Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte: Kolumbien vor der Stichwahl

Analyse

Linkskandidat Gustavo Petro und der politische Outsider Rodolfo Hernández werden am 19. Juni in der Stichwahl um das kolumbianische Präsidentschaftsamt gegeneinander antreten und für ein Herzschlagfinale sorgen.

Am 29. Mai finden die Präsidentschaftswahlen in Kolumbien statt.
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Die Präsidentschaftswahlen in Kolumbien finden alle vier Jahre statt - wie hier 2014.

Der mögliche nächste Präsident Kolumbiens, Rodolfo Hernández, will das Land ganz als politisch unabhängiger Superheld im Stile US-amerikanischer Comics regieren – ohne Korruption, ohne traditionelle Parteien, ohne teuren Staatsapparat.  

Hernández, 77-jähriger Bauunternehmer, Grundstücks-Spekulant, Selfmade-Millionär und Provinzpolitiker ohne Parteizugehörigkeit, ehemaliger Stadtrat der Kleinstadt Piedecuesta (1992-1995) und Bürgermeister von Bucaramanga (2016-2019), mit rund 500.000 Einwohner*innen, wurde zur Überraschung vieler im ersten Wahlgang zweiter und kommt in die entscheidende Stichwahl um das Präsidentenamt. Hernández mit fast sechs Mio. Stimmen der eigentliche Gewinner, hinter dem Sieger des ersten Wahlgangs, Gustavo Petro, mit knapp 8,5 Millionen Stimmen.

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Quelle: La República, https://www.larepublica.co/especiales/es-la-economia-estupido/rodolfo-H…

Wofür stehen die Kandidaten?

Mit Hernández, der international über keine Politikerfahrung verfügt, droht eine Präsidentschaft, die wohl mehr einer Fernseh-Show à la The Apprentice mit Donald Trump gleichen würde, während im Kongress weiterhin die traditionellen Parteien eine Mehrheit hätten und die politischen Fäden in der Hand behalten würden. Aber auch im Falle eines Siegs von dem Sieger der ersten Wahlrunde, Gustavo Petro, wären die von ihm geschürten Erwartungen wohl nur schwer zu erfüllen. Ohne Kompromisse mit der politischen Opposition im Kongress wären grundlegende Reformen nicht möglich.

Als politischer Outsider gegenüber dem traditionellen politischen Establishment verwies Hernández im ersten Wahlgang den konservativen Favoriten Federico Gutiérrez („Fico“) in die Schranken und verdarb den Wahlsieg des linken Kandidaten Gustavo Petro. Petro trat mit seinem Wahlbündnis Pacto Histórico und erstmalig einer afro-kolumbianischen Umweltaktivistin als Vizepräsidentschaftskandidatin, Francia Márquez, an und verspricht sozialen Wandel. Bereits 2010 und 2018 war Petro für die Präsidentschaftswahlen angetreten. Jetzt erzielte er mit rund 8,5 Millionen Stimmen das beste Wahlergebnis linker Kandidat*innen in der Geschichte des Landes. Aber dieser Erfolg reicht möglicherweise am Ende nicht für die Präsidentschaft.

Petro und Márquez stehen für sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel Kolumbiens: für eine Umsetzung des 2016 unterschriebenen Friedensabkommens, für eine progressive Sozialpolitik, für eine Förderung der nationalen landwirtschaftlichen Produktion sowie für eine Verringerung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Das Wahlprogramm sieht die Stärkung von Frauen, LGBTQI+, Indigenen, Afrokolumbianer/innen und anderen marginalisierte Bevölkerungsgruppen vor.

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Stimmen für Gustavo Petro bei den Präsidentschaftswahlen 2010, 2018 und 2022, Quelle: https://twitter.com/AlirioUribeMuoz/status/1531638883829547009/photo/1

Nun stellt sich Hernández ebenfalls als Kandidat des politischen Wandels dar –  als politischer Outsider aus dem Bundesstaat Santander, fern des politischen Treibens in der Hauptstadt, als Vertreter des politischen Anti-Establishments, der ohne die Unterstützung traditioneller Parteien, der mit einer Kampagne mit eigenen, unterhaltsamen Tik-Tok Filmchen seine Wählerschaft erreicht. Auf populistische Art und Weise geriert er sich als der einsame Superheld im Kampf gegen Korruption und die angebliche Verprassung öffentlicher Steuergelder durch traditionelle Parteien. So überrascht es nicht, dass er auf Tik-Tok in einem Video mit Spiderman-Hintergrund auftrat und sich als neuen Präsidenten ausrief.

