„Das sind keine Proteste mehr, das ist der Anfang einer Revolution“

Essay

Trotz massiver Gewaltanwendung des Regimes dauern die landesweiten Proteste im Iran an. Immer öfter ist zu hören, sie seien der Anfang einer Revolution. Publizistin Mina Khani ordnet die aktuellen Geschehnisse im Iran in Geschichte und Gegenwart ein und beschreibt, wie sie die iranische Diaspora in Deutschland und der Welt bewegen.

Lesedauer: 9 Minuten
Frau mit Plakat "Freedom For Iran"

Der Iran erlebt seit vier Wochen den radikalsten und inklusivsten Protest seit der Begründung der Islamischen Republik. Auslöser war der staatliche Femizid an der kurdischen 22-jährigen Mahsa Zhina Amini durch die iranische Sittenpolizei. Das Regime behauptet, dass sie an spontanem Herzversagen gestorben sei. Sie war zuvor in Teheran festgenommen worden, da sie ihren Hijab nicht „ordnungsgemäß“ getragen hatte. Nach einem zweitägigen Koma starb sie am 16. September 2022 in einem Teheraner Krankenhaus.

Bereits direkt nach der Festnahme begann die Familie von Zhina Amini über den Fall zu berichten und öffentlich klarzustellen, dass es ein Mord durch Polizeigewalt war. Je mehr der Staat versuchte seine Version der Geschichte als glaubhaft darzustellen, desto größer wurde der Widerstand der Familie, der Ärzte des Kasra Krankenhaus, in das Zhina Amini eingeliefert wurde und der Augenzeugen, die mit ihr festgenommen worden waren. Kurz nach ihrem Tod rief die kurdische Zivilgesellschaft zu Streiks und Protesten auf. Schon bei ihrer Beerdigung legten viele Frauen ihre Kopftücher ab und riefen: „Mord wegen des Kopftuchs, wie lange diese Erniedrigung?“ Das war ein Wendepunkt und ein historischer Moment für viele Iraner*innen innerhalb und außerhalb des Irans.

Von Kurdistan bis Teheran: Jin, Jiyan, Azadi

Die Proteste breiteten sich sehr rasch von der Provinz Kurdistan im Iran bis in das gesamte Land aus. Die ursprünglich kurdische Parole „Frau, Leben, Freiheit“ („Jin, Jiyan, Azadî“) wurde überall von iranischen Frauen und Queers gerufen. Auch viele Männer schlossen sich den Protesten an und nutzen seitdem solidarisch die Parole. Schnell erreichten die Proteste die Universitäten, Schulen und Arbeitsstätten des Landes: Studierende, Professor*innen, Schüler*innen und Arbeiter*innen haben sich den Protesten angeschlossen. Selbst die religiösen Städte wie Maschhad und Ghom waren bei den Protesten dabei. Das Besondere: Die Proteste finden schichtenübergreifend statt und in allen Teilen des Landes, nicht nur in der Hauptstadt. Saghez, die Heimatstadt von Zhina, ist eine verarmte Stadt in Kurdistan. Hier begannen die Proteste und erreichten schnell auch reichere Teile der Hauptstadt Teheran. Zeitweise war die Petrochemie Fabrik Asalueh im Südiran im Streik.

Viele zivilgesellschaftliche Gruppen haben sich zu Wort gemeldet und solidarisieren sich mit den Protestierenden. Auch Prominente und Schauspieler*innen haben sich den Protesten teilweise angeschlossen, darunter Frauen, die ihre Kopftücher ablegen und ankündigen, dass sie unter diesen Umständen nicht mehr arbeiten werden. 

Die Forderungen der Protestierenden reichen von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen und Queers bis hin zu einem Ende der Diktatur. „Das sind keine Proteste mehr, das ist der Anfang einer Revolution“, ist etwa auf den Straßen zu hören. An vielen Orten wurden Symbole der staatlichen Macht in Brand gesetzt: Bilder von dem durch die USA getöteten Obersten General der Revolutionsgarde, Ghasem Soleimani und Bilder von dem religiösen Führer der Islamischen Republik, Ali Chamenei. Auch viele Kopftücher wurden bei diesen Protesten angezündet, sogar in Schulen für Jungs. Mit der Verbrennung der Kopftücher richten sich Protestierende Frauen und Queers gegen den Zwang, den Hijab ab dem Alter von sieben Jahren in den Schulen zu tragen. Dieser Zwang kreiert ein binäres Geschlechtersystem im Iran, wobei durch die Kontrolle des weiblich gelesenen Körpers die ganze Gesellschaft kontrolliert wird.

