausstandard, sondern auch durch eine Versorgung mit Wärme und Strom aus 100% regenerativen Energien sowie effizienten Stromsparmaßnahmen zum Tragen. Hierfür wurde gemeinsam mit den städtischen Stadtwerken in direkter Nähe ein Holzheizkraftwerk mit einer Wärmeleistung von zehn Megawatt und einer Stromleistung von drei Megawatt gebaut, das nicht nur Wärme, sondern auch nachhaltigen Strom u.a. für die Bahnstadt produziert. Das Holzheizkraftwerk ist in ein Fernwärmenetz integriert, dass nicht nur Energie für die Bahnstadt liefert. Die Energieversorgung für die Bahnstadt wird dadurch aber bilanziell zu 100 % regenerativ.
Wärmepumpen spielen heute eine größere Rolle in der Wärmeversorgung und auch bei der Entwicklung neuer Quartiere in der Stadt spielen. In der Planungsphase der Bahnstadt (2006) waren die entsprechenden Technologien noch nicht in effizienter Ausführung verfügbar und der verfügbare Strommix, der zum Betrieb der Wärmepumpen notwendig ist, war 2008 nur zu etwa 15% erneuerbar. Im Jahr 2020 liegt der erneuerbare Anteil nun bei rund 50 %.
Der Vorwurf, dass die Energie, die für das Heizen nicht benötigt würde, dafür in die Lüftungsanlagen der Passivhäuser gesteckt werden müsste, wurde durch eine Studie widerlegt, die von 2014 bis 2019 durchgeführt wurde. Diese Studie bestätigte auch den tatsächlich geringen Wärmebedarf der Bahnstadt.
Wirtschaftsstandort
Unmittelbar um das Gelände des alten Güterbahnhof herum entstand auf 20 Hektar ein “Innovationscampus” mit einer ausdrucksstarken Architektur, der etwa ein Sechstel des gesamten Stadtteils ausmacht. Insgesamt sollten 6.000 hochqualifizierte Arbeitsplätze auf dem Gelände geschaffen werden. Die direkte Verkehrsanbindung an den Hauptbahnhof, zwei neu gelegte Straßenbahnlinien und nicht zuletzt das im Bau befindliche Konferenzzentrum Heidelberg sorgen für eine hohe Attraktivität für Unternehmen, ebenso wie ein funktionierendes gastronomisches Angebot und ein lebendiger Einzelhandel.
Bildung und Betreuung
Viele Kitas und eine inklusive Grundschule ermöglichen eine erstklassige Betreuung im jüngsten Stadtteil Heidelbergs (die übrigens wiederum die jüngste Stadt Deutschlands ist) und sind mit dem neu entstandenen Bürgerzentrum in einer Einheit verbunden. Hier finden auch durch den Stadtteilverein initiierte Kulturveranstaltungen statt, daneben probt dort der Stadtteilchor.
Freiflächen
Besonders charakteristisch für die Bahnstadt ist die sogenannte “Promenade”. Sie zieht sich an der gesamten Längsseite des Stadtteils zum Feld entlang und lädt zum Flanieren, Joggen und Skaten ein. Zahlreiche hochwertige Spielplätze für Kinder, Cafés in alten Stellwerken, Grünflächen und so genannte “Parklets” werden von Heidelberger*innen aus allen Stadtteilen sehr intensiv genutzt. Über den alten Bahndamm ist die Promenade zudem direkt mit dem Heidelberger Stadtwald und den Ausläufern des Odenwaldes verbunden. Eine weitere Aufwertung für den Stadtteil stellen oberirdische Regenwasserbecken dar, die sich aktuell über 450 Meter lang an der Durchgangsstraße entlangziehen. Hier gibt es Enten und Fische und im Sommer gehen Kinder sogar plantschen. Generell wurde in der Bahnstadt auf eine hohe Aufenthaltsqualität auf den Freiflächen geachtet, die sich über 180.000 Quadratmeter erstrecken. Teilweise sind diese aber noch nicht fertiggestellt, wie beispielsweise die Parkanlage auf der Pfaffengrunder Terrasse, was schon zu Kritik wegen vermeintlichem Mangel an Grünfläche geführt hat.
Ökologie
Das Regenwasser speist im Wesentlichen die Wasserbecken, die dadurch ökologisch wertvolle Ausgleichsflächen darstellen, und versickert darüber hinaus in den angrenzenden Rasenflächen. Das kommt dem Grundwasserspiegel zugute, der aufgrund abnehmender Niederschläge deutschlandweit immer weiter sinkt. Zugleich werden die technischen städtebaulichen Vorgaben einer 50%igen Retention des anfallenden Regenwassers zur Zwischenspeicherung, Versickerung und Entlastung der Kanalisation und Schonung der Umwelt eingehalten. Neben dem Neckar bieten die Wasserbecken darum eine alternative, wenn auch anthropogene, Wasserader im urbanen Kontext an. Auch oberirdisch besitzen die Wasserbecken eine wichtige ökologische Bedeutung: An heißen Tagen verdunstet Regenwasser und kühlt die Luft. Das verbessert das Mikroklima im Umfeld. Bewohner*innen bietet die grüne Freifläche am Wasser außerdem einen weiteren Treffpunkt.
