Einen Monat nach dem Putsch hat die gewaltlose Protestbewegung ganz Myanmar bis in den öffentlichen Dienst hinein erfasst. Sie versucht, alternative legitime Machtstrukturen aufzubauen, während das Regime den Protest zunehmend gewalttätig bekämpft. Am Wochenende kam es vermehrt zu Schusswaffeneinsätzen gegen friedlich Protestierende. Warum kam es zum Putsch, und wie stehen die Chancen für eine friedliche Rückkehr zur Demokratie in Myanmar?
Am Montagmorgen, den 1. Februar 2021, putschte das Militär Myanmars (auch „Tatmadaw“ genannt) gegen die mit überwältigender Mehrheit erst im November 2020 wiedergewählte Regierung der National League for Democracy (NLD), verhaftete die Staatsrätin Aung San Suu Kyi und den Präsidenten U Win Myint, rief den Ausnahmezustand aus und kündigte die Durchführung neuer Wahlen unter seiner Kontrolle innerhalb eines Jahres an. Wenige Tage danach begann eine Protestbewegung, die inzwischen – einen Monat später – das ganze Land umfasst und den Charakter eines gewaltlosen Aufstands gegen das Militärregime trägt, Teile des Staatsapparats und der Wirtschaft außer Funktion gesetzt hat, ein alternatives und legitimes Machtzentrum aufzubauen versucht - und immer stärker mit gewaltsamen Mitteln unterdrückt wird. Warum kam es zum Putsch und wie stehen die Chancen für eine friedliche Rückkehr zur Demokratie in Myanmar?
Hintergründe des Putsches
Für fast alle im Land kam der Putsch überraschend, denn eine akute Infragestellung der politischen oder wirtschaftlichen Position des Militärs war zu dem Zeitpunkt nicht erkennbar. Im Jahr 2008 hatte das damalige Militärregime eine Verfassung beschließen lassen, die ihm Sonderrechte in einem zukünftigen parlamentarischen System sicherte, darunter 25% aller Parlamentssitze und die Kontrolle über drei wichtige Ministerien. Diese Verfassung gilt formell bis heute (Militär und NLD beziehen sich beide auf sie). Die politische und wirtschaftliche Liberalisierung nach 2011 erfolgte unter der Herrschaft des ehemaligen Generals Thein Sein. Der überwältigende Wahlsieg der NLD unter Aung San Suu Kyi im Jahr 2015 hat das Militär wohl überrascht, aber zwischenzeitlich schien es sich mit der de facto-Machtteilung in einem bipolaren politischen System arrangieren zu können. In diesem System waren weder seine wirtschaftlichen Interessen bedroht, noch bestand die Gefahr, dass führende Militärs wegen der durch sie zu verantwortenden massiven Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya national oder international zur Verantwortung gezogen würden; tatsächlich hat Aung San Suu Kyi die Militäraktionen im August/September 2017 im Wesentlichen gegen internationale Kritik und Genozidvorwürfe verteidigt und dafür selbst einen massiven Reputationsverlust im Westen hingenommen. Jeder Versuch der NLD, die Verfassung zu ändern, musste an einer Sperrminorität des Militärs scheitern. Warum also der Militärcoup jetzt?
Offenkundig haben die Wahlen am 4.11.2020, die von der NLD mit einer noch größeren Mehrheit als 2015 gewonnen wurden, dem Militär endgültig bewiesen, dass es bei freien Wahlen selbst im Rahmen der nach seinen eigenen Interessen manipulierten Verfassung von 2008 nicht gegen Aung San Suu Kyi ankommt. Viele Beobachter hatten erwartet, dass die NLD zwar weiterhin eine Mehrheit der Stimmen erhalten, aber gegenüber 2015 Verluste werde einstecken müssen, vor allem in den ethnischen Minderheitsgebieten; das Gegenteil war der Fall.
Freier und fairer Wahlprozess
Bereits Wochen vor den Wahlen hatte die Wahlkommission angekündigt, dass in einer Reihe von Bezirken aus Sicherheitsgründen keine Wahlen würden stattfinden können. Diese Verlautbarung betraf rund 1,2 Mio. Wahlberechtigte, vor allem in ethnischen Minderheitsregionen, und wurde weithin kritisiert. Trotz dieser und zahlreicher anderer Probleme war die Durchführung der Wahlen selbst von nationalen und internationalen Beobachtungsteams als im Wesentlichen frei und fair beurteilt worden.