Geschichte und Gegenwart der Zwangsverschleierung und staatlichen Kontrolle der Gesellschaft im Iran

Durch das Thematisieren von Zwangsverschleierungsmaßnahmen kehrt die iranische Gesellschaft noch mal in die Anfänge des Staates und zur Revolution 1979 zurück. Damals protestierten Frauen gegen den Zwangsverschleierungsaufruf von Khomeini, direkt nach seiner Ankunft im Iran, als sie riefen: „Freiheit ist weder östlich noch westlich, Freiheit ist international, die Freiheit der Frau ist die Freiheit der Gesellschaft“. Es gab damals unter den Revolutionären kaum Kräfte, die die Angelegenheit der Frauen als ihre eigene Angelegenheit ansahen. Alles in allem hieß es: „Jetzt haben wir wichtigere Themen, nämlich den antiimperialistischen Kampf“.

Die Frauen, die damals die tagelangen Proteste am 8. März nach der Revolution 1979 organisierten, waren selbst teilweise politisch organisierte Frauen von linken Gruppen. Sie wurden von ihren eigenen Organisationen im Stich gelassen. Ein Jahr nach der Revolution kam es zum Irak-Iran-Krieg, den Khomeini als „Segen für die Nation“ und „Heilige Verteidigung“ bezeichnete. Während dieses Kriegs wurde das Land vollkommen militarisiert. Besij Milizen bekamen in der Zeit Waffen, um die Revolution zu bewahren. Diese Bewahrung der Revolution fand in der Zeit, also in den 1980er Jahren, in Form von massiven Kontrollen der Frauen und der Gesellschaft auf der Straße durch Milizen statt. Iranische Frauen wehrten sich dagegen schon länger in Form von zivilem Ungehorsam. Erst während des Krieges wurde der Zwangs-Hijab gesetzlich durchgesetzt.

Der Militarisierung des Landes folgten dann nur mehr Repressalien auch in Form von offener Staatsgewalt durch die Milizen. Das betraf zum großen Teil die Zwangsverschleierungsmaßnahmen, doch auch andere Kontrollmaßnahmen gegen jegliche Form der gesellschaftlichen und politischen Äußerung, die den Werten des Klerikers widersprach. Um es konkreter zu formulieren: Der von Khomeini und seinen Anhängern gegründete Staat hat durch die Militarisierung des Landes nicht nur die vollkommene Kontrolle der Gesellschaft durch die Kontrolle der Frauen systematisiert, sondern auch eine Maschinerie der Staatsgewalt gegen jede abweichende politische und religiöse Meinung installiert. Die Kriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Handlungen und der freien Äußerung der Genderidentität, die Säuberung der Intellektuellen, die Massenmorde der politischen Gefangenen, darunter viele Linke, die Säuberung in der Kunst und Akademie – all das ist Ausdruck dieser Staatsgewalt. Die Geschlechtertrennung in den Schulen, die Ermordung der Kurd*innen, Araber*innen und Bahai Anhänger*innen und viele weitere ähnliche Maßnahmen wurden alle im Zuge der Militarisierung während des achtjährigen Kriegs vollzogen.

In dieser Zeit wurden viele andersdenkende und politisch aktive Menschen aus dem Land vertrieben. Kunstschaffende und Intellektuelle, darunter viele Frauen und Queers, flohen, weil sie unter diesen Umständen nicht mehr im Iran leben konnten. Laut einiger Statistiken des iranischen Außerministeriums selbst leben mittlerweile mehr als vier Millionen Iraner*innen außerhalb des Landes. Auch das ist ein Ergebnis der repressiven politischen Verhältnisse, die bis heute im Iran herrschen.

Die iranische Diaspora damals und heute

Auch die iranische Diaspora wurde durch die revolutionären Geschehnisse der jetzigen Zeit im Iran bewegt. Nach vielen Jahren sieht man wieder, dass nicht nur die üblichen politischen Aktivist*innen von den alten parteipolitischen Kreisen (Arbeiterkommunistische Partei, Altmonarschist*innen, frühere linke Exil-Iraner*innen), Kurd*innen, Exil-Journalist*innen und Intellektuelle sich für die landesweiten Proteste im Iran interessieren und emotional und politisch involviert sind, sondern fast alle Menschen der weltweiten iranischen Diaspora. Das letzte Mal, als sich so viele Iraner*innen bei den großen Protesten außerhalb des Landes mobilisieren ließen, war 2009. Seitdem waren die Straßen in Europa und in der Welt nie wieder so voll mit Iraner*innen wie heute. Damals haben wir es im Ausland nie geschafft, so viele Iraner*innen zusammenzubringen wie bei der Großdemonstration am 22. Oktober 2022 in Berlin.

