Guatemala: Demokratie im Würgegriff

Analyse

Guatemalas schwache Demokratie steckt in einer schweren Krise. Bürgerliche Grundrechte und Grundfreiheiten werden sukzessive eingeschränkt, und von Gewaltenteilung kann immer weniger die Rede sein.

Plaza de la Constitución in Guatemala Stadt bei Nacht.
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Plaza de la Constitución in Guatemala Stadt.

Seit der damalige Präsident Jimmy Morales im August 2018 ankündigte, das Mandat der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (Comisión Internacional Contra la Impunidad en Guatemala, CICIG) nicht mehr zu erneuern, kam es zu wachsenden Angriffen auf Antikorruptionsermittler/innen, Aktivist/innen sowie zu Einschüchterungen und Drohungen gegen unabhängige Medien und Medienschaffende. Betroffen waren insbesondere Richter/innen und Staatsanwält/innen, die wichtige Korruptionsfälle und schwere Menschenrechtsverletzungen untersuchen, und von denen sich ein Großteil ins Exil gehen mußte.

Die CICIG war 2007 als Instanz der Vereinten Nationen auf Bitten des guatemaltekischen Staates eingerichtet worden, um die mit dem Staatsapparat verflochtenen kriminellen Strukturen zu untersuchen und zu beenden.

Annahme von Schmiergeldern

Im Juni 2021 wurden Ermittlungen eingeleitet, die den Präsidenten Alejandro Giammattei direkt betrafen. Er war von einem Zeugen beschuldigt worden, in einen Teppich eingewickelte Schmiergelder in Millionenhöhe in US-Dollar von russischen Unternehmer/innen angenommen zu haben. So sollten  Hafenkonzessionen erkauft werden. Von diesem Moment an nahmen die Angriffe gegen die für den Fall zuständigen Juristen, Staatsanwalt Juan Francisco Sandoval und die Richterin Erika Aifán, zu.

Die beiden Beamt/innen sind in Guatemala und international als Bollwerke des Kampfes gegen die Straffreiheit im Land bekannt. Sie verfolgten Dutzende Personen aus Politik, Wirtschaft und Parlament sowie Mitglieder des organisierten Verbrechens und des Drogenmilieus strafrechtlich. Beide leben mittlerweile im Exil.

Der „Fall des russischen Teppichs“ führte zur illegalen Absetzung von Sandoval, der bis dahin Vorsitzender der Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straffreiheit (Fiscalía Especial Contra la Impunidad, FECI) bei der Generalstaatsanwaltschaft gewesen war. Zudem wurde die Richterin Aifán zum Rücktritt gezwungen, als der Oberste Gerichtshof eine Klage gegen sie annahm.

Nicht besser erging es auch Aktivist/innen und Journalist/innen sowie mehr als einem Dutzend ehemaligen Justizangestellten, darunter zwei früheren Generalstaatsanwälten und einer Vorsitzenden des Verfassungsgerichts. Aus Sorge vor einer Inhaftierung wegen fadenscheiniger Vorwürfe sahen sie sich gezwungen, das Land zu verlassen.

An unabhängigen Berichterstatter/innen, Richter/innen und Staatsanwält/innen sollte ein Exempel statuiert werden, so der Journalist José Luis Sanz in einer in The Washington Post veröffentlichten Kolumne vom Februar dieses Jahres. Denn es sei kühn anzunehmen, dass vor dem Gesetz tatsächlich alle gleich seien. Dies führte dazu, dass die Mächtigen im Land zur Gegenoffensive übergingen, um den Untersuchungen und Gerichtsprozessen Einhalt zu gebieten, denen sie sich ausgesetzt sahen.

In Anbetracht des Ernstes der Lage verabschiedete das Europäische Parlament am vergangenen 7. April eine Resolution, in der es „seine Besorgnis über den Abbau rechtsstaatlicher Prinzipien in Guatemala sowie über die vom Obersten Gerichtshof und der Generalstaatsanwaltschaft angestrengten Prozesse gegen unabhängige Anwält/innen, Richter/innen und Staatsanwält/innen“ äußerte, „die kriminelle Netzwerke im Umfeld von hohen Beamt/innen und Unternehmer/innen untersuchen“.

„Die guatemaltekischen Behörden müssen dieses Vorgehen beenden, den Rechtsstaat schützen und die Gewaltenteilung garantieren, da diese grundlegend für die Bekämpfung von Straffreiheit und Korruption sind“, so die Resolution der europäischen Abgeordneten.

