Keine Hilfe für Flüchtlinge in Belarus

Interview

Vor einigen Jahren gab es in Belarus bereits eine Migrationskrise - Brest wurde zu einem Wartesaal für Flüchtlinge aus Tschetschenien. Wie gingen die Behörden damals vor? Sollte Belarus jene aufnehmen, die nicht nach Europa gelassen werden? Warum leben die Flüchtlinge im Wald und nicht in einem Aufnahmezentrum? Suchen sie Asyl in unserem Land? Diese Fragen diskutiert die belarusische Online-Zeitung „Nasha Niva“ mit Alena Tschachowitsch, einer Menschenrechtsaktivistin der NGO Human Constanta.

Stacheldrahtzaun vor blauem Himmel
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Viele Flüchtlinge wollen über Belarus in die EU kommen.

Mit freundlicher Genehmigung der Autor/innen und der Interviewten dokumentieren wir in deutscher Sprache das Interview der belarusischen Online-Zeitung „Nasha Niva“ vom 9. November 2021 mit Alena Tschachowitsch, Juristin der seit dem Sommer im Land verbotenen belarusischen NGO „Human Constanta  Die Menschenrechtsorganisation engagiert sich seit Jahren für Belange von Flüchtlingen, Migranten und Staatenlosen in Belarus. Das Interview fand noch vor der Eskalation am Grenzübergang Bruzgi am 16. November 2021 statt.

Human Constanta

Human Constanta ist eine belarusische Menschenrechtsorganisation, die sich neben ihrer Bildungsarbeit gegen Diskriminierung vor allem für Rechtsschutz im digitalen Raum sowie für die Rechte von ausländischen rger/innen und Staatenlosen einsetzt. Gerade die Menschenrechtsverletzungen gegenüber dieser besonderes schlecht geschützten Gruppe werden aus Sicht von Human Constanta von Medien, Aktivist/innen und Öffentlichkeit in Belarus kaum beachtet. Offiziell wurde die NGO 2016 registriert, bietet kostenlose juristische Beratung für Betroffene an, beobachtet die Lage und nimmt Stellung in der Öffentlichkeit. Von der massiven Repressionswelle gegen die Zivilgesellschaft war auch Human Constanta und ihre Aktivist/innen betroffen. Nach Büro- und Hausdurchsuchungen leiteten die belarusischen Behörden am 22. Juli 2021 eine Liquidationsverfahren gegen die NGO ein. Trotz Repressionen und Gefahren setzen die Aktivist/innen ihre Arbeit fort.

Online-Zeitung „Nasha Niva“: Welches Verfahren gibt es für die Einreichung eines Asylantrags?

Alena Tschachowitsch: In den europäischen Ländern ist es möglich, den Antrag entweder auf ihrem Territorium oder an einem Grenzübergang zu stellen. Nur sehr selten wird ein Asylgesuch bei einer Botschaft angenommen. Wenn eine Person die Grenze illegal überquert, verliert sie dennoch nicht das Recht um Asyl zu bitten. Die internationalen Standards berücksichtigen, dass die Situationen unterschiedlich sein können und es für eine Person nicht immer möglich ist, legal einzureisen. Dabei müssen die Betroffenen jedoch bedenken, dass die Regelungen es ihnen nicht erlauben, die Angelegenheit aufzuschieben und der Antrag bei der nächstmöglichen Gelegenheit gestellt werden muss.

Ist es richtig, dass ein Asylantrag nur im ersten Einreiseland gestellt werden kann?

In der EU gibt es das Dublin-Abkommen. Es enthält die Norm vom ersten sicheren Land. Das bedeutet, dass eine Person, die über Polen in die EU einreist, in diesem Land einen Asylantrag stellen muss. Wenn die Person Polen durchquert und in einem anderen Land Asyl beantragt, ist das ein Verstoß. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass der Betroffene der Schutz verweigert wird. Die lokalen Migrationsbehörden prüfen die konkrete Situation. Bedeutet das, dass die Migranten einen Asylantrag in Belarus stellen müssen? Nicht ganz. Wir sind nicht Teil des Dublin-Abkommens. Und Belarus kann angesichts der niedrigen Qualität der Schutzmechanismen nicht als sicheres Land gelten. Vor allem in Anbetracht der Praxis aus dem letzten Jahr, als Menschen abgeschoben und in Länder ausgewiesen wurden, in denen sie gefährdet sind. Die Flüchtlinge aus dem Irak haben starke Argumente dafür, dass Belarus nicht als Garant ihrer Sicherheit angesehen werden kann.

Wie wirkt sich die Verhängung des Notstands an der polnischen Grenze auf die Lage aus?

Dadurch wird die Einreise ins Grenzgebiet für Personen eingeschränkt, die nicht dort leben. So haben zum Beispiel auch Menschenrechtsaktivist:innen, Vertreter/innen von NGOs oder Medien keinen Zugang dahin. Sie haben keine Möglichkeit humanitäre Hilfe zu leisten oder die Situation vor Ort zu beobachten. Im August wurde in Polen das Ausländer- und Asylgesetz geändert. Früher mussten die Grenzsoldaten eine Person bei einem Asylgesuch den Migrationsbehörden übergeben, jetzt können sie die Person direkt abweisen und nach Hause schicken. Und dort haben die Betroffenen keine effektive Möglichkeit mehr, einen Einspruch gegen diese Entscheidung einzulegen.