Schon seit den Anfängen der islamischen Republik versuchte der iranische Staat die Verbindung der Iraner*innen außerhalb und innerhalb des Landes zu verhindern. Durch die schweren Kommunikationswege in der Welt funktionierte es jahrelang auch ganz einfach für den Staat, die Trennung zu ermöglichen. Die Exil-Iraner*innen und Ausgewanderten wurden im Iran sehr oft als diejenigen bezeichnet, die sich kaum um das Land und die Zustände dort interessierten. Die Stigmatisierungspolitik des Staates hatte zum Ziel, die im Iran lebende Bevölkerung von Exil-Iraner*innen fernzuhalten.

Auch die Kurd*innen haben dabei eine sehr bemerkenswerte Geschichte, weil sie immer einen Teil ihres Kampfes gegen diesen Staat mit den anderen Kämpfen der Kurd*innen in der Region verbanden. In Deutschland ist die Geschichte von Kurd*innen, die aus dem Iran kommen, auch mit den Terroranschlägen der Islamischen Republik im Ausland verbunden: Im Jahr 1992 wurde das griechische Restaurant „Mykonos“ in Berlin Schauplatz eines Terroranschlages an vier iranisch-kurdischen Exil-Politikern durch den iranischen Geheimdienst. Das war ein Anschlag unter vielen anderen Terrorakten des iranischen Staates im Ausland. Insgesamt waren die Iraner*innen im Exil in den 1980er und 1990er Jahren sehr allein mit ihrem Leben und Kämpfen außerhalb des Landes.

2009 gab es die ersten Versuche die Proteste im Iran und außerhalb des Irans in einer größeren Dimension miteinander zu verbinden. Danach versuchte der Staat diese Verbindung bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2013 zu trennen. Diese Strategie wurde vor allem durch die Intervention vieler Reformist*innen außerhalb des Irans, die die staatliche Propaganda in Medien und Akademien vertraten, ermöglicht. Das erreichten sie, indem sie die staatskritischen Stimmen außerhalb des Irans mit drastischen Vorwürfen konfrontierten: Man sei für einen Krieg im Iran, wenn man sagte, dass sich durch die Wahlen im Iran nichts verändern würde – das war einer unter vielen Vorwürfen, die inflationär formuliert wurden, obwohl die Anhängerschaft der Reformist*innen selbst sich zum großen Teil auch aus dem Ausland mitorganisieren ließ. Seit den landesweiten Protesten 2019 begannen viele Iraner*innen sich außerhalb des Landes wieder mehr für die politischen Verhältnisse im Iran in einer radikalen Form zu interessieren und proaktiv gegen die Propaganda der Reformist*innen und Lobbyist*innen des Staates außerhalb des Irans vorzugehen.

Die verbindende Kraft der Solidarität

Jetzt kann man beobachten, dass die Proteste außerhalb des Landes auch angemessen die Proteste im Iran verstärken und vergrößern. Iranische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ob in Kunst oder Politik, in Medien oder auf der Straße sprechen laut über die politischen Verhältnisse im Iran. Vor allem sieht man in der iranischen Diaspora, wie laut die iranischen Frauen und die queere Community dabei sind und was sie für eine große Rolle dabei spielen, die Stimme der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ zu sein.

Man sieht also, dass der Staat nicht nur mit der Durchsetzung seiner Ideologie im Iran nicht vorankommt, auch die künstliche Trennung der Iraner*innen innerhalb und außerhalb des Irans funktioniert nicht mehr. Die Protestierenden vor Ort erwarten sogar von den ausgewanderten Iraner*innen, dass sie in dieser Lage ihre Stimme erheben. Es wäre auch für die Weltöffentlichkeit geboten, sich mit den Stimmen der Frauen, Queers und oppositionellen Iraner*innen zu beschäftigen und dabei auch die Diversität der iranischen Diaspora anzuerkennen. Schließlich ist es nicht die Aufgabe der Iraner*innen ein vereinfachtes Bild über die iranische Gesellschaft und die Politik im Iran darzustellen, damit ihre revolutionäre Bewegung Richtung Freiheit anerkannt wird.


Mina Khani ist iranische Publizistin und linke Feministin. Sie lebt in Berlin.