Ukraine: Ohne Waffen kein Überleben

Interview

„Ein Waffenstillstand ohne unsere Kontrolle über unser Land bedeutet, dass mein Sohn diesen Krieg erbt.“ Inna Sovsun und Yehor Cherniev, Abgeordnete aus der Verkhovna Rada, verlangen im Interview, nicht länger zu verdrängen, worum es beim Krieg in der Ukraine geht. Das Gespräch führte Robert Sperfeld.

Illustration einer Endzeit-Landschaft

Robert Sperfeld: Was macht die anhaltende brutale Aggression Russlands gegen die Ukraine mit den Menschen und der Gesellschaft in der Ukraine? Was gibt ihnen Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft?

Inna Sovsun: Wir durchleben in der Ukraine jeden Tag die Hölle dieses Krieges. Seit dem 24. Februar sind z.B. Wochentage praktisch egal. Wir checken praktisch jede halbe Stunde die Nachrichten. Die Konstante ist, dass wieder irgendwo in einer Stadt eine Bombe eingeschlagen ist. Der Krieg ist einfach schrecklich an jedem einzelnen Tag. Gerade heute habe ich wieder Bilder aus meiner Heimatstadt Charkiv gesehen, wo wieder eine Frau getötet wurde. Es ist herzzerreißend. Mittlerweile wird man schon fast misstrauisch, wenn mal, wie vor ein paar Tagen, eine Weile kein Luftalarm in Kyjiw war. Aber für die Menschen im Osten des Landes ist es ein Albtraum.

Wir müssen dankbar sein für jeden einzelnen Tag, an dem unsere Armee uns verteidigt und unsere Leben rettet, obwohl die Russen eine große Übermacht an Waffen haben. Aber es gibt natürlich Hoffnung, dass unsere Armee es dennoch schafft, die Russen aus dem Norden des Landes weitgehend zu vertreiben. Unsere Kämpfenden sind sehr motiviert, sie wissen wofür sie kämpfen. Wir sind dabei aber auch angewiesen auf die Unterstützung der Menschen in der ganzen Welt, die von ihren Regierungen die Unterstützung der Ukraine einfordern – das gibt uns auch Hoffnung.

Was würden Sie sagen, welche Faktoren werden diesen Krieg früher oder später entscheiden?

Yehor Cherniev: Die entscheidende Frage sind die Waffenlieferungen aus dem Westen. Aber natürlich geht es hier nicht um die Masse. Es ist klar, dass wir niemals so ein großes Arsenal haben werden wie Russland. Darum geht es auch nicht. Entscheidend ist die Qualität und die Präzision. Der Verlauf der aktuellen Kämpfe stützt genau diese Einschätzung. Mit den High Mobility Artillery Rocket Systems (Raketenwerfern] können wir Ziele in bis zu 80 km Entfernung präzise treffen und russische Waffendepots in den besetzten Gebieten effektiv zerstören. Aber wir haben noch zu wenige davon und können damit den Gegner nur punktuell an der langen Frontlinie aufhalten. Hier geht es also auch um Schnelligkeit unserer westlichen Partner bei der Lieferung. Dann können wir die Machtbalance zu unseren Gunsten wenden.

Inna Sovsun und Yehor Cherniev stehen vor der Heinrich-Böll-Stiftung
Inna Sovsun und Yehor Cherniev.

Die Frage der Waffenlieferungen scheint in der Tat am Dringlichsten. Dennoch haben sich die internationalen Partner bereits zu einem Wiederaufbau-Gipfel in Lugano getroffen. Scheint das nicht etwas verfrüht, solange noch jeden Tag die Zerstörungen weitergehen?

