Somalia: Fortsetzung der politischen Transformation nach der Wiederwahl Hassan Sheikhs?

Interview

Somalias neuer Staatschef wird offiziell ins Amt eingeführt. Auf die neue Regierung warten enorme Herausforderungen. Neben der Sicherheitslage liegt die dringendste Aufgabe in der humanitären Lage: Somalia erlebt derzeit die schlimmste Dürre der vergangenen 40 Jahre.

Der alte Hafen von Mogadischu, Somalias Hauptstadt.
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Der alte Hafen von Mogadischu, Somalias Hauptstadt.

Interview mit Ulf Terlinden, Büroleiter, Hbs Horn von Afrika

Heute wird Hassan Sheikh Mohamoud in Mogadischu offiziell als neuer Präsident ins Amt eingeführt. Er hatte Somalia schon von Oktober 2012 bis Februar 2017 regiert. Seiner Wahl durch die beiden Parlamentskammern vorangegangen waren 15 Monate politischer Krise. Das Mandat seines Nachfolgers (und jetzt auch Vorgängers), Präsident Mohammed Abdullahi „Farmajo“, war schon im Februar 2021 abgelaufen. Im April 2021 hatte Farmajo versucht, seine Amtszeit vom somalischen Parlament um zwei Jahre verlängern zu lassen, traf jedoch auf Widerstand und musste dies schließlich rückgängig machen. Doch Farmajo versuchte weiterhin mit allen Mitteln, den im Mai 2021 vereinbarten Wahlprozess für Parlament und Senat zu beeinflussen und –wo nötig - zu behindern. Delegierte wurden bedroht oder bestochen, unliebsame Wahlgewinne mit fragwürdigen Verfahren annulliert, mitunter Hundertschaften Spezialkräfte zur Einschüchterung entsandt.

Auch die – zum Teil Farmajo-loyalen – Präsidenten der aktuell fünf föderalen Mitgliedsstaaten Somalias griffen massiv in die Auswahl der neuen Parlamentarier durch Klan-Delegierte auf regionaler Ebene ein. Erst im April 2022 machte schließlich der Abschluss des Auswahlprozesses für beide Parlamentskammern den Weg für die Präsidentschaftswahl am 15. Mai 2022 frei. Unter 35 Kandidaten und einer Kandidatin setzte sich Hassan Sheikh mit zwei Dritteln der Abgeordneten-Stimmen im dritten Wahlgang gegen Farmajo durch. Dieser erkannte die Wahl an und übergab die Amtsgeschäfte.

Kirsten Krampe: Wie hat Somalia es geschafft, die Krise der letzten 15 Monate zu überwinden und einen neuen Krieg um die Macht zu vermeiden?

Ulf Terlinden: Die Situation war zwischenzeitlich wirklich eskaliert und stand vor allem Ende April 2021 „Spitz auf Knopf“. Mogadischu erinnerte über Nacht wieder an die Situation des Bürgerkrieges, kontrolliert von verschiedenen Milizen und Fraktionen der Armee, parzelliert von „Checkpoints“. Kurze Gefechte kosteten etliche Menschenleben. Unmittelbar stabilisiert hat die Situation, dass sich die Streitkräfte rasch in Regierungs- und Oppositionslager entlang Klan-Linien spalteten und auch für den Präsidenten erkennbar war, dass er sich nicht ohne Weiteres hätte durchsetzen können. Und keine der beiden Seiten hatte ernsthaft Interesse an einer Rückkehr zum Bürgerkrieg. Massiver Druck aus der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft sowie Sanktionsandrohungen aus dem Ausland (das auch die Truppe der Afrikanischen Union finanziert) schafften Raum für Dialog.