Danach aber begann vor allem die militärnahe „Union Solidarity and Development Party“ (USDP) über Defizite und Manipulationen bei den Wahlen zu klagen und zog vor Gericht; einige Klagen wurden abgewiesen, andere sollten im Februar verhandelt werden. Auch die Armee zog mit Behauptungen in die Öffentlichkeit, sie habe weitreichende Fehler in den Wählerlisten entdeckt.
Kritik der Militärs ohne Begründung
Für keine dieser Behauptungen über Unregelmäßigkeiten sind bislang substanzielle Begründungen vorgelegt und geprüft worden. Die Armee klagte darüber, dass NLD und Wahlkommission nicht auf ihre Vorwürfe eingingen und die Einberufung des nationalen Sicherheitsrats verweigerten. In den letzten Januartagen begann die Armee dann selbst offenbar, massiven Druck auf die NLD-Führung auszuüben; es soll um eine substanzielle Machtbeteiligung und eine Verschiebung der für den 1.2.2021 geplanten Eröffnung des neuen Parlaments gegangen sein, die von Aung San Suu Kyi rundweg abgelehnt wurde. Der Putsch begann Stunden vor der Parlamentseröffnung.
Das Militär behauptete später, seine Kritik an den Wahlen und seine Forderungen seien von der zivilen Regierung nicht mit dem angemessenen Respekt behandelt worden; daher sei es seine Pflicht gewesen, den Notstand auszurufen, um die Integrität der Verfassung zu gewährleisten. Trotz zahlreicher offenkundiger juristischer Widersprüche lautet das Narrativ des Militärs bis heute, der Putsch sei ein verfassungsgemäßer Akt.
Viele Menschen in Myanmar sehen den eigentlichen Grund des Putsches im individuellen Machtinteresse des höchsten Militärführers, Senior General Min Aung Hlaing, der kurz vor der Pensionierung stand. Andere interpretieren den Gang der Ereignisse als Beleg für den Zusammenbruch jeglicher Kommunikation zwischen den beiden Machtzentren im Land, an dem auch Aung San Suu Kyi Verantwortung trägt.
Was tun die Putschisten und was sind ihre Ziele?
Die putschenden Streitkräfte zielen – ihren eigenen Aussagen zufolge – darauf ab, innerhalb eines Jahres Neuwahlen durchzuführen. Zu diesem Zweck haben sie die Wahlkommission neu besetzt und am 26.2.2021 ein Treffen mit über 50 Parteien abgehalten, die diesen Plan unterstützen, und das Wahlergebnis vom 4.11.2020 offiziell annulliert.
Die Putschisten haben einen „Staatsverwaltungsrat“ (State Administration Council, SAC) unter Vorsitz von Min Aung Hlaing gebildet, dem unter anderem ehemalige hochrangige Mitarbeiter der Thein Sein-Administration der Jahre 2011-2015, einige ethnische und selbst einige ehemalige NLD-Politiker und -Politikerinnen angehören, die sich in der Vergangenheit mit der Staatsrätin überworfen haben. Der SAC repräsentiert das eher zivile „Gesicht“ des Coups und vereint Kräfte, die vor allem gegen Aung San Suu Kyi stehen.
Die Militärs halten seit dem Putsch die beiden wichtigsten Führungspersönlichkeiten der NLD – Aung San Suu Kyi und Präsident U Win Myint – in Gefangenschaft und unter Verschluss. Bislang sind keinerlei öffentliche Äußerungen von ihnen bekannt geworden. Das Militär hat Strafverfahren mit absurden Begründungen (z.B. Besitz nicht-registrierter Walkie-Talkies oder Verstoß gegen Corona-Auflagen) gegen sie eingeleitet. Man muss davon ausgehen, dass diese Strategie darauf abzielt, die NLD-Führung für absehbare Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, ja vielleicht die NLD selbst zu verbieten, um sie aus einem zukünftigen, vom Militär kontrollierten Wahlprozess herauszudrängen.
