Nach der groß angelegten russischen Invasion der Ukraine und der Entscheidung der Ukraine, sich um die EU-Mitgliedschaft zu bewerben, zogen Georgien und die Republik Moldau nach und reichten ihre Anträge im März 2022 ein. Jetzt stehen Georgien und die EU an einem historischen Scheideweg. Die unzureichenden Demokratisierungsbestrebungen der georgischen Regierung, ihre mangelnde Entschlossenheit in Bezug auf die europäische Ausrichtung des Landes, die innere Polarisierung Georgiens und eine Reihe von Herausforderungen in der EU selbst beeinträchtigen die Fähigkeit beider Parteien, den Beitrittsantrag auf den Weg zu bringen. Vor diesem Hintergrund ist der Status eines ‚potenziellen Kandidaten‘ die vernünftigste politische Option.
Wie es ein EU-Diplomat letztes Jahr ausdrückte – Anträge auf EU-Mitgliedschaft sollten nicht gestellt werden, wenn das Bewerberland nicht weiß, wie die Antwort ausfallen wird. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 reichten jedoch die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau, auch bekannt als das Assoziiertentrio, Anträge auf EU-Mitgliedschaft ein, ohne sich sicher zu sein, welche Antwort die EU geben wird. Die EU wird nun auch auf den Beitrittsantrag Georgiens reagieren müssen, und sie sollte besser eine nachvollziehbare und kohärente Antwort für den Gipfel des Europäischen Rates parat haben, der für den 23. und 24. Juni in Brüssel geplant ist.
Stand der Dinge
Acht Jahre nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, einschließlich der vertieften und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area - DCFTA), beschloss die georgische Regierung, dem Weg der Ukraine zu folgen und reichte den Antrag des Landes auf EU-Mitgliedschaft ein. Dieser Schritt kam überraschend und erfolgte unter starkem Druck der Gesellschaft, die befürchtete, zurückgelassen zu werden und ihre europäische Perspektive im Zuge des Fortschritts anderer und der anhaltenden russischen Aggression zu verlieren. Die Regierungspartei Georgischer Traum (GT) hatte ursprünglich geplant, den Antrag vor den Parlamentswahlen 2024 einzureichen, ein Schritt, der ihr Engagement für die euro-atlantische Integration Georgiens unter Beweis gestellt und wahrscheinlich für zusätzlichen Stimmen derjenigen 82% der Bevölkerung gesorgt hätte, die eine EU-Mitgliedschaft unterstützen. In den aktuell außergewöhnlichen Zeiten hat sich der Lauf der Geschichte jedoch rasant entwickelt, und Georgien, die Ukraine und Moldau könnten nun den Warteraum verlassen, der mit dem Format der Östlichen Partnerschaft (ÖP) geschaffen wurde. Kurz nach Einreichung des Beitrittsantrags forderte der Europäische Rat die Europäische Kommission auf, eine Stellungnahme/Avis zur Frage zu erstellen, ob den Bewerberländern der Kandidatenstatus zuerkannt werden soll. Anschließend erhielten die Trio-Länder offizielle Fragebögen, um ihre Bereitschaft zur Erfüllung der Beitrittskriterien zu bewerten. Es wird erwartet, dass die Europäische Kommission bis Juni drei Stellungnahmen vorlegen wird, denen ein Beschluss des Europäischen Rates über die Gewährung des Kandidatenstatus für Georgien, Moldau und die Ukraine folgen würde.
Ein EU-Beitrittsantrag in Zeiten demokratischer Rückschritte
Für Georgien und die Europäische Union schlägt nun die Stunde der Wahrheit. Beim Ausfüllen des Fragebogens mussten die georgischen Behörden Antworten auf Fragen zu Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, Schutz personenbezogener Daten, Meinungsfreiheit usw. geben – Bereiche, in denen Georgien in den letzten Jahren demokratische Rückschritte gemacht hat. Die EU und die USA – Georgiens wichtigste Partner – haben sich offen über die zweifelhafte Leistung des GTs bei der Umsetzung von Reformen geäußert, wie sich beispielsweise im jüngsten Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums und im Assoziierungsbericht 2021 der EU widerspiegelt. Die georgische Zivilgesellschaft hat die demokratischen Mängel Georgiens am lautesten kritisiert und argumentiert, dass Georgien zu einem ‚captured state‘ wird, in dem der Oligarch und ehemalige Premierminister Bidsina Iwanischwili mit einem persönlichen Vermögen, das sich in den vergangenen Jahren auf etwa 30% des BIP des Landes belief und das zumeist in Russland generiert wurde, politische Entscheidungsprozesse zum eigenen Vorteil beeinflusst.