Inna Sovsun: Wir müssen natürlich auch schon über die Zukunft der Ukraine sprechen. Das ist entscheidend für die im Land verbliebenen Menschen und diejenigen, die an der Front kämpfen. Es braucht eine Vision für die Zukunft, für die wir kämpfen. Und genau darum geht es, wenn wir über Wiederaufbau sprechen. Gleichzeitig müssen wir auch sehr realistisch bleiben. Wir kennen noch nicht den Ausgangspunkt für den Wiederaufbau nach dem Sieg, wissen noch nicht, wie viel Zerstörung noch vor uns liegt. Deshalb bleibt der entscheidende Punkt zunächst, wie wir militärisch siegen können. Sonst macht alles andere keinen Sinn, auch wenn es verlockend ist, über den Wiederaufbau zu sprechen. Da sind dann auch viele internationale Partner dabei, die uns aber mit den Kriegshandlungen allein lassen. So funktioniert es nicht. Erstmal müssen wir gewinnen!

Yehor Cherniev: Inna hat Recht. Ich möchte aber ergänzen, dass wir auch jetzt schon die befreiten Gebiete im Norden mit zum Großteil zerstörter kritischer Infrastruktur wie Elektrizität etc. haben. Hier brauchen wir den Wiederaufbau praktisch sofort, davon hängt dort alles ab.

Die Ukraine hat nach Schätzungen 35-50% ihres BIP eingebüßt. Da brauchen wir einen schnellen Neustart in den zuvor besetzten Gebieten. Allerdings kann es kein Zurück zum ressourcenbasierten Modell geben. Es braucht eine neue Wirtschaftsstruktur, die auch mehr auf Wertschöpfung im Land ausgelegt ist, etwa im Bereich der Landwirtschaft.

Wenn wir doch noch einmal auf die eigentlichen Kriegshandlungen schauen: Was würden Sie denjenigen deutschen Intellektuellen sagen, die die westliche Politik auffordern, jetzt „beide Seiten“ in Waffenstillstandsverhandlungen zu drängen?

Inna Sovsun: Oh, ich habe ihnen viel zu sagen. Zunächst möchte ich sagen, einer dieser Intellektuellen war bis dahin quasi mein Lieblingsphilosoph, und ich bin sehr enttäuscht, dass Habermas nun diese Position einnimmt. Ich denke, er und die anderen, sie scheinen in der alten Welt des Kalten Krieges weiter zu leben und nicht verstanden zu haben, dass die Situation heute eine andere ist. Die Ukraine ist eine unabhängige Nation, und sie hat Jahrhunderte dafür gekämpft. Wir haben ein Recht auf unser Territorium und unsere Souveränität. Schließlich wollen wir alle in einer regelbasierten Welt leben. Und in einer solchen sollte es im Falle dieses Krieges möglich sein, Täter und Opfer klar zu benennen. Jetzt nach Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zu rufen ist, als wenn man die Familie eines Vergewaltigungsopfers auffordert, mit dem Vergewaltiger zu sprechen, während dieser das Opfer weiterhin vergewaltigt. So fühlt sich dieser Aufruf der Intellektuellen an. Niemand hat das Recht, von uns Gespräche mit diesen Russen zu verlangen, solange sie unsere Bürger töten und unser Land zerstören. Wie können wir mit Menschen sprechen, für die Vergewaltigung von Kindern ein Mittel der Kriegführung ist?

Sie haben im Donbas schon acht Jahre lang Menschen gefoltert. Da hatte die Welt sich entschieden, wegzuschauen. Für billiges Erdgas ist man darüber hinweg gegangen.

Mit diesem Russland jetzt zu sprechen stünde entgegen dem, wofür dieses Europa aufgebaut wurde. Es würde bedeuten, dass die Verletzung der Souveränität eines Nachbarn als Mittel akzeptiert wird. Andere Länder können Gleiches tun, und es wird keine Konsequenzen haben. Moralisch und strategisch muss man diese Idee ablehnen.

Wir müssen diesen Krieg stoppen. Dafür brauchen wir nicht irgendeinen Waffenstillstand, kein „Minsk 3“ oder so etwas. Ein Waffenstillstand ohne unsere Kontrolle über unser Land bedeutet, dass mein Sohn diesen Krieg erbt. Putin wird zurückkommen, oder welche andere verrückte Person auch immer dieses verrückte Russland regieren wird. Und dann wird mein Sohn kämpfen müssen. Ich halte es nicht mehr länger aus, dass er mich beim Schlafengehen fragt, ob die Russen kommen werden, um ihn zu töten. Wer Gespräche mit Russland vorschlägt, möge sich bitte eine solche Situation mit seinem Kind vorstellen und dann nochmal über seinen Vorschlag nachdenken.