Das erklärte Ziel, mit einem durch die Militärs kontrollierten und gemanagten Prozess in einem begrenzten Zeitrahmen neue Wahlen durchzuführen und eine neue Regierung ohne oder gegen Aung San Suu Kyi zu etablieren, ist allerdings durch eine massive Protestbewegung fundamental infrage gestellt. Man muss davon ausgehen, dass führende Militärs das Ausmaß dieses Widerstands schlicht unterschätzt haben. Seit Jahrzehnten sind alle einigermaßen freien und fairen Wahlen von der NLD gewonnen worden, und der Putsch selbst dürfte diesen Trend eher verstärken. Es ist derzeit kaum vorstellbar, dass aus der Strategie des Militärs irgendeine eine politische Lösung entstehen könnte, die breite Legitimität oder zumindest Akzeptanz besitzt.
Wer ist die Protestbewegung, was will sie, und wieviel Unterstützung genießt sie?
Nach einigen Tagen des Schockzustands entwickelte sich eine landesweite Protestbewegung gegen Putsch, mit deren Ausmaß und Dynamik das Militär vermutlich nicht gerechnet hatte und die das Potential hat, das politische Skript der Putschisten empfindlich zu stören. Sie hat inzwischen ein Ausmaß und eine gesellschaftliche Bandbreite erreicht, die manche von einem „burmesischen Frühling“, ja einer „burmesischen Revolution“ sprechen lässt.
Die Bewegung hat einige Sprecher – etwa den bekannten Aktivisten der Demokratiebewegung von 1988, Min Ko Naing, der wiederholt am zentralen Sule Square in Yangon öffentlich auftrat –, ist aber gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Dezentralisierung, ihre „Führungslosigkeit“ und zumindest derzeit noch das Fehlen einer klaren gemeinsamen Strategie. Die Bewegung mobilisiert über bestehende Netzwerke, Nachbarschaften und soziale Medien; Aktionsformen aus Protesten etwa in Hongkong und anderen Ländern der „Milk Tea Alliance“ asiatischer Demokratiebewegungen werden aufgegriffen. Das Militärregime versucht diese Mobilisierung zu behindern, indem es phasenweise den Zugang zum Internet abschaltet (derzeit täglich zwischen 1:00 und 9:00) und generell den Zugang zu Facebook und Twitter, was allerdings mithilfe von VPNs einfach und massenhaft umgangen wird.
Unterschiedliche Strömungen
Die Protestbewegung setzt sich aus verschiedenen Strömungen zusammen. Zum einen etabliert sich eine breite Protestbewegung auf den Straßen, wo täglich zahlreiche (und viele junge) Menschen an zentralen Punkten in Yangon und anderen Orten des Landes zusammenkommen. Montag, der 22.2.2021 war der bisher größte einzelne Protesttag dieser Art, wo allein in Yangon hunderttausende und im ganzen Land vielleicht eine Million Menschen unterwegs waren. Gesänge, Sprechchöre, Mopedkonvois, Autoblockaden, Plakate und Graffiti – das Spektrum der Aktionsformen ist groß. Die Memes der „Generation Z“ – „don’t fuck my country, fuck my ex“ u.ä.– sind verbreitet und haben als Ausweis der Modernität der Bewegung große internationale Aufmerksamkeit gefunden, doch gibt es auch zahlreiche andere, weit traditionellere Formen des Protests mit ernsten Plakaten, disziplinierten Aufmärschen usw. Die Straßenproteste stehen in der Tradition der gewaltfreien Bewegung und versuchten oft, direkte Konfrontation mit den Sicherheitsorganen etwa durch Umgehung oder andere kreative Aktionsformen zu vermeiden. Der Straßenprotest bildet diverse Forderungen ab, aber die Mehrheit der Plakate am 22.2.2021 zielte weiterhin klar auf die Freilassung von Aung San Suu Kyi und anderer NLD-Führer und die Wiederherstellung legitimer demokratischer Verhältnisse auf Basis der Wahlen vom November 2020 ab; Ziel ist eine Rückabwicklung des Putschs.
Repression mit Schusswaffen
Zwei bis drei Wochen lang gehörten Straßen und Verkehrsknotenpunkte Yangons immer wieder dieser Form des Protests; in den letzten Tagen – insbesondere seit Freitag, 26.2.21 – haben Polizei und Militär verstärkt versucht, diese Proteste aufzulösen und dabei offenbar auch Schusswaffen eingesetzt. Auch aus zahlreichen anderen Orten wurden gewaltsame Zwischenfälle und Tote gemeldet. Am Sonntagabend (28.02.2021) berichtete das UN-Büro Myanmar von insgesamt 18 Toten in den Protesten des Tages – eine dramatische Eskalation gegenüber den ersten Wochen der Proteste.