Politisch war hierfür auch wichtig, dass zwei der drei ansonsten Farmajo-loyalen Regionalpräsidenten sich gegen die Mandatsverlängerung aussprachen und die Oppositionskandidaten in dieser Auseinandersetzung als eine gemeinsame Kraft auftraten. Nachdem das Parlament die Mandatsverlängerung zurückgenommen hatte, wurde mit viel Geduld eine Stärkung der ursprünglichen Vereinbarung vom September 2020 ausgehandelt. Premierminister Mohamed Hussein Roble wurde mit der Aufsicht über den Auswahlprozess für das neue Parlament betraut. Dieser nutzte die Chance, sich mit Rückendeckung nahezu aller Akteure (außer Farmajo) politisch zu beweisen. Zwar gab es auch immer wieder Rückschläge: Bis zuletzt wurde z.B. über die Auswahl der Abgeordneten in Garbaharey –Farmajos Klan-Region– gestritten, und gegen alle Regeln fanden mehr als ein Dutzend Farmajo-getreue Mitarbeiter der National Intelligence and Security Agency (NISA) ihren Weg ins Parlament. Doch so lange der Prozess weiterlief und der öffentliche Unmut über die Taktik des Präsidenten jeden Tag stieg, so lange übte sich die Opposition einschließlich der Regionalpräsidenten von Puntland und Jubaland in Zurückhaltung. Am Ende hatte ein friedlicher Verlauf mit Farmajos zunehmend gewissem Amtsende mehr Priorität, als das Tempo und z.T. die Fairness des Prozesses.

Wie schätzt Du die Bedeutung dieser Wahl für die politische Transformation Somalias ein?

Zunächst mal ist es gut, dass mit Farmajos Regierungszeit eine Phase dramatischer Rückschritte zu Ende geht. Mit plumpen nationalistischen und zentralistischen Tönen hat er nicht nur den Föderalismus als hart errungenes Leitbild des Friedensprozesses in Frage gestellt, sondern auch eindeutig autoritäre und autokratische Tendenzen gezeigt. Auch die Politisierung des Sicherheitsapparates im Zuge des Wahlprozesses und die Herausbildung von Spezialkräften mit direkter Loyalität gegenüber dem Präsidenten unterstreichen dies.

Zwar vermochte die Regierung mehr internationale Unterstützung – einschließlich erstmals Budgethilfe – zu mobilisieren, als jede Vorgängerregierung. Derweil herrschte bei der politischen Transformation des Landes fünf Jahre lang Stillstand. Die Fertigstellung der immer noch vorläufigen Verfassung lag auf Eis. Nichts wurde unternommen, um wie geplant 2021 allgemeine Wahlen abzuhalten, und das indirekte Wahlverfahren 2021/22 markiert einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem Ansatz von 2016/17, bei dem wenigstens 14.000 Delegierte beteiligt waren. Der politische Dialog und die Kooperation mit den föderalen Mitgliedstaaten waren weitgehend ausgesetzt, und die Ausgestaltung des föderalen Systems – aus praktischer Governance-Perspektive wohl die dringendste Aufgabe nach der Konstituierung der Mitgliedstaaten bis Ende 2016 – kam nicht voran.

Derweil hat die Terrormiliz Al Shabaab in den vergangenen fünf Jahren stetig an Einfluss gewonnen. Die Gruppe hat nicht nur zusätzliches Gelände übernommen, sondern vor allem auch ihren Einfluss als „Schattenregime“ bis tief in die regierungskontrollierten Gebiete hinein ausgebaut. Al Shabaab unterhält ein paralleles Justizsystem, das zum Teil deutlich wirkungsmächtiger ist, als der von Korruption zerfressene Staatsapparat. Und unter Gewaltandrohung erhebt die Miliz mitten in der Hauptstadt Einkommens- und Umsatzsteuern. Vor einigen Monaten schlossen Händler am zentralen Bakara-Markt aus Protest ihre Läden, weil sie unter der Dreifachbesteuerung von Regierung, Al Shabaab und sogar ISIS nicht mehr handeln konnten. Zudem wird berichtet, dass Präsident Farmajo mindestens toleriert hat, dass der Sicherheitsapparat von Al Shabaab durchsetzt wurde.

Die Bedeutung der Wahl und ihres Ergebnisses für die politische Transformation des Landes ist also hoch, weil Somalia nun seinen – zähen aber stetigen – Reformprozess wiederaufnehmen könnte. Die unmittelbaren Gefahren eines neuen Konfliktes um die Kontrolle des Staatsapparates und  – wie von vielen befürchtet – gar eine Implosion der Institutionen sind abgewendet worden. Vielleicht die beste Nachricht in Richtung Transformation: Der relativ geduldige Prozess der vergangenen 15 Monate bis hin zur friedlichen Machtübergabe sind letztlich auch Ausdruck einer – trotz aller Defizite und Unzufriedenheiten – breiten Unterstützung unter somalischen Eliten für die tragenden Säulen des politischen Wiederaufbaus seit 2002: 1. Föderales System, 2. Machtteilung entlang Klan-Linien, und 3. periodische Mandatserneuerungen durch Wahlen (unterschiedlichster Güte). Ein bestandener Stresstest also.