Zurück zur Diktatur der Straffreiheit

Im April 2015 deckten CICIG und FECI ein System aus unlauterer Einflussnahme, Schmiergeldzahlungen und unrechtmäßiger Bereicherung auf, an dem auch der damalige Präsident Otto Pérez Molina und seine Vize-Präsidentin Roxana Baldetti beteiligt waren. Die Höhe der veruntreuten Summe empört angesichts der grassierenden Armut und Arbeitslosigkeit der Bevölkerungsmehrheit sowie der prekären öffentlichen Infrastruktur, wie Krankenhäusern, Schulen oder Straßen.

Verlangten anfänglich lediglich einige Hundert Personen den Rücktritt des Präsidenten und seiner Stellvertreterin sowie die Einleitung eines Gerichtsverfahren gegen beide, wuchsen die Proteste bald an. Die massive zivilgesellschaftliche Mobilisierung beflügelte die Arbeit der Staatsanwaltschaft.

Dutzende von Korruptionsfälle wurden untersucht und belegten, wie umfassend korrupte Netzwerke den Staat unterwandert hatte und das skandalöse Ausmaß der Verwicklung bekannter Unternehmer/innen, Politiker/innen, Abgeordnete, Richter/innen, Militärs, ehemalige Präsidenten, Behörden und Beamt/innen.

Die Wende

So lange die Ermittlungen lediglich korrupte Politiker/innen betrafen, erfuhr der Kampf gegen Straffreiheit einhellige Unterstützung, auch durch die Industrie- und Handelskammern. Das änderte sich jedoch schlagartig, als die Namen derjenigen bekannt wurden, die hinter der Korruption standen. Denn damit wurde ein eisernes, wenn auch ungeschriebenes Gesetz gebrochen, wonach die Machenschaften von Unternehmer/innen nicht strafrechtlich belangt werden können.

Der bezeichnendste Fall gegen Mitglieder der traditionellen Wirtschaftselite ergab sich 2018, als die CICIG offenlegte, dass bekannte Unternehmer/innen unrechtmäßigerweise die Wahlkampagne des damaligen Präsidenten Jimmy Morales und seiner Partei FCN-Nación finanziert hatten.

Im Zuge der öffentlichen Abbitte der Beschuldigten kam es zu einer Gegenreaktion, in deren Folge sich ehemalige Militärs, Intellektuelle der traditionellen Eliten, korrupte Politiker/innen, Regierungsbeamt/innen und Mitglieder des organisierten Verbrechens zu einem Block zusammenschlossen, der die Straffreiheit aufrechterhalten wollte.

Diesem Pakt der Korrupten, wie das Bündnis im Volksmund genannt wird, gelang es, die CICIG des Landes zu verweisen und die Kontrolle über die Generalstaatsanwaltschaft sowie über die höchsten Gerichte und den Rechnungshof wiederzuerlangen. Zudem festigte sie eine Mehrheit im Parlament, die die rückschrittliche Politik von Alejandro Giammattei und einer Gruppe mächtiger und radikaler Unternehmer/innen unterstützt.

Für die Rücknahme der Maßnahmen erwies sich die Kooptierung der Generalstaatsanwaltschaft als zentraler Hebel. Denn unter der Kontrolle des Paktes der Korrupten hat die Generalstaatsanwaltschaft die Macht, unabhängige Richter/innen und Journalist/innen sowie Oppositionelle und führende Persönlichkeiten der sozialen Bewegungen ins Exil zu zwingen oder ins Gefängnis zu stecken. Sie kann die zielgerichtete Strafverfolgung all jener Personen anordnen, die sich dem Machtmissbrauch entgegenstellen, die Meinungsfreiheit massiv einschränken und sogar das Ergebnis der Wahlen von 2023 in ihrem Sinne beeinflussen.

Darum geht es bei der Taktik des Würgegriffs: die Staatsgewalt nutzen, um Dissens zu bestrafen, ein Exempel zu statuieren und jegliche Opposition zu ersticken.

Hass- und Manipulationskampagnen

Neben des Missbrauchs legaler Instrumente und der Einleitung von Gerichtsverfahren gegen Antikorruptionsermittler/innen, kommt es immer wieder zu Desinformationskampagnen in jenen Medien, die den Mächtigen nahestehen. Dabei werden Menschen verleumdet und bedroht. In den sozialen Medien sind es vor allem ehemalige Militärs, Unternehmer/innen, Anwält/innen und Mitglieder rechtsextremer Vereinigungen wie der Fundación contra el Terrorismo (Dt. etwa: Stiftung gegen den Terrorismus, FCT, Anm. d. Ü.) und Guatemala Inmortal (Dt. etwa: Unsterbliches Guatemala, Anm. d. Ü.), die an der Spitze solcher Kampagnen stehen.