CDM-Bewegung: Ziviler Ungehorsam im öffentlichen Dienst
Die Straßenproteste haben zweifelsohne eine große Sichtbarkeit und stellen somit eine symbolische Herausforderung des Regimes dar. Die vermutlich größte Herausforderung jedoch ist eine Streikbewegung unter dem Begriff „Civil Disobedience Movement“ (CDM), die inzwischen substanzielle Teile des öffentlichen Dienstes und auch Teile des Privatsektors (v.a. den Bankensektor) erheblich beeinträchtigt. Sie begann mit dem Auszug von Ärztinnen und Ärzten aus den öffentlichen Kliniken, erfasste aber bald auch Staatsangestellte in vielen anderen Einrichtungen, ganze Berufsverbände (z.B. Ingenieure), eingeschlossen Ministerien in Naypyitaw, einer Stadt, die das Militär sich als vorgeblich „protestsichere“ neue Hauptstadt erst 2005 neu eingerichtet hatte. CDM beeinträchtigt das Funktionieren der Transportinfrastruktur (Eisenbahn, Flussschiffahrt), das Gesundheitsministerium (es gibt fast keine Covid-19-Tests mehr); einige zentrale Infrastrukturen (Energie, Luftverkehr) hat das Militär inzwischen direkt gesichert oder gar eigenes Personal für den Betrieb eingesetzt. Die lokale Verwaltungsstruktur (General Administration Department – GAD) hat sich teilweise aufgelöst oder wird teilweise durch Alternativstrukturen der Protestbewegung ersetzt, während der Versuch der Militärs, dort loyale neue Vertreter zu installieren, regelrecht physisch sabotiert wird.
Streik im Bankensektor: Bargeldknappheit und fehlende Gehaltszahlungen
Die Nichtkooperationskampagne des CDM stellt die Militärherrschaft direkt infrage, indem sie unmittelbar staatliche Funktionalität angreift; sie hat auch in den Privatsektor übergegriffen und zur Schließung fast aller Bankfilialen und einer Bargeldknappheit geführt, wobei die Unfähigkeit zur Abwicklung von Gehalts- und Pensionszahlungen ab Ende Februar absehbar dramatische Folgen für zahlreiche Menschen haben wird. Dementsprechend hart haben die Militärs inzwischen auf CDM reagiert, durch Einschüchterung der Betroffenen auch im privaten Bereich (viele Staatsangestellte leben in öffentlich bereitgestelltem Wohnraum) und im Einzelfall auch gewaltsame Polizeieinsätze. Politisch lehnt das CDM die Militärherrschaft ab und fordert die Rückkehr zur Demokratie; eine radikalere Variante der Bewegung in Form eines „General Strike Committee (of Nationalities)“, das von linken und ethnischen politischen Kräften gebildet wird, fordert die Annullierung der Verfassung von 2008 und eine umfassende Föderalisierung. Die CDM-Bewegung ist offenkundig durch Strafaktionen der Militärs besonders gefährdet. Sie wird durch Spenden gefördert, die Streikenden in dieser kritischen Phase über die Runden helfen sollen, doch stellt sich natürlich die Frage, wie lange eine solche Streikbewegung, in der die Betroffenen nicht nur ihre Karriere, sondern auch Pension und Wohnung riskieren, durchhalten kann.