Seine Wählerschaft wollen sozialen Wandel, aber lehnen dafür aus ideologischen oder politischen Gründen den linken Kandidaten und Ex-Guerillero Petro ab. In der ersten Wahlrunde gewann Hernández Stimmen vor allem in den ländlichen und semi-urbanen Regionen des Landes. Interessanterweise war in den gleichen Regionen 2018 auch der konservative Präsident Duque erfolgreich und 2016 scheiterte dort das Plebiszit zum Friedensabkommen. Petro gewann Stimmen in der Peripherie des Landes.

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Erster Wahlgang Präsidentschaftswahlen 2022, Quelle: Bluradio, https://www.bluradio.com/nacion/elecciones/presidenciales/estos-son-dep…

Kein politischer Raum für eine linke Mehrheit im zweiten Wahlgang?

Beim der der Stichwahl am 19.Juni können dem jetzigen Sieger Petro tatsächlich die notwendigen Stimmen für die Mehrheit fehlen. Seinen 8,5 Millionen Stimmen stehen die zusammen genommenen etwa 11 Millionen Stimmen von Hernández und Fico gegenüber. Letzterer gab bereits am Wahlabend bekannt, für Hernández stimmen zu wollen.

Die Wahlbeteiligung war mit  knapp 55% (ca. 21,5 Millionen) die höchste bei Präsidentschaftswahlen der vergangenen 20 Jahre. Im Vorfeld der Wahlen wurden junge Wähler*innen von Petro mobiliisiert, die vergangenes Jahr an den massiven Sozialprotesten teilgenommen hatten. Aber die ganz überwiegende Mehrheit aus dem politischen Mitte-Rechts-Lager lehnt Petro vehement ab. Es wird erwartet, dass Hernández deren Stimmen in der Stichwahl bekommt. Die wenigen, enttäuschten Wählerinnen für den im ersten Wahlgang nur viert-platzierten Kandidaten Sergio Fajardo, verteilen sich voraussichtlich auf die beiden Kandidaten und dem sog. Voto en Blanco (dem Wahlkreuz auf dem leeren Feld des Wahlzettels).

Erste Wahlumfragen zur Stichwahl zeigen, dass es ein äußerst knappes Rennen wird. Während Petros Wählerpotential bereits weitestgehend ausgeschöpft scheint, versammelt Hernández die rechts-konservativen Stimmen für sich. Bei den ersten Wahlumfragen zur zweiten Runde - zwei Tage nach dem ersten Wahlgang - kam Petro auf 39% bzw. 44%, sein Widersacher Hernández auf 41% bzw. 52%. Mittlerweile liegen beide je nach Umfragen etwa gleichauf. In einigen Umfragen holte Petro auf und liegt knapp vorne, in anderen Hernández.

Aussichten für den zweiten Wahlgang

Petros Wahlkampf für die erste Runde fokussierte auf den nun verlorenen Kandidaten Fico als Vetreter der traditionellen Parteien, die sich als unfähig zum demokratischen und sozialen Wandel erwiesen haben. Sein jetziger, einziger Kontrahent Hernández tritt mit gänzlich anderem Profil auf und ist ideologisch und politisch schwerer zu fassen. Direkte Fernsehduelle mit dem eloquenten und rhetorisch starken Petro lehnt Hernández bis zum Wahlgang am 19. Juni ab. Stattdessen verstärkt er seine Kampagne weiterhin in den sozialen Medien. Auf Tik-Tok folgen Hernández eine halbe Million v.a. junger Kolumbianer*innen. Auf Twitter kommunizierte er nun 20 Wahlkampfankündigungen, mit einer überraschenden Kehrtwende hinzu progressiven Forderungen mit erstaunlicher Ähnlichkeit zu Petros Wahlprogramm:  Er wollte den Friedensvertrag umsetzen, gegen den Neoliberalismus im Land vorgehen, eine umfassende Grundrente statt disperser sozialer Beihilfeprogramme anbieten, Fracking verbieten, das Abtreibungsrecht sowie die Rechte sexueller Minderheiten stärken. Vorwürfe des Machismus konterte er mit einem eilig auf Twitter verbreiteten 10-Punkte-Plan zur Förderung von mehr Geschlechtergerechtigkeit, für junge Menschen verspricht er in einem 6-Punkte-Plan besseren Zugang zu Universitäten und Bildungsprogrammen. So erweckt er den Eindruck, einerseits auch für einen sozialen Wandel zu stehen, anderseits aber der bessere Kandidat für diejenigen zu sein, die sich einen politischen Outsider wünschen und den linken Kandidaten Petro ablehnen.

