Bedeutet das Supreme Court-Urteil das Aus für Bidens Klimaschutz-Ambitionen?

Analyse

Mit 6:3 Richter*innen-Stimmen hat das konservativ dominierte Verfassungsgericht in einem vielbeachteten neuen Grundsatzurteil die Kompetenzen der US-Umweltbehörde EPA stark eingeschränkt. Der Supreme Court entzieht ihr die Berechtigung, weitreichende Vorgaben zur Emissionsreduzierung zu erlassen. Die Entscheidung im Fall West Virginia vs. EPA bremst die Klimaschutz-Ambitionen der Biden-Regierung zuhause brutal aus und beschädigt zugleich auf gefährliche Weise die Glaubwürdigkeit amerikanischer Klimaschutz-Zusagen im internationalen Klimaprozess in einer kritischen Phase.

Ein Schild wird bei einem Protest in die Luft gehalten
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Protest vor dem Supreme Court in Washington.

Wie weitreichend ist das Urteil? 

Zwar schränkt das Urteil nicht grundsätzlich die Möglichkeit ein, dass CO2-Emissionen  begrenzt werden können, um den Stromsektor zu dekarbonisieren. Jedoch spricht es der EPA die Befugnis ab, entsprechend weitreichende Verordnungen zu setzen, die für alle Kraftwerke landesweit gelten und bestimmte Technologien verbieten. Dieses Recht habe lediglich der US-Kongress als repräsentative, gesetzgebende Institution, so die konservative Mehrheit unter dem Obersten Richter John Roberts. In ihrem Urteil berufen sich die konservativen Richter*innen auf eine neue Doktrin, nach der Regierungsbehörden bei Fragestellungen von großer politischer und wirtschaftlicher Bedeutung erst die explizite Anweisung des US-Kongresses bräuchten, bevor sie im Einvernehmen mit ihrem ursprünglichen Auftrag handeln können.

Die demokratische Minderheit unter Verfassungsrichterin Elana Kagan hielt in ihrem Dissent dagegen, dass der US-Kongress die EPA im Clean Air Act von 1970 befugt habe, als Expert*innen-Gremium das beste System zur Emissionsreduzierung zu wählen, auch vor dem Hintergrund neuer Technologien und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Mit dem Urteil schwinge sich der Supreme Court zum Entscheidungsträger für US-Klimapolitik auf, anstatt auf die notwendige Umwelt-Expertise der Fachagentur zu setzen. “Ich kann mir nicht viel vorstellen, was beängstigender wäre", schrieb Kagan. Nach Einschätzung von Umweltrechtler*innen untergräbt das Urteil damit einejahrzehntelange US-Praxis im Umweltschutz. Demnach waren Maßnahmen zur Luft- und Wasserreinhaltung zum Schutz des Allgemeinwohls gemeinhin anerkannt und konnten auch in Zeiten zunehmender Polarisierung im US-Kongress und fehlender klarer Mehrheiten für mehr Klimaschutz aufrechterhalten werden.

Viele Beobachter*innen und das Weiße Haus selbst waren überrascht, dass das US-Verfassungsgericht den Fall überhaupt annahm. Denn die Beschwerde des Generalstaatsanwalts von West Virginia wurde ursprünglich gegen den Clean Power Plan von Präsident Obama eingereicht. Dieser war das Herzstück seiner Klimastrategie und sollte amerikanische Kraftwerke durch strikte Regulierung von Treibhausemissionen zur Abkehr von Kohle zwingen. Allerdings wurde der Plan unter dessen Nachfolger Donald Trump völlig ausgehöhlt und trat so nie in Kraft. Auch die Biden-Regierung hat bislang keine Nachfolgeregelung vorgelegt. Trotz fehlender gesetzlicher Lenkwirkung wurde Kohleverstromung in den USA jedoch über die letzten Jahren durch wesentlich günstigere Gaspreise aus dem Markt verdrängt.

Dass der republikanisch dominierte Supreme Court die Beschwerde zu einer rein hypothetischen Verwaltungsverordnung ohne gegenwärtige Wirkungskraft trotzdem als Fall beurteilt hat, muss also als ein aktivistischer und parteipolitischer Präventivschlag des Höchsten Gerichtshofs verstanden werden. Das Urteil könnte insbesondere eine abschreckende Wirkung auf weitere Bemühungen der US-Regierung für umfassende Umweltregulierung haben. Zum Beispiel für bessere Luft- und Wasserqualität, und im Klimaschutz ganz konkret bei der Regulierung des Schadstoffausstoßes von Kraftfahrzeugen. Die konkreten Effekte dieser eingeschränkten Handlungskompetenzen sind aktuell noch schwer abschätzbar, jedoch könnten sie weitreichende Folgen haben. In der New York Times beschreibt Charlie Savage das Urteil als eine grundlegende Infragestellung vom Verständnis, Wirtschaft zum Wohle der Allgemeinheit zu regulieren.