Ein Untergrundparlament
Das dritte Zentrum von Protest und Widerstand ist das „Committee Representing Pyidaungsu Hluttaw“ (CRPH; „Pyidaungsu Hluttaw“ ist die Kombination beider Kammern des nationalen Parlaments) und ähnliche Strukturen auf Ebene einiger Bundesstaaten und Regionen. Dabei handelt es sich im Kern um ein „Untergrundparlament“, das aus einer Reihe von im November 2020 gewählte Abgeordneten besteht; diese stammen aus der NLD und besitzen begrenzte Legitimität bei den ethnischen politischen Parteien. Das CRPH macht den Anspruch geltend, eine legitime Gegenmacht zur Militärjunta darzustellen; es trägt inzwischen Züge einer Gegenregierung, mit regelmäßigen veröffentlichten Beschlüssen. Seine Untergrundexistenz macht Kommunikation oft schwierig. Das CRPH genießt gerade in Kreisen der Zivilgesellschaft Myanmars substanzielle Unterstützung als Kern einer legitimen Gegenmacht; es erzielte seinen bisher größten internationalen Erfolg durch das offizielle Statement des UN-Repräsentation Myanmars, Kyaw Moe Tun, der am 26.2.21 in offizieller Funktion vor der UN in New York gegen den Putsch Stellung bezog, die internationale Gemeinschaft zur Unterstützung des CRPH aufrief und bald darauf vom Regime entlassen wurde.
Wahlergebnisse offenbaren enorme Zuwächse für NLD
Es ist schon vom Anblick der Protestzüge klar, dass die Protestbewegung große Unterstützung im Land besitzt, aber erst ein Blick auf die Ergebnisse der Wahlen vom November 2020 macht deutlich, wie groß der Widerstand gegen das Militärregime einzuschätzen ist. Im Gegensatz zu den gewonnenen Mandaten sind die Stimmenzahlen zwar nie offiziell veröffentlicht worden, aber Medien haben die relevanten Daten in den Tagen nach der Wahl zusammengetragen und im Netz veröffentlicht. Danach erreichte die NLD eine Mehrheit von 69% der abgegebenen Stimmen (ein deutlicher Zuwachs gegenüber dem Wert von 58% aus dem Jahr 2015); die militärnahe USDP gewann rund 21%, und alle anderen Parteien erhielten zusammengenommen nur rund 10%. Die Gegner der Militärherrschaft in Myanmar dürften damit mindestens drei Viertel der Bevölkerung ausmachen, ihre Befürworter vielleicht ein Fünftel.
Ethnische Parteien gewinnen kaum an Boden
Bemerkenswert ist auch das Bild bei den ethnischen Minderheiten, die vielleicht 30% der Bevölkerung ausmachen, während ethnische Parteien im November 2020 weniger als 10% der Stimmen erhielten. Dies heißt, dass eine Mehrheit der Menschen aus ethnischen Minderheiten im November 2020 nicht „ihre“ ethnischen Parteien gewählt haben, sondern (meist) die NLD. Dies gilt jedenfalls im Landesdurchschnitt, denn in einzelnen Wahlbezirken haben ethnische Parteien tatsächlich Mehrheiten erreicht und Sitze gewonnen. Allerdings gab es in einigen ethnischen Regionen, vor allem in Rakhine und Shan State, begrenzt auch in Mon und Kayin, Zustimmung für den Coup, da ethnische politische Parteien - wie dies seit den 1990er Jahren immer wieder geschehen ist - Deals mit dem Militär abzuschließen hoffen können. Die Verhältnisse sind zwar noch in Bewegung, doch haben sich inzwischen viele relevante ethnische politische Akteure klar gegen den Putsch positioniert.
Verhaftungswelle
Militär und Sicherheitskräfte haben seit dem Putsch zahlreiche Personen verhaftet. Unter den Verhafteten befinden sich Parlamentsmitglieder, Führungspersonen des CDM und vor allem auch Mitglieder der alten Wahlkommission (von denen man sich offenbar Informationen erhofft, die das Narrativ einer von Unregelmäßigkeiten geprägten Wahl im vergangenen November bestätigen würden). Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind ebenfalls verhaftet worden oder befürchten eine Inhaftierung und übernachten deshalb bei Freunden oder in Safe Houses. Die Zahl der Verhaftungen hat am dem letzten Februarwochenende stark zugenommen; die Assistance Association for Political Prisoners zählte von Putschbeginn bis Sonntagabend, 28.2.2021, insgesamt 1.132 Verhaftete, die identifiziert werden konnten, von denen 299 wieder freigelassen worden seien. Der Verband selbst schätzt, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist und allein am Sonntag landesweit rund 1.000 Personen verhaftet wurden.
Was ist die Rolle des Auslands?
Für den Verlauf der Ereignisse in Myanmar ist vor allem das nähere (süd)ostasiatische Umfeld von Bedeutung.
