Unmenschliche Berechnung: Wie die ungarische Regierung eine Gruppe zum Sündenbock macht

Analyse

Am 15. Juni stimmte die Mehrheit der ungarischen Abgeordneten - Vertreter der Ungarischen Bürgerallianz (FIDESZ) und der Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) - für einen Gesetzentwurf, der mehrere Bestimmungen enthielt, die dem ursprünglichen Gesetzentwurf hinzugefügt wurden, der ursprünglich den Schutz von Kindern verbessern und die Sanktionen gegen pädophile Straftäter verschärfen sollte. Diese neuen Bestimmungen führen ein ausdrückliches, hartes Verbot der "Darstellung und Förderung einer vom Geburtsgeschlecht abweichenden Geschlechtsidentität, der Änderung des Geschlechts und der Homosexualität" für Personen unter 18 Jahren ein.

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Protest gegen das neue Anti-LGBTI-Gesetz in Budapest.

Am 15. Juni 2021 verabschiedete eine Mehrheit der Abgeordneten – nämlich die Vertreterinnen des Ungarischen Bürgerbunds (Fidesz) und der Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) – ein Gesetz, inklusive mehrerer Regelungen, die nicht Teil des Entwurfs gewesen waren, und das ursprünglich dazu dienen sollte, Kinder besser zu schützen und Pädophile härter zu bestrafen. Zu den neu hinzugekommenen Regelungen gehörte ein ausdrückliches, rigoroses Verbot der „Darstellung und Förderung von Geschlechtsidentitäten, welche vom Geschlecht bei Geburt abweichen, sowie von Geschlechtsumwandlung und Homosexualität‟ bei Menschen unter 18 Jahren. All dies ist jetzt Teil des Kinderschutzgesetzes, des Gesetzes über kommerzielle Werbung, des Mediengesetzes (wodurch solche Materialien in die Kategorie 5 fallen, das heißt, sie sind nicht jugendfrei und können auch nicht zur Aufklärung verwendet werden), des Familienschutzgesetzes und des Schulgesetzes. Entsprechend können diese Dinge nicht im Sexualkundeunterricht behandelt werden, und Schulen dürfen weder Referent/innen noch Vertreter/innen von Nichtregierungsorganisationen (NROs) zu Themen einladen, die mit „Sexualkultur, Geschlechtsleben, sexueller Orientierung oder Entwicklung‟ zu tun haben, es sei denn, diese haben eine staatliche Sondergenehmigung (fehlt sie, ist das strafbar). Weitere Strafen sind nicht vorgesehen, jedoch können Verstöße disziplinarisch geahndet werden, und sollten Werbeagenturen, Medien oder Einzelhandel Materialien verbreiten, welche gegen dieses Gesetz verstoßen, können sie wegen Gefährdung des Kindeswohls strafrechtlich belangt werden.

Ungarns älteste LGBTI-NRO, die Háttér Gesellschaft, die sich u.a. für rechtliche Reformen einsetzt, geht, wie andere Kommentatoren auch, davon aus, dass diese Einschränkungen ausdrücklich politische Ziele haben. Konkret hatte Fidesz gehofft, die Opposition werde dem „Gesetz gegen Pädophile‟ nicht zustimmen und könne dann als Bremsklotz im Kampf gegen Kinderschänder angeprangert werden. Zudem versuchte Fidesz einen Keil zu treiben zwischen Jobbik (bis vor kurzem eine rechtsextreme Partei, die nun in die politische Mitte strebt, und in ländlichen Gebieten viele Anhänger/innen hat) und die anderen Oppositionsparteien, den diese müssen an einem Strang ziehen, wollen sie bei den Wahlen im nächsten Frühjahr eine Mehrheit der Sitze im Parlament erhalten.