Yehor Cherniev: Ich komme aus Berdyansk, einer derzeit besetzten Region, und ich habe noch Verwandte dort. Es ist für mich unvorstellbar zu sagen, hier stoppen wir, dieses Gebiet wird Russisch. Das ist lächerlich, es ist unser Volk. Es wäre Verrat. Umso mehr, weil wir wissen was Russland mit seinen eigenen Bürger/innen macht; es ist eine riesige Folterkammer. Warum sollten wir unser Volk aufgeben?

Lassen Sie uns zu den politischen Perspektiven kommen. Die Ukraine ist offiziell zum EU-Beitrittskandidaten geworden. Jenseits der Symbolik dieses Schrittes – was erwarten Sie sich von dem Status und von konkreten Schritten in den kommenden Monaten und Jahren?

Inna Sovsun: Zunächst, unterschätzen Sie bitte nicht die symbolische Bedeutung dieses Schrittes. Das ist auch wichtig für die Menschen, die an der Front kämpfen, es ist Anerkennung für ihre Aufopferung. Es zeigt, dass sie auch für Europa kämpfen und dass es eine Perspektive für sie als Ukrainer/innen in Europa gibt. Wir haben die EU-Orientierung zwar ohnehin in der Verfassung verankert, aber nun wird es auch von der EU-Seite anerkannt. Das ist wichtig. Auf der anderen Seite bedeutet der Status ganz klar auch einen geopolitischen Verlust für Russland. Putin hat nun versucht, es etwas herunterzuspielen, es sei keine so große Sache – das war vor kurzem noch anders.

Wir verstehen aber, dass für die echte Mitgliedschaft auch noch viele Hausaufgaben auf unserer Seite zu erledigen sind, etwa bei der Korruptionsbekämpfung. Aber auch in vielen anderen Bereichen werden wir noch Gesetzesregelungen überarbeiten müssen. Das wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Und natürlich muss der Krieg aufhören – wir werden nicht akzeptiert werden, wenn wir nicht die Kontrolle über unser Land haben.

Ein anderes bedeutendes Thema sind die Sanktionen gegen Russland im Energiesektor. Zwar gibt es einen gewissen politischen Willen für ein Embargo auf Öllieferungen, aber trotzdem steigen im Moment die Erlöse für Russland. Was kann getan werden, um diese Sanktionen effektiver zu machen?

Inna Sovsun: Es gibt zwei Argumente für die Sanktionen. Das erste ist die Begrenzung der Geldflüsse an Russland. Wenn wir es rein ökonomisch betrachten wird es recht schwer, dies umzusetzen. Denn wenn Europa sein Öl anderswo kauft, dann weichen andere Länder gleichzeitig auf russisches Öl aus. Es gibt ein paar Verschiebungen und vielleicht etwas höhere Logistikkosten. Wir müssen hier realistisch bleiben in unseren Erwartungen. Aber das heißt nicht, dass Europa deshalb die Sanktionen aufgeben sollte. Wir glauben nicht, dass die demokratische Welt in ihrer politischen Entscheidungsfreiheit durch russisches Öl und Gas eingeschränkt werden sollte. Abhängigkeiten von diktatorischen Regimen müssen vermieden werden. Die bestehenden Ölsanktionen enthalten zu viele Schlupflöcher, wie die in manchen Ländern verbliebenen Anlanderechte für Tanker mit russischem Öl. Ungarn ist ein ganz eigenes Problem, praktisch eine russische Marionette in der EU. Ich denke, es ist letztlich alles eine Frage von politischer Führung in der EU. Verstöße gegen Sanktionen müssen Konsequenzen haben. Das ist Führung. Und auch die Fähigkeit, den eigenen Leuten zu vermitteln, warum vielleicht es jetzt angezeigt ist, auf manchen Luxus mit hohem Energieverbrauch mal zu verzichten – das ist auch Führung. Diese Konsequenzen sind nichts im Vergleich zu den Opfern, die die Menschen in der Ukraine tagtäglich bringen.