Das Versäumnis der georgischen Regierung, umfassende Justizreformen durchzuführen und die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten, ist einer der größten Kritikpunkte. Unter anderem ernannte der Georgische Traum 2021 auf intransparente Weise Richter am Obersten Gerichtshof, untergrub damit das Vertrauen der georgischen Öffentlichkeit und der internationalen Gemeinschaft in die georgische Justiz und riskierte, die demokratische Entwicklung Georgiens zu schwächen. Das Versäumnis, das Justizsystem zu reformieren, führte dazu, dass Georgien de facto Makrofinanzhilfen der EU in Höhe von 75 Millionen Euro verlor, auch wenn der GT der Öffentlichkeit gegenüber kommunizierte, dass die Regierung die Hilfe gar nicht beantragt hatte. Die Regierungspartei kündigte außerdem das am 19. April 2021 von der Europäischen Union (unter persönlicher Beteiligung von EU-Ratspräsident Charles Michel) vermittelte Mehrparteienabkommen mit dem Titel „Ein Weg nach vorn für Georgien“ auf, das darauf abzielte, den politischen Stillstand im Land zu überwinden, und weitere Justizreformen einforderte.
Der kürzlich veröffentlichte Bericht „Nations in Transit 2022“ ist ein weiteres Zeugnis der sich verschlechternden demokratischen Entwicklung Georgiens. Georgien schneidet im Vergleich zum Vorjahr schlechter ab, was auf die gescheiterte Umsetzung des Abkommens vom 19. April zurückgeführt wird sowie auf das sich verschlechternde Umfeld für die Zivilgesellschaft, verursacht durch ein „permissives Umfeld für gewaltbereite rechtsextreme Gruppen“, und die anhaltende Krise in der Justiz. Das alles soll nicht heißen, dass Georgien in den letzten 20 Jahren keine Fortschritte vorzuweisen hätte; Erfolge wurden beispielsweise in den Bereichen Korruptionsbekämpfung und öffentliche Verwaltung erzielt. Georgien hat zwar auch Fortschritte bei der Umsetzung des Assoziierungsabkommens gemacht, schneidet aber in Bezug auf die politische (Policy-) Konvergenz mit der EU immer noch am schlechtesten unter den Trio-Ländern ab. Insgesamt hat Georgien das Image eines Reformlandes verloren und ist nicht mehr der ÖP-Vorreiter.
Wachsende Abhängigkeit von Russland: Driften nach Norden statt nach Westen?
Nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen 2012 und dem Sturz der Vereinten Nationalbewegung veröffentlichte der Georgische Traum ein 14-Punkte-Dokument zur georgischen Außenpolitik. Der neunte Punkt des Papiers schlug vor, einen Dialog aufzunehmen und die Differenzen mit Russland zu überwinden, was damals von der georgischen Bevölkerung breit unterstützt wurde. Erklärtes Ziel des Dialogs waren die „Deokkupation und der Schutz der Souveränität“ Georgiens. Wenig überraschend war Georgien jedoch nicht in der Lage, in diesen Fragen Fortschritte zu erzielen; tatsächlich wurde der sogenannte Grenzziehungsprozess fortgesetzt und Hunderte von ethnischen Georgiern wurden von den südossetischen De-facto-Behörden festgenommen. Darüber hinaus hat sich die De-facto-Annexion Abchasiens und Südossetiens durch Russland in einem noch schnelleren Tempo fortgesetzt. Der scheidende De-facto-Führer Südossetiens hat nun angekündigt, dass das Gebiet am 17. Juli 2022 ein Referendum über den Beitritt zu Russland abhalten wird.