Wie aber kam es, dass LGBTI und jene, die sich für deren Gleichberechtigung einsetzen, ins Kreuzfeuer eines Kampfes gerieten, in dem Fidesz seine Machtposition unbedingt verteidigen will? Fidesz, das wissen wir von früheren Auseinandersetzungen, geht es darum zu polarisieren, und Fidesz weiß einen Großteil der Menschen auf seiner Seite, wenn es darum geht „die Familie zu verteidigen‟ (in der abwegigen Vorstellung, eine feste Kernfamilie sei der einzige sichere Ankerplatz in einer Welt voll Gefahren). Von Fidesz lassen sich viele nur zu gern bevormunden, wozu kommt, dass nicht wenige Menschen in Ungarn Nationalismus universellen Werten ebenso vorziehen, wie den Nationalstolz einem europäischen Bürgerrecht.

Wann immer politische Kräfte versuchen, ihr Wahlvolk hinter sich zu bringen, indem sie gesellschaftliche Unterschiede zuspitzen, und konservative oder altvordere Erzählungen verbreiten, werden LGBTI und deren Organisation besonders leicht zur Zielscheibe. Mit Erzählungen von einer „Gender-Ideologie‟ können, das hat sich in vielen Ländern gezeigt, konservative Milieus mobilisiert werden, und entsprechend setzen konservative und extremistische Parteien auf diese Karte. Auch in Ungarn haben Erzählungen von einer „Gender-Ideologie‟ in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen, das heißt, Erzählungen, die sich gegen LGBTI und Feminismus richten, und die durch Verlautbarungen und Maßnahmen der Regierung an Einfluss gewinnen. Klare Zeichen setzte man durch das Verbot von Gender Studies im Oktober 2018, die Nicht-Ratifizierung des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt‟ (Istanbul-Konvention) im Mai 2020, da man sowohl den Begriff „Gender‟ im Vertragstext ablehnte, wie auch die Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Geschlechts verfolgt werden, und schließlich Gesetze, die eine rechtliche Anerkennung von Transsexuellen untersagen (Mai 2020). All dies ging einher mit Panikmache durch die Regierung und ihr nahestehende Kräfte und NROs, wobei das Gespenst einer mächtigen „Gender-Lobby‟ beschworen wurde, und hinzu kamen im Sommer 2019 und 2020 Angriffe extremistischer Gruppen auf LGBTI-Veranstaltungen.

Erzählungen von einer „Gender-Ideologie‟ legen der Lobbyarbeit für Menschenrechte und Gleichberechtigung für LGBTI Steine in den Weg, schmälern die gesellschaftliche Unterstützung für Organisationen, welche zu LGBTI-Themen arbeiten, und sabotieren Anstrengungen, die Gesellschaft fairer und gerechter zu gestalten. Fidesz spielt das in die Karten, und entsprechend stärkt die Partei solche Ressentiments. In den vergangenen Jahren haben nicht nur Rechtsextreme sondern auch Vertreter/innen der Regierung Stimmung gegen diese Gruppen gemacht, wodurch es vermehrt zu Übergriffen auf sexuelle und Gender-Minderheiten kam. László Köver, der Präsident des ungarischen Parlaments, setzte 2019 homosexuelle Paare, die Kinder haben, mit Pädophilen gleich, und Premierminister Orbán sagte 2020 Homosexuelle sollten „unsere Kinder in Ruhe lassen‟.

Solche Aussagen sind besonders gefährlich, da LGBTI eine der in Ungarn am stärksten diskriminierten Gruppen sind – eine Situation, die sich in den vergangenen Jahren, sowohl was Einstellungen wie auch Anfeindungen angeht, weiter verschärft hat. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) führte 2019 eine Umfrage durch, in der 49 Prozent der ungarischen LGBTI und 64 Prozent der Transsexuellen angaben, sie seien in den vergangenen zwölf Monaten wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert worden.