In der Ukraine herrscht akute Benzin- und Dieselknappheit. Was erwarten Sie von der EU in der aktuellen Lage, um die Energiesicherheit der Ukraine zu stärken?

Inna Sovsun: Es war unser strategischer Fehler, die Benzinversorgung zu so einem großen Anteil vor dem Krieg über Russland und Belarus zu organisieren. Nun muss alles aus der EU mit Tankfahrzeugen geliefert werden. Es gibt auch eine Pipeline für Ölprodukte nach Ungarn. Man kann die Fließrichtung ändern. Aber da sind wir wieder bei dem speziellen Ungarn-Thema. Wenn die EU hier Druck auf Ungarn machte, das wäre schon gut, denn Lieferungen über diese Pipeline würden das Problem schon erheblich mildern. Das ist ein konkretes Beispiel.

Welche weiteren, zentralen Anliegen würden Sie deutschen Bürger*innen gerne noch vermitteln?

Yehor Cherniev: Wir müssen verstehen, dass wir seit dem 24. Februar eine neue Realität in der Welt haben. Russland hat leider das internationale Recht gebrochen. Es kann kein business as usual mehr mit Russland geben; wir müssen uns unabhängig machen von Autokratien. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist Russland Teil der globalisierten Welt mit all ihren Privilegien geworden, und westliche Staaten sind abhängig von Energielieferungen geworden. Eine neue Ordnung muss die Frage der freien Wirtschaftsbeziehungen stärker an die Frage der demokratischen Herrschaft knüpfen. Autokratien müssen ausgeschlossen bleiben. Dies wird auch für Europa seinen Preis haben. Unser Preis ist das Überleben.

Inna Sovsun: Ja, das ist die bittere Realität.

Es ist leicht, die Dinge zu verdrängen, den Sommerurlaub zu planen, sich über steigende Gaspreise Sorgen zu machen. Aber wir müssen uns jeden Tag Sorgen um unsere Angehörigen und Freunde machen! Eine Freundin von mir war gerade zehn Minuten vor dem Raketeneinschlag mit ihrem Sohn in einem Computerladen in dem dann zerstörten Einkaufszentrum in Krementschug. Anschließend sah sie die Zerstörung und die Toten in dem Laden – ihr Leben hing an einem Zufall von wenigen Minuten Unterschied. Wir leben nicht in dem Luxus, dies verdrängen zu können.

Machen wir uns nichts vor, das Problem löst sich nicht von selbst. Und auch die Lieferung von einigen überzähligen Mehrfachrakentenwerfern hilft eher dem Verdrängen in Europa als der effektiven Verteidigung der Ukraine. So unbequem diese Nachricht für ein Land mit einer pazifistischen Tradition auch sein mag: Der Frieden braucht Waffen!

Die Ukraine muss gewinnen. Nur so lässt sich das autokratische Regime in Russland eindämmen. Nur so werden wir im Anschluss in der Lage sein, besser funktionierende, internationale Institutionen aufzubauen, um solchen Situationen rechtzeitig vorbeugen zu können. Nur so können wir eine wirkliche grüne Ökonomie ohne die Abhängigkeit von den fossilen Lieferungen aus Russland aufbauen.


Inna Sovsun, seit 2019 Abgeordnete der Verchowna Rada der Ukraine, Golos-Fraktion, Ausschuss für Energiewirtschaft. Zuvor Professorin für Politikwissenschaften an der Kyiv-Mohyla Academy, Vize-Ministerin für Bildung und Wissenschaft (2014-2016) und Vize-Präsidentin der Kyiv School of Economics (2016-2018).

Yehor Cherniev, seit 2019 Abgeordneter der Verchowna Rada, Fraktion Sluha Narodu, Vize-Vorsitz im Ausschuss für  Digitalen Wandel, Vorsitzender der Delegation der Ukraine zur Parlamentarischen Versammlung der NATO.