Die Verbreitung falscher Informationen zur Verwirrung der Bevölkerung ist Teil einer Manipulationsstrategie. Ganze Armeen von Trollen, Hassnachrichten sowie stigmatisierende Posts werden dabei gegen Personen verbreitet, die die Menschenrechte, die Demokratie verteidigen und den Kampf gegen die Straffreiheit führen.

Es handelt sich dabei um eine Form der psychologischen Manipulation, bei der kollektive „Gegner/innen“ geschaffen werden. Richter/innen, soziale Aktivist/innen und Journalist/innen werden mit Hilfe anonymer Accounts überwacht, angegriffen und bedroht. Sogar sensible und eigentlich nicht zugängliche Angaben wie Aufenthaltsort sowie Verschlusssachen werden dabei verbreitet.

So wurden von einigen Accounts aus Verhaftungen angekündigt, bevor die Generalstaatsanwaltschaft über diese Schritte öffentlich informiert hatte. Beispielsweise verkündete die FCT am 2. September 2021, einen Tag bevor offiziell vom Haftbefehl gegen den ehemaligen Staatsanwalt berichtet wurde, diesen Schritt bereits auf Twitter.

Auch die unabhängigen Medien und Journalist/innen sind Angriffen ausgesetzt, mit denen sie zum Schweigen gebracht oder ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen werden sollen. Doch trotz der Drohungen, der digitalen Hetze, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und den Einsparungen beim Personal berichten und recherchieren sie weiter.

Im Visier der Generalstaatsanwaltschaft

Seit der unrechtmäßigen Absetzung von Juan Francisco Sandoval (im Juli 2021) als Vorsitzender der FECI und der Ernennung von Rafael Curruchiche als sein Nachfolger, ist eine regelrechte Jagd auf Mitglieder der Sonderstaatsanwaltschaft sowie auf Anwält/innen und Ermittler/innen ausgebrochen, die für die CICIG tätig waren.

Im Februar 2022 leitete die Generalstaatsanwaltschaft unter María Consuela Porras verschiedene Anzeigen in die Wege, die zur Festnahme von Leily Santizo, ehemalige Mandatsträgerin der CICIG, sowie von Eva Siomara Sosa, Virginia Laparra, Paola Escobar, Aliss Morán und Willy López führten, die der FECI angehörten. Die Tatsache, dass die Beschuldigten keinem Richter vorgeführt wurden und wochenlang in Untersuchungshaft verbrachten, ist ein klarer Verstoß gegen ihr Recht auf ein ordentliches Verfahren. Die Staatsanwältin Laparra befindet sich noch immer in Haft.

Die Untersuchungen richten sich ebenfalls gegen unbestechliche Beamt/innen. Nach 19 Jahren Richtertätigkeit sah sich Erika Aifán gezwungen, ihr Amt niederzulegen und ins Exil zu gehen. Sie leitete mehrere wichtige Verfahren, hierunter auch den Fall der sogenannten Comisiones Paralelas, einer Struktur, die dazu diente, die Ernennung von Richter/innen in die höchsten Gerichte mittels unrechtmäßigem Lobbying und Schmiergeldzahlungen zu beeinflussen. Aber auch das Verfahren gegen prominente Unternehmer/innen, denen man zur Last legt, unrechtmäßig den Wahlkampf des Ex-Präsidenten Jimmy Morales 2015 finanziert zu haben. Oder auch den Fall Odebrecht, in den mehr als 90 ehemalige Abgeordnete involviert sind. Nicht zuletzt unterstand Erika Aifán die Aufklärung vermeintlicher Schmiergeldzahlungen und nicht korrekt deklarierter Wahlkampfspenden im Wert von 2,6 Millionen US-Dollar für die Kampagne des heutigen Präsidenten Alejandro Giammattei.

Der Richter Pablo Xitumul, der ehemalige Militärs wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen verurteilte, wurde ebenfalls seines Amtes enthoben. Yassmin Barrios und Miguel Ángel Gálvez, beides untadelige Richter/innen, sind zum Ziel von Drohungen und Angriffen geworden. Teil einer Verfolgungs- und Bedrohungskampagne in Reaktion auf ihre Urteile, sind die mehr als 30 Anzeigen, die gegen sie vorliegen.