Bevor die Bahnstadt entwickelt wurde, war sie von Mauer- und Zauneidechsen bewohnt. Um diese Populationen nicht zu verlieren, wurden in unmittelbarer Umgebung eine 37 Hektar große Ausgleichsfläche mit arttypischen Sand-, Splitt-, und Schotterböden geschaffen und sogar eine Eidechsenbrücke gebaut. Rund 3.500 Eidechsen wurden umgesiedelt, die sich seitdem weiter prächtig vermehren. Auch Saatgut von standorttypischen Pflanzenarten wurde ausgebracht, das teilweise zuvor auf der Güterbahnhofbrache gewonnen wurde. In den Bebauungsplänen wurde zudem festgesetzt, dass auf 66% der Dachflächen im Stadtteil eine extensive Dachbegrünung installiert werden muss. Begrünte Flachdächer haben klimatische, bio-ökologische, aber auch ökonomische, städtebauliche und abwassertechnische Positivwirkungen und können 50 bis 70% des Regenwassers zurückhalten. Sie filtern Staub und Schadstoffe, heizen sich im Sommer weniger auf als unbegrünte Dächer und wirken so temperaturausgleichend. Sie sind Lebensraum für Tiere und Pflanzen und tragen als Trittsteinbiotope zur innerstädtischen Biotopvernetzung bei.
Ausblick
Oft wird eine eintönige Architektur in der Bahnstadt beklagt. Grund dafür ist sicherlich, dass die Entwicklungsflächen in relativ große Grundstücke eingeteilt und an die Investor*innen vergeben wurden. Eine kleinteiligere Vergabe hätte für mehr architektonische Abwechslung gesorgt. Zudem hätte der Verkauf anhand von zusätzlichen Vergabekritierien stattfinden sollen, wie beispielsweise Nachhaltigkeit oder einem festen Prozentsatz von geförderten Wohnraum, was zu einer höheren sozialen Durchmischung geführt hätte. Auch die mangelnde Erfahrung der Planer*innen mit Passivhausfassaden sowie die teilweise noch fehlende Straßenbegrünung tragen ihren Teil zu einer gewissen Uniformität bei. Dass Entwicklungsflächen besser in kleineren Projektteilen vergeben und entwickelt werden sollten, ist eine Lehre aus der Bahnstadt, die in Heidelberg bei der Entwicklung zukünftiger Flächen in die Konzeption einfließt.
Auch wurde kritisiert, dass die Nutzung der Bahnstadtdächer mit Photovoltaik versäumt wurde (die man vorher im Konflikt zur extensiven Dachbegründung gesehen hatte). Dies wurde nun nachträglich durch eine Änderung im Bebauungsplan festgeschrieben, was nun Sonnenenergiegewinnung bei gleichzeitiger Dachbegrünung ermöglicht.
Viele Erfahrungen, die bei der Entwicklung der Bahnstadt gemacht wurden, werden nun bei der Entwicklung des nächsten neuen Stadtteils in Heidelberg aufgegriffen und besser gemacht: bei der 92 Hektar großen Konversionsfläche “Patrick-Henry-Village” (PHV), einer ehemaligen Siedlung der US-amerikanischen Truppen. Dort wird bei der Gebäudeherstellung neben einem hohen Gebäudeeffizienzstandard (KfW 40 in Diskussion) nun auch ein Fokus auf den „nachhaltigen Dreiklang“ gesetzt, nämlich auf den Einsatz effizienter Baustoffe, die suffiziente Nutzung der Gebäude (also eine „gute Auslastung“ der Räume oder Quartiere. z.B. Co-working-Plätze, gemeinsame Waschmaschinen, Gästewohnungen, Gemeinschaftsräume) und die konsistente Herstellung der Gebäude mit einem Lebenszyklus, der auf Kreislaufwirtschaft und naturverträglichen Technologien basiert. Somit wird sowohl der gesamte “Fußabdruck” des Hauses als auch dessen Nutzung bei der Ermittlung der CO2-Bilanz des Stadtteils berücksichtigt. Deshalb werden im “PHV” auch die Themen Energiegewinnung im Quartier, mittelwarme Wärmenetze, Mobilität, Geothermie und Wasserwirtschaft noch stärker in den Fokus genommen. Auch die benötigte Energie zum Kühlen von Gebäuden soll effizienter und nachhaltiger realisiert werden. Ein "wechselwarmes Netz" soll die Neubauten sowohl mit Energie zum Kühlen als auch zum Heizen versorgen. Damit dient das Gesamtsystem auch zur Energierückgewinnung. Zusammen mit der Bereitstellung von erneuerbaren Energien kann es den ursprünglichen Gedanken des "Passivhauses" auf das neue Niveau eines "Aktivhauses" heben.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Bahnstadt mit ihrem Passivhausstandard in Sachen Energieeinsparung und CO2-Neutralität ein Erfolg war. Die negativen Aspekte werden als Lehre in zukünftige Stadtentwicklung eingehen.
Der Verfasser dieses Textes lebt, wohnt und arbeitet seit 2008 in der Bahnstadt.
Mehr Infos zu Felix Grädler finden Sie unter www.felixgraedler.de.
Infos zur Bahnstadt finden Sie unter www.heidelberg-bahnstadt.de.