Was kann man von Hassan Sheikh Mohamoud erwarten?

Hassan Sheikh kommt ursprünglich aus der somalischen Zivilgesellschaft. Er war in den Versöhnungsprozessen und in der Friedenskonsolidierung stark engagiert, erlebte den Bürgerkrieg und den äthiopischen Einmarsch in Mogadischu unmittelbar. Seine öffentlichen Äußerungen und sein Wahlprogramm betonen die Bedeutung von Vertrauensbildung, Dialog und Ausgleich. Somit bringt er qua Lebenslauf und Persönlichkeit eine gute Grundlage für das Amt unter den gegenwärtigen Herausforderungen mit.

Er ist zwar zweifelsohne an einer weiteren Stärkung der Bundesregierung in Mogadischu interessiert, erkennt aber die Rolle der föderalen Mitgliedsstaaten und die Bedeutung des föderalen Systems für ein Gelingen des politischen Wiederaufbaus nachdrücklich an. In einem Artikel von Ende April sagte er: „Der neue Präsident muss verstehen, dass er Teil eines ausgeklügelten und komplexen Orchesters ist, das im nationalen Interesse zusammenarbeiten muss.“ Auch die starke politische Unterstützung, die er insbesondere aus Puntland und Jubaland erfuhr, dürfte zu einer Regierungspraxis beitragen, die das riesige Land Somalia nicht allein aus der Hauptstadt heraus begreift und lenkt. Hassan Sheikhs Auftaktreise nach Baidoa und Dusamareeb, noch vor der offiziellen Amtseinführung, setzte hier bereits ein deutliches Zeichen. Auch gegenüber der international nicht anerkannten Republik Somaliland ist eher mit versöhnlichen Tönen, vielleicht sogar mit einer Wiederaufnahme des Dialogs zu rechnen.

Man darf zudem davon ausgehen, dass es einen Unterschied macht, dass zum ersten Mal ein Präsident wiedergewählt wurde. Er bringt die Erfahrung und das institutionelle Gedächtnis seiner ersten Amtszeit mit, was im Kontext des fragilen und dünnen Staatsapparates Somalias besonders wichtig ist. Hoffentlich wird dem Land das übliche „Tabularasa“ erspart, mit dem bislang üblicherweise das erste Jahr jeder Amtszeit vergeudet wurde. Insbesondere die internationalen Partner Somalias sollten einen Präsidenten erwarten, der aus der Erfahrung schöpfend und selbstbewusst agiert.

Als größtes Manko seiner ersten Regierung in Erinnerung geblieben sind die hartnäckigen Berichte über Korruption und Diebstahl aus öffentlichen Kassen. Hier steht er unter besonderer Beobachtung. Schon die Postenvergabe der ersten Monate und seine öffentliche Kommunikation werden zeigen, ob er dies im zweiten Anlauf überwinden kann. Angesichts der zwischen seinen beiden Amtszeiten eingeführten Budgethilfe und wegen der anstehenden Verhandlungen mit dem IWF ist dies wohl mehr als eine Imagefrage.

Was sind die zentralen Herausforderungen für Somalia und die neue Regierung in den nächsten Jahren?

Die dringendste Aufgabe der neuen Regierung liegt aktuell in der humanitären Lage: Somalia erlebt nach drei ausgefallenen Regenzeiten derzeit die schlimmste Dürre der letzten 40 Jahre. Nach den Jahren der Covid-Pandemie hatten viele Familien ihre Reserven längst ausgeschöpft. Die explodierenden Lebensmittelpreise durch den Ukrainekrieg treffen das Land nun besonders hart – Somalia importierte bislang 92 Prozent seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Seit Monaten schlagen die Hilfswerke Alarm. Schon im März sagte der humanitäre Koordinator der VN für Somalia, 1,4 Millionen Kinder seien schwer unterernährt, und ohne eine großangelegte Hilfsaktion sei damit zu rechnen, dass 350.000 von ihnen den Sommer nicht überleben würden. Hassan Sheikh hat unmittelbar nach der Wahl einen seiner ehemaligen Mitbewerber zum Sonderbeauftragten für die Krise ernannt.