Gleichzeitig gab es jedoch ‚Fortschritte‘ auf dem Gebiet des Handels. 2013 hob Russland seine Sanktionen gegen Georgien auf und nahm die Einfuhr von georgischem Wein und Mineralwasser wieder auf. Der GT verkaufte dies als klaren Erfolg und Gewinn für georgische Produzent*innen, die die scheinbare Chance erhielten, auf den russischen Markt zurückzukehren. Tatsächlich machte dieser Schritt Russlands Georgien anfälliger und erhöhte seine Abhängigkeit von Russland. So stieg der Anteil des russischen Marktes am georgischen Weinexport bis 2021 auf 54,8%. Darüber hinaus stiegen die georgischen Gesamtexporte nach Russland allmählich von 47 Mio. USD (nur 2% der Gesamtexporte) im Jahr 2012 auf 610 Mio. USD im Jahr 2021, was 14,4% der Gesamtexporte ausmacht. Auch der Anteil des russischen Gases am Gasimport Georgiens ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, von 2,8% im Jahr 2018 auf 23,1% im Jahr 2021. Besonders bei Weizen und Weizenmehl ist Georgien von Russland abhängig. 94 % des in Georgien konsumierten Mehls stammt aus Russland. Insgesamt ist Russland seit 2012 als wichtiger Handelspartner für Georgien zurückgekehrt.
Darüber hinaus war Georgien nicht in der Lage, die Möglichkeiten, die die DCFTA bietet, voll auszuschöpfen. Die Exporte in die EU sind zwar gestiegen, bleiben aber auf „niedrigem Niveau“. Vorläufige Daten aus dem Jahr 2021 zeigen, dass nur 16,8 % der Exporte in die Europäische Union gehen. Zudem zeigt aktuelle Forschung, dass die DCFTA besonders Unternehmen mit Verbindungen zur herrschenden Elite zugutegekommen ist und „bisher überwiegend dazu beigetragen hat, die oligarchischen Strukturen des Landes aufrechtzuerhalten“. Während eine Diversifizierung der Handelsbeziehungen sicherlich sinnvoll ist, scheint der Eifer, den russischen Markt wieder zu öffnen und gute Handelsbeziehungen mit Russland wiederaufzubauen, nicht mit dem gleichen Eifer einhergegangen zu sein, auf den europäischen Markt vorzudringen, was Zweifel an der proeuropäischen Orientierung des GTs geweckt hat. Diese Befürchtungen haben sich in letzter Zeit vervielfacht, da sich der Georgische Traum eher vorsichtig gegenüber der russischen Invasion der Ukraine positioniert hat. Während der vielzitierte Wunsch, einen weiteren Krieg mit Russland zu vermeiden, sicherlich vernünftig ist, lässt sich nicht leugnen, dass auch wirtschaftliche Interessen, einschließlich der herrschenden Elite, eine Rolle spielen könnten.
Gemeinsames Ziel, aber kein gemeinsames Vorgehen oder Kooperation
Die Unterstützung der Bevölkerung für die EU-Mitgliedschaft Georgiens ist extrem hoch, und fast alle Nichtregierungsorganisationen (NROs) befürworten die Mitgliedschaft ebenfalls. NROs sehen die EU-Integration des Landes als Hebel, um dringend benötigte, aber schmerzhafte Reformen und Demokratisierung voranzutreiben. Allerdings ist der Austausch zwischen Entscheidungsträger*innen und der Zivilgesellschaft nur wenig effizient und ergebnisorientiert. Dasselbe gilt für die politischen Parteien. Trotz der Tatsache, dass fast alle politisch relevanten Akteure den EU-Beitritt Georgiens unterstützen, gibt es in dieser Angelegenheit nur sehr wenig gemeinsames Engagement. Obwohl Georgien bemerkenswerterweise das einzige Trio-Land war, das einen Teil des Fragebogens öffentlich zugänglich machte, war es auch das einzige Land, das beim Ausfüllen des Fragebogens keine Konsultation mit der Zivilgesellschaft organisierte. Zudem gehen GT-Vertreter immer wieder rhetorisch gegen Zivilgesellschaft und Opposition vor. Im Gegenzug bezeichnen einige politische Vertreter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen den regierenden Georgischen Traum als pro-russisch und fordern regelmäßig den Rücktritt von Regierungsmitgliedern, einschließlich des Premierministers. Während die Regierung eine besondere Verantwortung für Pragmatismus trägt, trägt die populistische Rhetorik auf allen Seiten nicht dazu bei, NROs, Oppositionsparteien und Behörden an einen Tisch zu bringen. Infolgedessen ist gemeinsames Handeln selbst bei einem so wichtigen Thema wie der EU-Mitgliedschaft Georgiens unmöglich geworden – dem Thema, das alle zumindest auf dem Papier unterstützen.