Darüber hinaus muss die Entscheidung im langjährigen Bemühen konservativer Kräfte in den USA gesehen werden, die Regulierungsfähigkeit von Bundesbehörden - auch im Gesundheits- und Bildungswesen -  fundamental einzuschränken. Sie folgte nur eine Woche nach der Aufhebung des Verfassungsrechts auf Abtreibung. Durch die Berufung von mehr als 200 Bundes- und drei Verfassungsrichter*innen hat die Trump-Regierung gezielt eine konservative Mehrheit in der Judikative etabliert, die moderne Reformprozesse in den USA über lange Zeit stören wird.

Ist ambitionierte Klimapolitik noch möglich?

Zwar ist die Entscheidung zweifelsohne ein großer Rückschlag im Bemühen, Treibhausgasemissionen bei der Stromerzeugung zu reduzieren. Denn immerhin machen sie rund 25 Prozent der Emissionen aus und Biden hatte angekündigt, den Stromsektor bis 2035 zu dekarbonisieren. Allerdings hätte das Urteil durchaus auch noch schlimmer ausfallen können. Denn nach jetzigem Stand hat die EPA weiterhin die grundsätzliche Befugnis, Emissionen von Kraftwerken und Fahrzeugen zu regulieren und darf dabei auch verlangen, dass die bestmögliche Technologie eingesetzt wird. Derzeit plant sie zum Beispiel striktere Begrenzungen für Schadstoffe wie Methan und Quecksilber sowie höhere Emissionsstandards für Fahrzeuge. Und unabhängig von der jüngsten Rechtsprechung lässt die US-Wirtschaft ganz von alleine immer öfter die Finger von Kohle, deren Produktion in den USA zwischen 2015 und 2021 um 35 Prozent gesunken ist. Laut der Anti-Kohle Kampagne der Umweltschutzorganisation Sierra Club wurden zwischenzeitlich 357 Kohlekraftwerke abgeschaltet, die schlicht nicht mehr mit der günstigeren Stromproduktion durch Wind und Solar konkurrieren können. Der Anteil von Kohle bei der US-Stromerzeugung in den verbliebenen 173 Kraftwerken liegt jetzt bei knapp 22 Prozent –  und damit ironischerweise deutlich niedriger als die von Obamas Clean Power Plan formulierte Zielsetzung von 27 Prozent bis 2030.

Die zähen Verhandlungen zum ‘Build Back Better’-Gesetz haben gezeigt, dass es im Kongress keine politischen Mehrheiten für eine weitreichende Klimapolitik gibt. Da der Weg über die parlamentarische Gesetzgebung größtenteils gescheitert ist, könnte Präsident Biden nun auf Erlasse (executive orders) zurückgreifen, um zumindest einen Teil seiner Klima-Agenda umzusetzen. Allerdings ist deren Handlungsspielraum begrenzt und ihr Bestand durch einen Präsidentenwechsel stets gefährdet. Darüber hinaus können jedoch auch Bundesstaaten und Städte eine treibende Rolle beim Klimaschutz spielen. Mittlerweile haben 24 Bundesstaaten Klimaziele verabschiedet. Kalifornien und Massachusetts haben sogar ein Emissionshandelssystem eingeführt.

Allerdings müssen noch weitere mögliche Urteile durch den Supreme Court mit großer Besorgnis beobachtet werden, die zu einer weiteren Aushöhlung der Klima- und Umweltpolitik führen könnten. So ist derzeit noch ein Verfahren beim Supreme Court anhängig, welches  das für Kalifornien eingeräumte Sonderrecht in Frage stellt, im Vergleich zu nationalen Vorgaben höhere Emissionsstandards für Fahrzeuge vorzuschreiben. Dadurch konnte der wirtschaftsstarke Bundesstaat seit vielen Jahren kontinuierliche Emissionsreduzierungen erzielen und zudem ein wichtiges Signal an die Autoindustrie senden. Außerdem haben sich mittlerweile 17 weitere Bundesstaaten den Vorgaben aus Kalifornien angeschlossen. Sollte der Supreme Court nun auch noch dieses Vorreiter-Modell außer Kraft setzen, wäre das ein klimapolitisches Desaster für den Verkehrssektor, der für 27 Prozent der US-Emissionen verantwortlich ist.