Am umstrittensten – auch und gerade in Myanmar selbst – ist die Rolle Chinas. Der Putsch hat eine Welle sinophober Tendenzen zutage gefördert; viele in der Protestbewegung unterstellen China, vom Putsch zu profitieren und die Militärs zu unterstützen; in den letzten Wochen fanden fast täglich große Protestveranstaltungen vor der chinesischen Botschaft in Yangon statt. Die bisweilen im In- und Ausland zu hörende Idee, China sei für den Putsch mit verantwortlich, ist unhaltbar; es gibt für sie keine Belege und sie scheint auch deshalb absurd, weil China und die NLD-Regierung in den vergangenen Jahren gut zusammengearbeitet haben und viele aus chinesischer Sicht strategische Projekte im Rahmen des „China Myanmar Economic Corridor“ (CMEC) in Angriff genommen wurden. Die mit dem Putsch entstandene Unsicherheit liege überhaupt nicht im Interesse Chinas, sagte der chinesische Botschafter in einem Interview am 15.2.21. Es ist natürlich davon auszugehen, dass China seine strategischen und Investitionsinteressen in Myanmar auch durch Kooperation mit einer Militärregierung weiterverfolgen wird, sobald diese sich wirklich stabilisiert hat; und ob China einen mäßigenden Einfluss auf die Militärs ausüben könnte oder sie aber bei der Beschaffung von Repressionstechniken unterstützen wird, ist derzeit gleichermaßen unklar.
Zurückhaltung der ASEAN-Staaten
Die Staaten des regionalen Verbands ASEAN haben sich in Stellungnahmen bisher zurückgehalten, aber auch eine allzu offene Anerkennung des Militärregimes vermieden; die Situation ist jedenfalls schwerwiegend genug, dass ein Trend weg vom früheren Beharren auf dem Prinzip der Nichteinmischung zu beobachten ist. Die Staaten der Region können sicher einen mäßigenden Einfluss auf die putschenden Streitkräfte in Myanmar ausüben; ob ASEAN oder auch Japan oder Korea aber auch vermittelnd tätig werden könnten, wie dies bisweilen erwartet wird, ist fraglich, denn zumindest in der derzeitigen Konfrontationssituation ist jegliche legitime „Vermittlung“ zwischen Militär und Protestbewegung und NLD schwer vorstellbar.
Klare Verurteilung durch UN-Generalsekretär
Im UN-System gibt es klare Stellungnahmen gegen den Putsch von Seiten des Generalsekretärs; die Tatsache, dass der UN-Gesandte Myanmars sich vom Regime lossagte und für die internationale Unterstützung des CRPH warb, könnte in nächster Zeit noch interessante Fragen für die Status der offiziellen UN-Repräsentanz Myanmars aufwerfen. Vor allem China hat bislang eine direkte Verurteilung des Coups durch UN-Institutionen verhindert, aber schwächer formulierte kritische Stellungnahmen zumindest zugelassen.
Zahnlose Kritik im Westen
Westliche Staaten haben den Militärputsch einhellig verurteilt, die Freilassung der verhafteten Staatsführung und die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen gefordert; sie kündigen an, die Militärs für Menschenrechtsverletzungen „zur Verantwortung zu ziehen“. Derzeit verfolgt man eine Strategie der Nichtanerkennung, die Beziehungen zu staatlichen Stellen unter Kontrolle des Militärregimes minimiert. Manche Stellungnahmen des Westens haben unrealistische Hoffnungen in der Protestbewegung geweckt, wo manche sogar eine militärische Intervention der USA oder der Vereinten Nationen befürworten. Tatsächlich ist der politische und ökonomische Einfluss westlicher Staaten in Myanmar recht gering, verglichen mit dem seiner asiatischen Nachbarstaaten. Die deutsche Politik hat bereits viel Pulver verschossen, als der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit vor einem Jahr als einseitige Sanktionsmaßnahme mit Blick auf die Vertreibung der Rohingya 2017 das Ende der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit Myanmar ankündigte; die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (giz) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die deutsche Entwicklungsbank, betreiben seither den Rückzug aus dem Land.