Interne und externe Herausforderungen der EU
Nach der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine sieht sich die Europäische Union mit einer neuen Realität auf dem Kontinent konfrontiert. Dies ist ein entscheidender Moment nicht nur für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau, sondern auch für die EU selbst. Auf der für den 23.-24. Juni in Brüssel angesetzten Tagung des Europäischen Rates müssen nicht nur die Beitrittsanträge beantwortet werden, sondern auch die Frage, ob die EU ein weltpolitischer Akteur ist oder vor allem ein Wirtschaftsblock bleibt. Dies ist außerdem ein Test dafür, ob die europäische Solidarität auf andere europäische Länder und Gesellschaften ausgedehnt werden kann, die ihr Leben für Europa geopfert haben, während sie von der Europäischen Union ausgeschlossen bleiben. Gleichzeitig sollten wir die Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, nicht unterschätzen. Eines der Hauptprobleme ist das Stocken der Beitrittsprozesse in Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Serbien, wo ein schneller Kandidatenstatus für die Trio-Länder und noch mehr die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen als ungerecht empfunden werden könnten. Die Beitrittsprozesse werden dabei nicht nur durch die mangelnde Erfüllung der Kopenhagener Kriterien durch die jeweiligen Länder behindert, sondern auch durch politische Blockaden einiger EU-Mitgliedstaaten, die innenpolitische Kritik fürchten. Ähnliche Hindernisse könnten auch für die Trio-Bewerbungen entstehen. Eine noch größere Frage betrifft die Zukunft der institutionellen Architektur und der Entscheidungsprozesse der EU. Angesichts der bereits jetzt großen Schwierigkeiten der EU, ihre Einheit trotz einiger illiberaler Regierungen mit und ohne enge Verbindungen zu Russland zu wahren, haben Mitgliedstaaten, die es mit einer wertebasierten Integration ernst meinen, triftige Gründe, einer weiteren Erweiterung der Union skeptisch gegenüberzustehen.
Potenzieller Kandidatenstatus: die vernünftigste Option
Angesichts dieser Herausforderungen sowohl in Georgien als auch in der EU ist die Gewährung des Status eines ‚potenziellen Kandidaten‘[1] für Georgien die vernünftigste politische Option. Es ist klar, dass eine Verzögerung – geschweige denn eine Ablehnung – des Mitgliedschaftsantrags große Enttäuschung in der georgischen Gesellschaft hervorrufen und illiberale und antieuropäische Tendenzen verstärken würde. Auch der Status eines ‚potenziellen Kandidaten‘ könnte von der Regierungspartei instrumentalisiert werden und Teil des heimischen ‚Schuldspiels‘ werden. Gleichzeitig würde eine sofortige Gewährung des Kandidatenstatus, obwohl Georgien sich weiter von der Erfüllung einiger der Kopenhagener Kriterien entfernt hat, einem Versäumnis seitens der EU gleichkommen, ihren politischen Einfluss für die demokratische Transformation zu nutzen und ihre Glaubwürdigkeit als werteorientierter Akteur untergraben. Einen Mittelweg einzuschlagen, ist daher die klügste Politikoption. Ähnlich wie in der Stellungnahme der EU-Kommission von 2010 zum Beitrittsantrag Albaniens könnte die EU Georgien versprechen, den Kandidatenstatus zu gewähren und Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, sobald Georgien seine Bilanz in einer Reihe von Bereichen verbessert, darunter die Unabhängigkeit der Justiz, Minderheitenrechte, Korruptionsbekämpfung usw. Dies käme einer starken Konditionalität mit klaren und messbaren Kriterien gleich. Es würde Druck auf den Georgischen Traum ausüben, auf den Pfad der Demokratisierung zurückzukehren und einige der wichtigsten demokratischen Probleme zu lösen – und sei es nur, um sich im Vorfeld der Parlamentswahlen 2024 vor dem Machtverlust zu retten.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: ge.boell.org
[1] Laut der Europäischen Kommission haben ‘potenzielle Kandidaten’ “klare Aussichten auf einen künftigen EU-Beitritt, aber noch keinen Kandidatenstatus erhalten“ (eigene Übersetzung) https://ec.europa.eu/environment/enlarg/candidates.htm?fbclid=IwAR0vHmI…