Weitere Klageschriften sind derzeit noch vor Bundesgerichten anhängig, könnten aber auch vor den Verfassungsrichter*innen landen. Insgesamt 14 Bundesstaaten haben die Biden-Regierung verklagt, weil diese nach ihrem Amtsantritt weitere Öl- und Gasbohrungen auf Bundesgebiet zunächst untersagt hatte. Zwar hat die Regierung im Juni nun doch neue Lizenzen für solche Bohrungen zur Auktion freigegeben, vor allem auch angesichts steigender Energiepreise. Allerdings in deutlich reduziertem Umfang  – und mit bislang geringem Interesse der Industrie. Gegen die jüngste, eingeschränkte Lizenzvergabe der Biden-Regierung haben ihrerseits nun auch Umweltschutzgruppen Klage erhoben.

Sollte das Verfassungsgericht auch gegen solche grundsätzlichen Bohrverbote votieren, wird selbst ein mittelfristiger Ausstieg aus fossilen Energieträgern unmöglich und die USA verlieren jede klimapolitische Glaubwürdigkeit.

Rolle in der Internationalen Klimadiplomatie demontiert?

Auch auf dem internationalen Klimaparkett ist das Urteil ein weiterer herber Rückschlag für Präsident Biden. Zu seinem Amtsbeginn im Januar 2021 hatte er die USA nach den Trump-Jahren in das Pariser Klimaabkommen zurückgeführt. Biden hatte der Weltgemeinschaft  gegenüber mit der nationalen Beitragsverpflichtung (NDC) unter der Klimarahmenkonvention zugesagt, dass die Vereinigten Staaten, als historisch größter Emittent von Treibhausgasen, amerikanische Emissionen bis 2030 gegenüber 2005 halbieren würden. Auch wenn die EPA durch die Entscheidung des US-Verfassungsgerichts nicht völlig handlungsunfähig geworden ist, so ist es nach Ansicht von zahlreichen Expert*innen bald rein rechnerisch unmöglich, dieses Ziel noch zu erreichen. Das Vertrauen in die Erfüllung dieses Versprechens, und damit die Glaubwürdigkeit amerikanischer Klimaverhandlungszusagen, war auch ohne das EPA-Urteil bereits recht gering.

Die Entscheidung des US-Verfassungsgerichts demontiert den Ansatz der Biden-Regierung vollkommen, in der globalen Klimadiplomatie, insbesondere im Vorfeld des COP-27 Klimagipfels in Ägypten im November, eine Führungsrolle einnehmen zu wollen in dem Bemühen, wichtige Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien und auch weitere Entwicklungsländer von einer Ausweitung bereits gemachter Klimaschutz-Zusagen durch eine Aktualisierung ihrer NDCs zu überzeugen. Zumal es der Biden-Administration auch bereits vor dem Urteil mit ihrer hauchdünnen Kongress-Mehrheit unmöglich war, eine deutliche Erhöhung amerikanischer Klimafinanzierungsbeiträge zur Unterstützung der Klima-Maßnahmen in Entwicklungsländern gegenüber den Trump-Jahren durchzusetzen, zum Beispiel durch die lange verzögerte Begleichung der Schulden beim Grünen Klimafonds (GCF), die noch auf die Obama-Administration zurückzuführen sind. Präsident Biden hatte in diesem Zusammenhang versprochen, ab 2024 jährlich 11.4 Milliarden US Dollar bereitzustellen. Im amerikanischen Budget für 2022 waren es stattdessen gerade einmal 1 Milliarde US Dollar.

Politisierung statt Handeln im globalen Interesse?

Der Supreme Court hat mit seinem jüngsten Urteil Umwelt- und Klimapolitik weiter politisiert. Und damit das lange geltende  und weithin akzeptierte Verständnis von strikt wissenschaftsbasierter Regulierung durch Behörden mit hoher Fachexpertise unterminiert. Anstatt seiner Rolle als verfassungswahrende Institution gerecht zu werden, schafft der Oberste Gerichtshof damit faktisch Rechtsunsicherheit. Sollte er diese Entwicklung durch weitere Urteile in diesem Geiste weitertreiben, gefährdet er nicht nur die konsequente Umsetzung von Klimaschutz-Maßnahmen auf allen Regierungsebenen zur Erfüllung der Zielsetzungen im Pariser Abkommen, sondern grundsätzlich die politische Handlungsfähigkeit der US-Regierung in diesen Politikfeldern.