In dem Memorandum on freedom of expression and media freedom in Hungary der Menschenrechtskommissarin des Europarats heißt es, Vertreter der Zivilgesellschaft wie auch Menschenrechtler würden in Ungarn als „ausländische Agenten‟ und „Landesverräter‟ angeprangert, und das besonders dann, wenn sie sich für die Rechte von Migranten, von Roma oder von LGBTI einsetzen. Zudem wurde die wichtige Rolle, die zivilgesellschaftliche Organisationen in modernen Demokratien spielen, in den letzten Jahren durch Gesetzesänderungen untergraben. Im Juni 2020 stellte der Gerichtshof der Europäischen Union fest, Ungarns Auflagen für die Registrierungs- und Offenlegungspflichten zivilgesellschaftlicher Organisationen widersprächen EU-Recht, da sie das Recht auf Vereinigungsfreiheit einschränkten, solche Organisationen unter Generalverdacht stellten und ihr Ansehen beschädigten. Nach der Urteilsverkündigung sagte Premierminister Orbán, es handele sich um „liberalen Imperialismus Westeuropas‟ sowie „Verschwörungen, um die Macht zu übernehmen‟, und er behauptete, „politische Organisationen in Ungarn versuchen, die Unabhängigkeit unseres Landes zu untergraben.‟

Das Recht auf Meinungsfreiheit von LGBTI-NROs sowie von Firmen, welche die Gleichberechtigung von LGBTI unterstützen, wurde sowohl von Extremisten angegriffen wie auch von öffentlicher Seite. Im Oktober 2019 wurde gegen Coca-Cola eine Geldstrafe von 500.000 Forint verhängt, da bei der Aktion #loveislove auf Werbeplakaten ein schwules und ein lesbisches Paar zu sehen war. Die Verbraucherschutzbehörde behauptete, die körperliche, geistige, emotionale und moralische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen könne Schaden nehmen, setze man sie dem Anblick gleichgeschlechtlicher Paare aus.

Im September 2020 gab der Lesbenverband Labrisz Leszbikus Egyesület eine Märchensammlung heraus – Titel: „Das Feenreich steht allen offen‟ (Meseország mindenkié). Darin treten vielfältige Figuren auf, inklusive LGBTI. Nachdem Extremisten Geschäfte angriffen, welche das Buch verkauften, sagte Premierminister Viktor Orbán, Homosexuelle „sollen unsere Kinder in Ruhe lassen‟ und Minister Gergely Gulyás drohte, Personen, welche das Buch im Bildungswesen verwendeten, würden strafrechtlich verfolgt.

Im März 2021 leitete die ungarische Medienaufsicht ein Verfahren gegen RTL Klub, den größten Privatsender des Landes, ein, da dieser vor 21 Uhr einen Clip über „Regenbogen-Familien‟ gezeigt hatte. Die Darstellung von gleichgeschlechtlichen Familien ist, laut Aufsichtsbehörde, für Kinder unter 16 Jahre schädlich. Die homo- und transphobe Regierungspropaganda fördert die soziale Ungleichheit, und LGBTI bekommen in den Medien kaum Raum, werden angefeindet und gleichzeitig unsichtbar gemacht.

Im Dezember 2020 änderte das ungarische Parlament Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie des Kinderschutzgesetzes und schränkte das Recht unverheirateter Paare, Kinder zu adoptieren, ein. Ehepaare konnten bereits zuvor nur dann gemeinsam ein Kind adoptieren, wenn sie unterschiedlichen Geschlechts waren, während gleichgeschlechtliche Partner als Einzelpersonen adoptieren konnten. Durch die neue Regelung wird zwar die Adoption eines Kindes durch Unverheiratete nicht völlig verboten, sie bedarf aber einer Sondergenehmigung des Familienministers, was bedeutet, über die Frage, ob sich Personen als Eltern eignen, entscheidet kein Expert/in, sondern eine Politiker/in. Der derzeitige Familienminister machte in einem Interview (ungarisch) klar, Ziel der Regelung sei, gleichgeschlechtliche Paare von der Adoption auszuschließen. Fachleute für Adoption sowie Kinderrechtler/innen wie UNICEF Ungarn kritisierten dies, da Adoptionsverfahren so länger dauerten und, da die Zahl der potentiellen Adoptiveltern sinke, mehr Kinder entweder ohne Familienanschluss leben müssten oder von Menschen aus dem Ausland adoptiert würden.