Sanktionsmöglichkeiten und ihre Grenzen
Vor allem im Westen wurden unmittelbar nach dem Putsch Rufe nach weiteren Sanktionen laut. Eine direkte Sanktionierung führender Militärs und ihrer Familien (Einfrieren von Vermögen, Reiseverbote) besteht bereits und ist unstrittig, ebenso wie Verbote des Exports von Waffen oder zur Repression genutzter Technologien. Die schwierige Frage ist, welche „gezielten“ Sanktionen darüber hinaus möglich und sinnvoll sind.
Das Militär und ehemalige hohe Generäle besitzen ein großes Portfolio an Wirtschaftsinteressen in Myanmar. Allerdings ist ein Großteil dieser Firmen auf den Binnenmarkt (z.B. Bau, Konsumgüter, Energie, Infrastruktur) oder aber auf den Export von Rohstoffen primär in asiatische Nachbarländer (China, Thailand etc.) ausgerichtet und würde insofern von im Wesentlichen vom Westen getragenen Sanktionen wenig berührt. Es gibt nur wenige Joint Ventures mit Firmen aus demokratischen Staaten; ein prominentes Beispiel ist die Kooperation der japanischen Kirin-Brauerei mit der militäreigenen Myanmar Economic Holdings (MEHL), die seit 2018 in der Kritik ist; Kirin hat wenige Tage nach dem Coup seinen Rückzug aus dem Joint Venture angekündigt. Inzwischen wächst auch der Druck speziell auf Firmen und Investoren aus Singapur, Kooperationen militärnaher Firmen nicht weiter zu unterstützen.
Keine breiten Sanktionen
Keine relevanten internationalen Akteure haben sich bisher für generelle, umfassende Sanktionen ausgesprochen, denn die Erfahrungen damit gerade in Burma/Myanmar seit den 1990er Jahren sind katastrophal gewesen; bei minimaler politischer Wirksamkeit zogen sie schwere sozio-ökonomische Kollateralschäden nach sich, wie jüngst die International Crisis Group einmal mehr dargelegt hat. Alle sprechen von „gezielten“ Sanktionen, doch dies kann sehr verschiedene Dinge bedeuten. „Justice for Myanmar“ etwa identifiziert spezifische Firmen und Firmengruppen, die direkt das Militär unterstützen; aber eine Kampagne derselben Organisation zur Beendigung der Zahlungen für Gas- und Öleinnahmen liefe auf eine Unterminierung der Staatsfinanzierung Myanmars insgesamt hinaus, die offenkundig dramatische Auswirkungen für die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten hätte. Wenn von Sanktionen gegen militärnahe Firmen die Rede ist, müssen Wirkungen und Nebenwirkungen genau geprüft werden, um Maßnahmen zu vermeiden, die auf Wirtschaftskriegführung gegen das ganze Land hinauslaufen.
Bereits jetzt drohen auch ohne formelle Sanktionen substanzielle wirtschaftliche Schäden, denn Firmen fürchten „Reputations-Risiken“, wenn sie in der gegenwärtigen Situation in Myanmar Waren für den europäischen Konsum herstellen lassen; dies gilt insbesondere für die Bekleidungsindustrie, der einzige große Sektor, in dem Myanmar nach Europa exportiert, in dem hunderttausende vor allem weiblicher Arbeitskräfte beschäftigt sind.
Was sind die Perspektiven?
Einen Monat nach dem Putsch bewegt sich der Konflikt in Myanmar auf einen Höhepunkt zu. Eine in den letzten Wochen gewachsene, sehr breite Protestbewegung hat national wie international eine enorme Mobilisierung und Sichtbarkeit erreicht; sie hat dem Militär die Kontrolle zumindest über Teile des Staatsapparats entzogen und bedroht ihre Legitimität auf der Bühne der Vereinten Nationen in New York. Das Gespenst massiver Armeegewalt gegen die eigene Bevölkerung – das nationale Trauma ist die Niederschlagung der Proteste von 1988, als es tausende von Toten gab – war in den vergangenen Wochen immer präsent; die Ereignisse der letzten Tage verweisen deutlich auf das Risiko einer Gewalteskalation. Vor diesem Hintergrund muss die internationale Gemeinschaft den Druck auf die Militärs zur Vermeidung von Gewalt gegen die Protestbewegung dringend und in aller Deutlichkeit erhöhen. Die weitreichenden Veränderungen in Myanmar in der letzten Dekade haben vielleicht auch sein Militär verändert, so kann man hoffen; dies ist aber offenkundig keine Garantie für einen gewaltarmen Prozess in den nächsten Wochen und Monaten.