Durch Absetzung und Kriminalisierung von Staatsanwält/innen und Richter/innen gelingt es, die Institution zu schwächen, die erfolgreiche Strafverfahren wegen Korruption und schweren Menschenrechtsverbrechen möglich gemacht hat. Ziel ist aber auch, die Privilegien der traditionellen Wirtschaftselite zu wahren, die Macht und Reichtum anhäuft, während sie gleichzeitig den Großteil der Bevölkerung in Armut hält.

Der Kreis schließt sich

Am 16. Mai 2022 wurde Consuelo Porras als Person für die nächsten vier Jahre im Amt der neuen Generalstaatsanwältin Guatemalas wiederernannt. Das Auswahlverfahren war von Drohungen gegen die Mitglieder der Auswahlkommission geprägt, denen die Aufgabe zufällt, dem Präsidenten Giammattei eine Liste mit sechs Kandidat/innen vorzulegen, aus denen dieser die neue Leitung der Generalstaatsanwaltschaft bestimmt.

Auf der Zielgeraden gelang dem Pakt der Korrupten noch die Verfügung durch das Verfassungsgericht, die amtierende Generalstaatsanwältin, María Consuelo Porras, in die Kandidatenliste aufzunehmen. Sie strebte ihre Wiederwahl an, obwohl unterschiedlichste Sektoren sowie gesellschaftliche, indigene, bäuerliche und studentische Gruppen sie zum Rücktritt aufforderten, wegen ihrer Behinderung der Justiz und ihrer Aufnahme in eine Liste korrupter Akteure durch die USA.

Die Wiederwahl von Consuelo Porras am 16. Mai 2022  bedeutet die Kriminalisierungsstrategie fortzusetzen und den Kampf gegen Korruption und Straffreiheit endgültig zu begraben.

Neben dem Posten der Generalstaatsanwältin werden in diesem Jahr auch die Ombudsperson für Menschenrechte und die Leitung des guatemaltekischen Rechnungshofes neu bestimmt, zwei Ämter, die den Kreis der Kooptierung der Institutionen schließen könnten.

Unterdessen nehmen Frustration, Spannungen und Unzufriedenheit in der Mehrheit der Bevölkerung zu. Genau lässt sich nicht sagen, welcher Tropfen das Fass schließlich zum Überlaufen bringen und einen neuen Zyklus sozialer Proteste hervorbringen wird, der die vollumfängliche Errichtung einer Diktatur der Straffreiheit verhindern kann. Die Wiederwahl von Consuelo Porras als Generalstaatsanwältin? Die Einschränkung unabhängiger Meinungsäußerung? Die Zunahme der Armut und der sozialen Ausgrenzung? Das Ausbleiben freier Wahlen in 2023?

Angesichts des Scheideweges, an dem sich Guatemala befindet, und trotz der kontinuierlichen Repression und Kriminalisierung, haben soziale, bäuerliche und Menschenrechtsgruppen sowie indigene Vertreter/innen, Studierende, Feminist/innen und LGBTIQ-Organisationen während der letzten zwei Jahre die Proteste aufrechtgehalten. Die einzelnen Demonstrationen sind zwar nicht so massiv wie noch 2015, aber sie treten dennoch entschieden für den Schutz von Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechten ein.

Die jüngste Protestkundgebung fand am vergangenen 7. April vor dem Obersten Gerichtshof statt und richtete sich gegen die Korruption der Justiz und die mögliche Wiederwahl von Porras. Daniel Pascual, Vorsitzender des Komitees für bäuerliche Einheit (Comité de Unidad Campesina, CUC), erklärte: „Wir kamen, um unsere Ablehnung der möglichen Wiederwahl von Consuelo Porras kundzutun und jene ehrlichen Richter und Richterinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen zu unterstützen, die gerade der Verfolgung ausgesetzt sind.“

In dieser kritischen Situation, des Rückschritts und Autoritarismus, brauchen die Menschen, die die schwache guatemaltekische Demokratie am Leben erhalten, mehr denn je die Aufmerksamkeit, Unterstützung und Solidarität der internationalen Gemeinschaft.

Den Blick auf Guatemala zu richten, ist von entscheidender Bedeutung, damit sich hier und in ganz Zentralamerika die tragischen Ereignisse der Vergangenheit nicht wiederholen und die noch nicht verheilten Wunden wieder aufreißen.

 

Übersetzung aus dem Spanischen: Sebastian Landsberger und Kristina Vesper