Bei der künstlichen Befruchtung werden bestimmte Gruppen rechtlich klar benachteiligt. Zwar haben Ehepaare, verschiedengeschlechtliche Lebenspartner/innen und alleinstehende Frauen Zugang zu solchen Verfahren, lesbische Paare (gleich ob es sich um eine eingetragene Partnerschaft handelt oder nicht) sind davon aber ausgeschlossen.

Die fehlende rechtliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Eltern führt zu praktischen Problemen für die wachsende Zahl von Kindern, die bei solchen Eltern leben: Ohne Testament können sie von ihren Eltern nicht erben und, existiert ein solches, ist die Erbschaftssteuer höher als für „offizielle‟ Kinder. Geht die Beziehung der Eltern in die Brüche, haben sie keinen Anspruch auf Unterhaltszahlungen, und nicht einmal dringende medizinische Entscheidungen können nicht-biologische Eltern für ihre Kinder treffen.

Seit 2017 beteiligt sich die Háttér Gesellschaft im Rahmen ihres rechtspolitischen Programms an der Überwachung des Verhaltenskodex für die Bekämpfung illegaler Hassreden im Internet, welchen die Europäische Kommission mit Anbietern sozialer Medien geschlossen hat. Der sechste Berichtszeitraum endete im April 2021, und die Ergebnisse sollen im Lauf der nächsten Monate veröffentlicht werden. Schon jetzt kann man aber sagen, 2020 und 2021 hat der Hass gegen LGBTI im Netz stark zugenommen – und zwar auf Seiten, welche konservative und extremistische Parteien sowie weitere politische Gruppen in den sozialen Medien betreiben.


Zusammenfassend lässt sich sagen, die LGBTI-Gemeinde Ungarns sieht dunkeln Zeiten entgegen – aus einer Reihe von Gründen: Da sind Politik, Regierung und regierungsfreundliche Medien, die LGBTI-feindliche Äußerungen bejahen und ermutigen; da sind die Gesetzesänderungen, die Transgender-Personen und gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder haben oder haben wollen, benachteiligen; da sind die LGBTI-feindlichen Argumente zum „Kinderschutz‟, die juristisch verankert werden, wie auch Einschränkungen bei der Darstellung von LGBTI in den Medien oder ihre Behandlung im Unterricht (in Schulen werden viele junge LGBTI diskriminiert und beschimpft; und schließlich ist da der zunehmende Hass in den sozialen Medien, wo gegen LGBTI gehetzt wird – und das zu Zeiten, in denen auch öffentliche Medien und Kanäle LGBTI-feindliche Propaganda verbreiten, was das soziale Gefüge Ungarns nur weiter zerrüttet. Doch genau das will die Regierung mit ihrer Kommunikationsstrategie erreichen: mehr gesellschaftliche Verwerfungen, mehr Hass, mehr Antipathie. Leider haben jene, die dieser Taktik nicht auf den Leim gehen, keine Antwort auf die Frage, wie man den Menschen klarmachen kann, dass die Regierung ganz bewusst versucht, Minderheiten (seien es Roma, „Migrant/innen‟ oder LGBTI) zu Sündenböcken zu machen, um dadurch von gravierenden gesellschaftlichen Problemen im Land abzulenken. Alle Menschen in Ungarn, und ganz besonders jene mit politischem Einfluss, müssen Verantwortung übernehmen und aktiv gegen Hass eintreten und sich für eine funktionierende demokratische Gesellschaft einsetzen.