Die zentralen Herausforderungen für die neue Regierung sind von jenen zum Ende seiner letzten Amtszeit vor fünf Jahren kaum zu unterscheiden. An erster Stelle steht die Sicherheitslage. Als allererstes wird der neue Präsident den Sicherheitssektor neu aufstellen und Führungskräfte entfernen müssen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zu Al Shabaab zu unterhalten. Bereits angekündigt hat der Präsident eine größere militärische Offensive. Hierzu passt, dass die US-Regierung unmittelbar nach Hassan Sheikhs Wahlsieg ankündigte, 500 der von Trump abgezogenen 700 US-Truppen zurück ins Land zu verlegen. Das relativ kleine Kontingent gilt als wichtiges, befähigendes Element für die ATMIS-Truppe der Afrikanischen Union (AU) und beide zusammen für die somalischen Streitkräfte. Aus der Politik seiner ersten Amtszeit und verschiedenen Verlautbarungen ist zugleich erkennbar, dass Hassan Sheikh auch auf Ausstiegsangebote an Al Shabaab-Mitglieder setzen wird. Mit einer politischen Einbindung ehemaliger Anführer der Miliz ist zu rechnen, und selbst ein Dialog mit Al Shabaab wird in somalischen Kreisen – unter den richtigen Rahmenbedingungen – immer weniger ausgeschlossen. Überfällig und besonders von Europa und den USA gefordert ist die Entwicklung eines tragfähigen Prozesses, durch den die somalischen Streitkräfte schrittweise die Kontrolle von der AU-Truppe übernehmen könnten. Der offiziell avisierte Übergang Ende 2024 ist zwar kaum einhaltbar, aber mit einem klaren Konzept für den zukünftigen Sicherheitssektor – eingebettet in einen starken Föderalismus – könnte in drei Jahren zumindest eine neue Aufgabenteilung festgelegt werden.

Um mit Al Shabaab nicht nur militärisch, sondern auch als Anbieter von staatlichen Dienstleistungen konkurrieren zu können, muss vor allem die politische Leistungsfähigkeit und das institutionelle Gefüge des Staates fortentwickelt werden. Hassan Sheikh hat bereits angekündigt, die Fertigstellung der Verfassung im Rahmen einer breiten politischen Einigung aushandeln zu wollen. Kernpunkte dürften dabei die Vertiefung des föderalen Systems und die Entwicklung eines tragfähigen Systems der politischen Willensbildung (Parteien, Wahlen) sein. Die ersten Signale machen Hoffnung, dass dieser Prozess diesmal pragmatisch von somalischer Seite geführt und nicht in endlose UN-Projekte delegiert wird, die mangels politischer Akzeptanz wieder ergebnislos enden.

Ein dritter großer Aufgabenbereich liegt sicher im Bereich der Wirtschaft. Nach dem nun endlich erfolgten Abschluss des Wahlprozesses dürfte der IWF positiver auf die Erneuerung des Budgethilfeprogramms blicken, in dessen Rahmen Somalia knapp 400 Millionen US Dollar innerhalb von drei Jahren erhält. Von seiner Fortsetzung hängt auch ab, ob und wann die Verhandlungen über den überfälligen Schuldenerlass (von fünf Milliarden auf 500 Millionen US Dollar) abgeschlossen werden können.

Was bedeutet der Regierungswechsel für die Region?

Das Ende der trilateralen Vereinbarungen zwischen Eritrea, Äthiopien und Somalia zeichnete sich ja schon ab, seit die politische Allianz zwischen Premierminister Abiy Ahmed (Äthiopien) und Diktator Issayas Afewerki (Eritrea) am Jahresanfang zu bröckeln begann. Auch Präsident Hassan Sheikh wird im Unterschied zu Farmajo sicherlich auf Distanz zum regionalen Unruhestifter Eritrea gehen, mit dem großen Nachbarn Äthiopien jedoch pragmatisch und kooperativ verkehren. Die angekündigte Teilnahme Abiys an der Amtseinführung in Mogadischu ist ein gutes Zeichen für die bilateralen Beziehungen.