Aktuelle Lage an polnischer Grenze

Am 16. November eskalierte die Lage an der polnisch-belarusischen Grenze als mehrere Tausend Flüchtlinge, offensichtlich bewacht durch belarusische Sicherheitskräfte, auf ein großes Aufgebot von polnischen Grenzsoldaten, Polizei und Militär am Grenzübergang Bruzgi trafen. Der Eskalation folgte eine scheinbare Beruhigung der Lage: Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonierte mit Alexander Lukaschenko, das Zeltlager an der Grenze wurde aufgelöst, mehrere Tausend Personen wurden von der belarusischen Seite in einem Logistikzentrum in Grenznähe untergebracht. Einige hundert Migranten sind vom Flughafen Minsk mit einer irakischen Maschine ausgeflogen worden und die EU kündigte humanitäre Hilfe für die Betroffenen in Belarus an.

Am 9. November veröffentlichte Human Constanta eine Erklärung zur Lage an der belarusisch-polnischen Grenze. Von Belarus fordern die Menschenrechtsaktivist/innen ein Ende des Missbrauchs der Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU und der bewussten Herbeiführung einer humanitären Krise. Auf der anderen Seite fordern sie von Polen die Einhaltung seiner Verpflichtungen gegenüber asylsuchenden Menschen, insbesondere die Ermöglichung der Asylantragstellung und deren individuelle Prüfung. Sie bitten beide Länder darum, einen Zugang für lokale und internationale NGOs ins Grenzgebiet zu gewähren, damit humanitäre und medizinische Hilfe geleistet und die Betroffenen vor Ort juristisch beraten werden können.

Ist Belarus verpflichtet, Migranten aufzunehmen, die nicht über die europäische Grenze gelassen wurden?

Das erste Land, das für diese Menschen außerhalb ihres Heimatlandes zuständig ist, ist Belarus. Sie in einem Grenzgebiet im Wald zu halten, widerspricht internationalen Standards und der nationalen Gesetzgebung. Belarus muss die Menschen wieder aufnehmen. Wenn man die Angelegenheit formal angehen will, müssen die Papiere geprüft werden. Diejenigen, die ein gültiges Visum haben, können in Belarus bleiben und selbst entscheiden, ob sie ihren Aufenthalt fortsetzen oder kurz vor Ablauf des Visums zurückkehren wollen. Nach Angaben von Migrant/innen, mit denen wir gesprochen haben, wurden sie von den belarusischen Grenzbeamten speziell bewacht. Ihre einzige Möglichkeit blieb, immer wieder die Überquerung der Grenze nach Polen zu versuchen.

Die Migranten leben einfach in den Straßenunterführungen in Minsk oder in Zelten in den Wäldern. Hätte man sie nicht in einem Wohnheim unterbringen können?

Die Sache ist die, dass die Iraker mit einem Visum zu uns kommen. Nach dem Gesetz sind sie einfach nur Touristen. In diesem Fall ist der Staat nicht verpflichtet, humanitäre Hilfe zu leisten. Wenn eine Person einen Asylantrag in Belarus stellt und dieser Antrag angenommen wird, müssen die Behörden den betreffenden Personen in der Zeit der Antragsbearbeitung Unterkunft, Verpflegung, ein Minimum an Geld und Zugang zu kostenlosen Medikamenten gewähren. Wir haben drei temporäre Unterkünfte für Asylsuchende – in den Regionen Wizebsk, Brest und Homel. Doch die Situation geht über den vorgeschriebenen Rahmen hinaus. Selbst wenn der Staat bereit wäre, etwas zu tun, ist nicht klar, in welches Schema es passen sollte. In keinem Land gibt es ein Verfahren, wie man sich um Menschen kümmert, die in einem Nachbarland Asyl suchen.

Human Constanta: Erklärung zur humanitären Hilfe durch die EU

Am 19. November veröffentlichte Human Constanta eine Erklärung zur Bereitstellung von 700.000 Euro für humanitäre Hilfe durch die EU. Die NGO unterstützt zwar das Anliegen der EU, weist jedoch darauf hin, dass es gegenwärtig nicht möglich sein wird, die Hilfsgelder effektiv und transparent einzusetzen. Durch die in Belarus geltende Registrierungsprozedur für ausländische Hilfszahlungen würde diese Hilfe faktisch dem belarusischen Staat gewährt, der über den Einsatz der Mittel entscheiden würde. Die geschwächte Zivilgesellschaft kann die Situation kaum beeinflussen und die Europäische Kommission kann weder die Verteilung noch die Ausgabe der Mittel vor Ort kontrollieren.

Im Jahr 2016 gab es bei uns bereits eine Krise mit Flüchtlingen aus Tschetschenien. Wie sind die Behörden damals vorgegangen?