Petro musste daraufhin kurzerhand seine Wahlkampfstrategie umstellen. Statt Fernsehduellen und medienwirksamen öffentlichen Wahlkampfauftritten vor seinen Anhänger*innen versucht er nun seine politische Erfahrung und Zuverlässigkeit in den Mittelpunkt seiner Auftritte zu stellen. Petro tritt auf als der seriöse, institutionell berechenbare, politisch gemäßigte und regierungserfahrene Kandidat. Gleichzeitig gibt er sich volksnah auch in den sozialen Medien, sei es bei einem Fußballspiel oder im Gespräch mit Taxifahrern und Arbeitern kleiner Kohleminen. Die Vizepräsidentschaftskandidatin zeigt sich gleichzeitig beim Finale der Fußballfrauenliga im Fußballstadium mit Fans auf Facebook und anderen.

Hernández gab politische Seriösität zumindest vor, indem er zur Überwindung politischer Polarisierung aufrief und anbot, unabhängig vom Ausgang der Wahlen in einem gemeinsamen „nationalen Pakt“ die im Wahlkampf geteilten politischen Vorschläge später umzusetzen.

Ist Hernández der kolumbianische Trump?

Der oft benutzte Vergleich von Hernández mit Politikern wie Donald Trump aus den USA, Jair Bolsonaro aus Brasilien oder Nayib Bukele aus El Salvador scheint schließlich nicht so recht zu passen. Hernández setzt zwar auf einen Wahlkampf über soziale Medien, schmückt sich mit dem Bild des erfolgreichen Unternehmers, wird von seinen Söhnen im Wahlkampf unterstützt. Er stellt sich als Vertreter für eine neue Politik jenseits traditioneller politischer Sektoren dar.  Trotz seiner polemischen Äußerungen – etwa als er in Anspielung auf den in Aussicht gestellten politischen Wandel das Zitat „Wahnsinn ist immer wieder das gleiche zu tun und andere Ergebnis erwarten“ zunächst Hitler zuschrieb und diesen dabei als „großen Denker“ bezeichnete, später aber sagte, eigentlich Albert Einstein gemeint zu haben - oder vulgärer Ausdrucksweise vertritt er keine rechtsextremen und ausländerfeindlichen Positionen. Er erklärt, die diplomatischen Beziehungen mit Venezuela wieder aufzunehmen und gibt sich als Unterstützer von LGBTI-Gruppen. Letztlich verkörpert Hernández einen pragmatischen, undogmatischen und unideologischen Provinzpolitiker ohne Parteizugehörigkeit mit starken populistischen Tendenzen und dem Hang zur Vereinfachung gesellschaftlicher Probleme und Lösungen.

Petros Strategie

Für Petro besteht die Herausforderung darin, den Rückstand von ca. 2,5 Millionen Stimmen auf das Hernández-Fico-Lager abzubauen und die Wähler*innen als verlässlichere Alternative für einen sozialen Wandel noch für sich zu gewinnen. Zunächst muss er die Menschen aber überzeugen, der bessere Kandidat für den von einer großen Mehrheit gewünschten politischen Wandel zu sein.  Für Petro bleibt wenig Zeit, Nichtwähler*innen zu mobilisieren oder Wähler*innen, die ihm in der ersten Runde nicht ihre Stimme gegeben hatten, noch zu überzeugen. Die verbleibenden Wochen bis zum zweiten Wahlgang am 19. Juni versprechen jedenfalls ein Herzschlagfinale, mit offenem Ausgang.