Der Streit um den Verlauf der Seegrenze zwischen Somalia und Kenia ist zwar nach wie vor ungelöst, aber Hassan Sheikh hat keinen Grund, die aggressive Haltung Farmajos gegenüber dem wichtigen Nachbarland Kenia fortzusetzen. Farmajo hatte Kenia als Unterstützer seiner innenpolitischen Gegner identifiziert und unter anderem gedroht, das kenianische AU-Truppenkontingent des Landes zu verweisen.

Besonders in die Reparatur der Beziehungen Somalias in die Golfregion wird der neue Präsident Arbeit investieren müssen. Begünstigt wird dies jedoch durch die Normalisierung der Beziehungen innerhalb des Golf-Kooperationsrates (GCC) seit Anfang 2021. Insbesondere die Fehde zwischen Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten hatte ab 2017 dazu geführt, dass die beiden Golfstaaten rivalisierende politische Lager in Somalia unterstützten.

Was sollten Deutschland und die EU in der Kooperation mit Somalia jetzt beachten?

Die erste Wiederwahl eines Präsidenten in Somalia sollte zum Anlass genommen werden, der neuen Regierung den erforderlichen Raum zu geben, zunächst ihre eigene Agenda zu setzen. Die erste Regierung von Hassan Sheikh hatte mit der „Vision 2016“, dem „Wadajir Framework“ und anderen Kerndokumenten im Laufe ihrer Amtszeit tragfähige, eigene Konzepte entwickelt, an die jetzt angeknüpft werden kann, statt die Regierung mit Horden ausländischer Berater/innen zu überfordern und das Rad („roadmaps“) stets neu zu erfinden.

Wichtig ist vielmehr, dass externe Unterstützung sich an gemeinsamen Zielvereinbarungen orientiert, die auf einer ehrlichen politischen Rahmensetzung und realistischen Zielen beruhen. „Don’t let the perfect be the enemy of the good“ bedeutet einerseits: Erfolge auch dann als solche anzuerkennen, wenn sie nicht gleich im ersten Schritt alle sogenannten „internationalen Standards“ erfüllen. Es heißt aber auch, ein Schönreden der Verhältnisse vermeiden – gerade auch, um sich vor „Überraschungen“ wie der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zu schützen.

Konkret illustrieren lässt sich dies am Beispiel des Demokratisierungsprozesses. Bereits zwei Mal – 2016 und 2021 – ist die vom UN-Sicherheitsrat und diversen UN-Organisationen propagierte Abhaltung allgemeiner Wahlen binnen einer Amtszeit krachend gescheitert. Jede/r ernstzunehmende Expert/in hätte zu Beginn der jeweiligen vier Jahre erkennen können, dass diese Vorgabe von vorneherein unrealistisch war, wenn die Regierung weite Teile des Landes nicht einmal kontrolliert und der politische Teil der Verfassung eine klaffende Lücke ist. Statt nun mit den somalischen Partnern abermals alles auf diese kaum erreichbare Zielmarke zu orientieren, müsste die Diskussion umgedreht werden: Was ist realistisch in den nächsten vier Jahren erreichbar in Richtung Demokratisierung, welche Erfolge würden guten und messbaren Fortschritt markieren? Schon zum Beispiel die subsidiäre Entwicklung von Wahlorganen in allen Mitgliedsstaaten und –wo möglich– sukzessive Kommunalwahlen wären etwa eine radikale Veränderung gegenüber dem Status Quo. Puntland, der nördlichste Mitgliedsstaat Somalias, hat letzteres 2021 sogar in drei Distrikten schon getestet. Großflächig wäre ein solcher Ansatz aber nur denk- und machbar, wenn man gemeinsam den politischen Mut entwickelt, solche Zwischenschritte als „gut genug“ für eine Laufzeit von vier Jahren zu deklarieren und dann systematisch darauf hinzuarbeiten.

Ein somalisches Sprichwort sagt, dass eine Wunde immer vom Rand und nie von der Mitte her heilt. Das spricht für schrittweise Lösungen, die stark aus den Regionalstaaten heraus entwickelt werden, statt landesweiten Master-Plänen, die an den diversen Realitäten in den Regionen und den Kapazitäten in der Hauptstadt scheitern.