Damals hat Polen bei den meisten von ihnen das Asylgesuch abgelehnt. Die Menschen beantragten Schutz an der offiziellen Grenzübergangsstelle am Bahnhof im polnischen Terespol. Belarus hat sich in diese Situation praktisch nicht eingemischt. Faktisch sind diese Menschen vor den russischen Behörden geflohen. Aufgrund von politischen Spielen konnte Belarus das nicht anerkennen. Die hiesigen Behörden ignorierten das Problem einfach. Sie profitierten davon, dass Menschen in Brest Wohnungen anmieteten und täglich Zugtickets erwarben.

Bei warmem Wetter schliefen die tschetschenischen Flüchtlinge im Freien, dann im Wartesaal des Brester Bahnhofs. Diejenigen, die es sich leisten konnten, wohnten in nahe gelegenen Herbergen. Viele mussten nach Russland zurückkehren, um einen Teil ihres Besitzes zu verkaufen und nach Belarus zurückzukehren, um weiter zu versuchen, die Grenze zu passieren. Es war einfacher, weil sie russische Staatsbürger waren. Sie konnten sich hier ohne Visum aufhalten, es gab keine Sprachbarriere. Heute kommen die Migranten aus verschiedenen Regionen und sprechen unterschiedliche Sprachen.

Warum beantragen die Migranten kein Asyl in Belarus?

Das tun sie. Von solchen Fällen haben die Menschenrechtsaktivisten gehört, obwohl die offizielle Statistik dazu nicht bekannt ist. Manchmal wenden sich die Menschen an das Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge, wo man ihnen sagt, was sie tun können, wenn sie Asyl in Belarus beantragen. Es hat mehrere Fälle gegeben, in denen Personen, die erfolglos versucht haben, die Grenze zu überqueren oder sich geweigert haben, dies zu tun, beschlossen haben, Asyl in Belarus zu beantragen. Die Anzahl solcher Fälle kann unsere Organisation nicht einschätzen. Wir wissen nur, dass nach Angaben der Behörden die Zahl der Asylanträge in Belarus im Vergleich zu früher gestiegen ist. Nicht alle Migranten wissen, was sie erwartet, wenn sie versuchen, die Grenze zu überqueren, und nicht jeder weiß über seine Rechte und Pflichten Bescheid. Aber sie verstehen, dass es ein schwieriger Weg sein wird, und jeder hat seine eigenen Gründe, diesen Weg anzutreten. Unter den Menschen, mit denen wir gesprochen haben, habe ich niemanden getroffen, der sein Land aus ökonomischen Gründen verlassen hat.

Was macht den Menschenrechtsaktivisten sorgen?

Sie haben keine Möglichkeit, die Handlungen der belarusischen Seite zu beeinflussen. Natürlich muss diese Praxis, Menschen als Geiseln und Druckmittel gegen die EU-Länder zu benutzen, beendet werden. Hier ist es besser, die Flüge mit Migranten auszusetzen. Wir wollen nicht das Recht der Menschen auf Schutz einschränken, aber wenn man sieht, wie sich die Situation in Belarus entwickelt, so ist es Tatsache, dass es für sie hier nicht sicher ist, dass von ihnen Geld verlangt wird und dass ihre Lage hier noch verwundbarer ist. Und das ist sehr beängstigend. Es sind keine registrierten Organisationen im Land übrig geblieben, die sich dieser Situation annehmen können, zumindest um humanitäre Hilfe oder Rechtsberatung zu leisten.  Was Polen und Litauen betrifft, so möchten wir die Länder auffordern, ihre Verpflichtungen in Bezug auf Umgang mit Asylsuchenden und ihre faire Behandlung nicht zu vergessen. Die Asylgesuche müssen unabhängig davon angenommen werden, wie die Person die Grenze überquert hat.

Belarusische Zeitung „Nasha Niva“

„Nasha Niva (dt. „Unser Acker“) ist die älteste belarusischsprachige Zeitung und ist bis heute eine wichtige Plattform für Debatte und Information. Journalist/innen und Mitarbeiter/innen der Zeitung waren bereits vielfach staatlichen Repressionen ausgesetzt. Am 8. Juli 2021 wurden die Büroräume der Zeitung in Minsk durchsucht, zahlreiche Mitarbeiter festgenommen, die Webpräsenz der Zeitung ein weiteres Mal blockiert. Der Chefredakteur Jegor Martinowitsch und der Mitarbeiter Andrei Skurko befinden sich seitdem in Haft. Das Menschenrechtszentrum Wjasna meldete am 23. November, dem 115-ten Jahrestag der Zeitungsgründung, dass der Telegram-Kanal von Nasha Niva und ihre anderen Präsenzen in sozialen Netzwerken von belarusischen Behörden für „extremistisch“ erklärt wurden. Dies kann mittlerweile als eine Standardprozedur gegenüber einflussreichen unabhängigen Medien gelten, denn z.B. auch das größte unabhängige Medienportal Tut.by und die unabhängige Nachrichtenagentur BelaPAN wurden vom Regime Lukaschenko zu „Extremisten“ erklärt und werden als solche auch verfolgt.

Übersetzt wurde der Text aus dem Belarusischen für die Heinrich Böll Stiftung von Wanja Müller