Zersplitterung der Protestbewegung, einhellige Ablehnung des Putsches
Die Protestbewegung hat bisher kaum sichtbare Führungspersönlichkeiten und verfügt über keine gemeinsame Strategie. Das bedeutet in der gegenwärtigen Situation vermutlich eine Stärke, birgt aber auch das Risiko von Fraktionierungen, insbesondere zwischen der NLD einerseits und radikaleren politischen Kräften und ethnischen politischen Gruppen andererseits. Wie lange Straßenproteste und CDM angesichts der inzwischen wochenlangen kräftezehrenden Auseinandersetzungen und zunehmender Gewaltanwendung durch das Militärregime durchhalten können, ist schwer zu sagen. Aber selbst wenn die Proteste zunächst einmal niedergeschlagen werden sollten, steht nicht zu erwarten, dass die Gesellschaft einfach zur Kollaboration mit einem Regime zurückkehren wird, das die große Mehrheit der Menschen in Myanmar als zutiefst illegitim betrachtet. Alle Zeichen deuten auf eine lange konfliktreiche und krisenhafte Entwicklung hin.
Die vielleicht naheliegende Idee einer „Vermittlung“ scheint derzeit kaum realistisch. Der Putsch hat zunächst einmal sämtliche Brücken zwischen Militär und NLD zerstört. An Aung San Suu Kyi und ihrer Popularität und Legitimität wird keine glaubwürdige Vermittlung vorbeikommen – und dies dürfte zumindest für die gegenwärtige Militärführung von vornherein unakzeptabel sein. Daher ist aktuell – zumal unter den Bedingungen einer eskalierenden Gewalt – kaum Raum für einen Vermittlungsprozess erkennbar, obwohl natürlich längerfristig eine solche Option verfolgt werden sollte.
Streitkräfte als große Unbekannte
Die Armee bleibt die große Unbekannte. Bislang sind innerhalb des Militärs keine Bruchlinien erkennbar geworden. Das Militär gilt als „black box“, isoliert vom Rest der Gesellschaft, mit eigener Infrastruktur und der jahrzehntelang gepflegten Ideologie, die Armee selbst sei der Kern der burmesischen Nation. Sie ist eine Freiwilligen- und Berufsarmee. Der Kontrast zur Realität, wie sie sich im Protest auf den Straßen und in den Institutionen abspielt, könnte größer nicht sein; der Verweis auf Irreführung der Bevölkerung durch ausländische Mächte ist da auch nur von begrenzter Glaubwürdigkeit. Man kann darauf hoffen, dass Liberalisierung und Modernisierung der letzten Dekade auch innerhalb des Militärs ihre Wirkungen hatten; dass dies die Bereitschaft zum Gewalteinsatz zumindest reduziert; und dass sich inzwischen vielleicht manche in den Streitkräften fragen, wie sich die Planer des Coups eine derart dramatische Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Situation leisten konnten und einen Weg verfolgten, den die Armee nicht wirklich gewinnen kann - und der, wie bereits jetzt absehbar ist, in eine lange Krise führt, mit womöglich dramatischen negativen Konsequenzen für die Armee selbst. Wie gesagt: Man kann auf vernünftige Stimmen in den Streitkräften hoffen; aber es gibt dafür momentan keine offenkundigen Hinweise und schon gar keine Garantien.
In der aktuellen Situation sollten ausländische Akteure daher vor allem nach Kräften – durch Angebote und scharfen Warnungen, und gewiss auch mit kluger Diplomatie – Druck auf die Militärs ausüben, die Gewaltanwendung gegen die Protestbewegung einzustellen. Zum Anderen sollten sie nachdrücklich die Freilassung aller politischer Gefangenen und die Einstellung der Gerichtsverfahren gegen die NLD-Führung fordern, um zu einer Deeskalation beizutragen und damit überhaupt die Grundlage für einen Prozess der Kommunikation über Wege aus der Krise herzustellen. Und zugleich müssen sie mit allen Mitteln die Protestbewegung, Zivilgesellschaft, Medien und andere unabhängige Kräfte unterstützen, sowohl im Land selbst – soweit das derzeit möglich ist - wie auch auf internationaler Ebene.