Zwei Journalismus-Workshops bei der Böll – nur ganz anders

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Zoom Call

Ungefähr zwanzig Rechtecke schauen mich an: Mal aus dem Wohnzimmer, mal aus dem Studierendenwohnheim oder mal vom Esstisch. Mal im Hemd, mal im Pullover, mal in Jogginghose. Und eigentlich hätten wir ganz woanders sein sollen: In einem großen lichten Raum am Vormittag, vielleicht mit einer Flasche Wasser und einem Schreibblock im Gepäck. Und doch sitze ich in meinem Kinderzimmer zwischen Stiftehaltern und zerfledderten Notizzetteln. Ich schaue fast 20 Kacheln an, in jeder ein Gesicht – in jeder ein neues Gesicht. Das war meine erste Begegnung mit der Böll-Stiftung: der Storytelling-Workshop.  

Was mich erwarten würde? – So recht wusste ich es nicht. Das ist aber wahrscheinlich nicht so ungewöhnlich. Ich exerzierte den Programmverlauf etliche Male in der Hoffnung, mit jedem Lesen schlauer zu werden. Dort stand, wir würden den zwei Journalisten Björn Stephan und Sebastian Kempkens begegnen. Zwischen Einschüchterung und Spannung wartete ich die Tage bis zum Workshop ab, während ich meine Wand volltapezierte, um eine Übungsreportage zu dem Fall George Floyd zu schreiben.

Anfang September 2020: Um zehn Uhr saß ich auf dem Schreibtischstuhl inmitten eines 700-EinwohnerInnen-Dorfes und starrte auf meinen Laptop-Bildschirm. Zwischen der Sorge, meine Technik funktioniere vielleicht nicht, und der Spannung, was für Personen ich begegnen werde, saß ich da. Und alle weiteren Workshop-Teilnehmenden wohl auch.

Eigentlich hätten wir vielleicht in einem Stuhlkreis gesessen, vielleicht hätten wir in einem Innenhof gesessen oder in irgendeinem Berliner Seminarraum unsere Gespräche geführt. Ich sah mir die Kacheln an und erkannte: Wir sitzen überall verteilt: mal in Italien, mal im Kinderzimmer (wie ich), mal am Esstisch. Und das ist wahrscheinlich einer der Vorteile, die so ein digitales Leben mit sich bringt: die Anreise fällt weg. Wir sind alle vereint, obwohl wir hunderte, tausende Kilometer entfernt sind.

Der Workshop begann wohl mit dem, was ich in einem digitalen Leben besonders zu schätzen lernte: der Vorstellungsrunde. Mehrere Kacheln prasselten gleichzeitig auf mich ein, es gibt so viele Kacheln, so viele Menschen, die interessant sind. Vorstellungsrunden fokussieren meine Wahrnehmung auf eine Person. Sie geben mir das Gefühl, ich lerne eine Person kennen, auch wenn sie so fern ist, auch wenn sich die Gestik und die Gesichtszüge in den Pixeln verstecken.

Um dem Thema Storytelling näher zu kommen, sahen wir uns gemeinsam eine Szene aus dem Kinderfilm „Oben“ an. Wir starrten auf unsere Bildschirme, räumlich isoliert und trotzdem beisammen, während wir die Lebensgeschichte der ProtagonistInnen im Schnelldurchlauf bewunderten.  

Neben dem inhaltlichen und handwerklichen Input rund um Heldengeschichte und Dramaturgie waren auch die Breakout-Sessions ein obligatorischer Teil des Storytelling-Workshops. Mal sollten wir aus Informationsfetzen eine eigene Geschichte zusammenbauen, mal sollten wir uns gemeinsam in die Rolle eine*r JournalistIn versetzen, der*die über das Thema Wohnungsnot zu schreiben hat: Wer sollte in unserem Artikel vorkommen? Wie sollte die Geschichte aufgebaut sein? Welches Thema sollte unser Artikel näher beleuchten? 

Und immer mal wieder schlichen sich Kommentare ein wie: „Ach, jetzt hätten wir danach eigentlich bei einem Bier beisammensitzen können. Das können wir jetzt leider nicht.“ Einerseits lösten solche Kommentare eine Art Normalität aus: Die Pandemie war voll präsent im Leben; Einschränkungen waren normal und sinnvoll. Der erste Böll-Workshop, die erste Böll-Begegnung für mich war digital – also alles normal, oder?

Andererseits schlich sich die Wehmut dazwischen: Wie wäre es wohl, wenn wir abends gemeinsam durch das nächtliche Berlin schlendern würden, wenn wir mit unseren zwei Journalisten über Dies und Jenes – aber eben nicht nur Storytelling – sprechen würden?

Zwischendurch sollten wir zur Übung eine kleine persönliche Reportage schreiben. Jede*r in ihrem*seinem Zimmer, in ihrer*seiner Umgebung – wir waren aber alle mit der gleichen Aufgabe beschäftigt. Später lasen wir einige unserer Reportagen vor: Mal lustig, mal emotional und bewegend. Unsere Reaktionen: Freude, Begeisterung, Überraschung – alles ausgedrückt in den verpixelten Gesichtern und dem Applaus-Emoji, den das Programm „Zoom“ zur Verfügung stellt. Die Reaktionen fielen zwar optisch minimalistisch aus, und trotzdem waren sie echt.

Ein Highlight war wohl die Besprechung unserer Übungs-Reportagen, die wir vorab schreiben sollten. Mit einem unserer Journalisten besprachen wir unser Geschriebenes; viele Tipps und auch einige Kritik gab er mir mit. Das Digitale entfernte uns ein wenig, aber trotzdem sah ich in der Beurteilung meine vorherigen Mühen, die Reportage zu schreiben, belohnt. Eine einmalige Gelegenheit, für die eigene Übungsreportage ein professionellen Feedback zu erhalten.

Der zweite Journalismus-Workshop im Juni 2021 widmete sich einer weiteren essenziellen Kategorie des Journalismus‘: dem Interview. In zwei Tagen brachte uns der inforadio-Journalist und Podcaster Leon Stebe die Kunst der Interview-Führung näher.

Mein erster Gedanke, nachdem ich die digitalen Kacheln erblickte: einige Gesichter erkenne ich wieder – eine schöne Überraschung; ein „Kennenlernen“ scheint auch in der Zoom-Welt möglich zu sein.

Was zeichnet ein gutes Interview aus? Mit wem würden wir gerne ein Interview führen? – Diese Fragen stellten wir uns in Kleingruppen und versetzten uns so in die Rolle eines*r JournalistIn. Neben dem theoretischen Input und etlichen Tipps von Leon bestand ein wesentlicher Teil des Workshops aus den sogenannten Live-Interviews: In Zweier-Gruppen taten wir uns virtuell zusammen und tauschten uns aus, ehe wir uns im Plenum gegenseitig interviewten. Die Übung hatte einen netten Nebeneffekt: Wir lernten uns durch die Interviews mehr kennen: Wir sprachen über das Leben in London, über Master-Arbeits-Themen oder über die italienische Tomatensoße aus der Kindheit. In Zeiten, in denen wir keine Gespräche zwischendurch führen konnten, hatten wir so die Möglichkeit, unsere verschiedenen Facetten zu zeigen und uns kennenzulernen.

Nachdem erst einmal eine vertrauensvolle Sphäre geschaffen war, widmeten wir uns auch schwierigeren Themen: Wie gehen wir mit Rassismus und allgemein Diskriminierungsformen um, wenn sie plötzlich im Journalismus auftauchen? Ein Beispielvideo bot viel Gesprächsstoff und auch die Möglichkeit, sich über persönliche Schicksale auszutauschen. 

Beide Workshops beinhalteten eine „Karriere-Beratung“ mit dem legendären Mohamed Amjahid. Bevor dieser Teil begann und wir alle wussten, dass nach acht Stunden Bildschirmzeit unsere Augen brannten, hieß es (in etwa): „Holt euch gern etwas zu trinken, wir können es ja locker angehen lassen“. Ich schnappte mir also zwei Kugeln Eis, setzte mich für den letzten Programmpunkt des Tages hin und ließ mich gleichzeitig mit journalistischer Beratung berieseln. Sich etwas zu trinken oder zu essen zu holen war ein Versuch, ein bisschen Normalität in die Workshops zu bringen. Ob das gelang?

Beide Workshops gefielen mir, keine Frage. Ich habe viel mitnehmen können, nette Leute kennengelernt und bin dankbar für den gesamten Input – ob fachlich oder persönlich. Und gerade die Tatsache, dass die Workshops gut waren, stellt mich vor die hypothetische Frage: Wie wäre es in persona gewesen? Unter der Prämisse, dass die Workshops in persona nicht an Qualität abnehmen, ist die Frage stets präsent: Wären sie in persona besser gewesen? Inwieweit hätten wir uns besser kennenlernen können?

Ich habe viel gelernt, aber eine gewisse Wehmut bleibt. Die Frage „Was wäre, wenn …?“ lässt mich nicht los. Die kleinen Abende mit einem Drink, die Plaudereien mit den JournalistInnen zwischendurch, auch mal über nichts Fachliches, das nette „Hallo“ im Gang vor dem Seminarraum – das alles hätte sein können. Es hätte sein können, aber dem war nicht so.

Bis jetzt war alles, was ich von der Böll-Stiftung kenne, digital. Ich kann es also nicht besser wissen: Vielleicht wäre alles auch viel grauenvoller, viel stressiger aufgrund der Anfahrt? Andererseits: Vielleicht ist es dann aber viel harmonischer, die peinliche Stille gäbe es in persona nie. Es ist wie bei Schrödingers Katze: Ich kann es nicht wissen. Ich hoffe aber, dass wir alle es bald besser wissen können, um dann hoffentlich in persona ein „Hallo“ austauschen zu können.