Abschied von einem Weggefährten. Zum Tode von Werner Schulz

Nachruf

Am Abend des 9. November 2022 ist der frühere DDR-Bürgerrechtler und langjährige Grünenabgeordnete Werner Schulz gestorben. Wir trauern um einen Streiter für die Freiheit und um einen Weggefährten.

Werner Schulz
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Werner Schulz, 2014 in der Heinrich-Böll-Stiftung.

Der Abend des 9. November brachte die Nachricht vom plötzlichen Zusammenbruch und Tod von Werner Schulz. Eine Nachricht, die mich fassungslos machte und förmlich erstarren ließ. Ausgerechnet Werner, dachte ich, bei dem man Erschöpfung und Überarbeitung zwar schon spüren konnte, der sich um seine Frau Monika sorgte und dafür zurückzog, der aber dennoch vor Leben sprühte, der kämpfte und stritt.

Wir hatten uns noch eine Menge vorgenommen.

Unsere enge Beziehung, die im Spätherbst und Winter 1989/90 einsetzte, hatte Zeiten langer Unterbrechung. Wir waren, nahezu altersgleich, auf verschiedenen Feldern unterwegs, gingen auch immer wieder getrennte Wege. Das letzte Jahrzehnt ließ uns dann erneut enger zusammenrücken. Den Entwicklungen in Osteuropa, Russland, Belarus, der Ukraine, Polen galt unsere gemeinsame Aufmerksamkeit und Anstrengung. Wir hatten in all diesen Ländern gemeinsame Freund*innen und Partner*innen, unterstützten Memorial und die Helsinkigruppen, schrieben und sprachen gegen die Verharmlosung, das Zurückweichen vor dem neoimperialen russischen Regime unter Wladimir Putin an.

Werners Herkunft und Prägung

Werner wuchs in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus in Zwickau auf. Wenn sein Vater ihm klarmachte, warum es besser sei, nicht in die Pionierorganisation und die FDJ einzutreten, sagt das einiges über Werners Sozialisation aus. Dennoch spielte das große Versprechen sozialer Gerechtigkeit und die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz für den Heranwachsenden eine große Rolle. Was die offizielle DDR von solchen Sympathien hielt, bekam der Achtzehnjährige kurz vor der Abiturprüfung zu spüren: Er sollte eine Resolution unterschreiben in der die Konterrevolution in Prag verurteilt wurde. Eine Weigerung hätte das bevorstehende Studium in Luft aufgelöst. Seine Unterschrift, die er widerwillig leistete, verzieh sich Werner nie. Was andere als lässliche Anpassung erklärten, fürchtete er als erstes Glied einer Kette, die von der Anpassung zum permanenten Opportunismus führen konnte, die im Extrem in den Verrat an den eigenen Idealen und letztlich Verrat an anderen Menschen mündete. Hier stand das Lied von Bulat Okudschawa, das wir alle kannten, im Raum: 

„Ach der erste Verrat kann aus Schwäche geschehen, und der zweite Verrat will schon Orden sehen.
Doch beim dritten Verrat musst Du morden gehn, selber morden gehn … und das ist geschehn.“

Zahlreiche Altersgenossen Werners wollten das nicht so dramatisch nehmen. Was war schon eine solche Unterschrift? Man konnte aller Anpassung ja auch etwas Positives abgewinnen. Teil der neuen Elite zu werden konnte die Lebenssituation in der DDR sehr angenehm machen: „Sei der Unsere, und für Dich ist gesorgt“ war das praktische Versprechen hinter den ideologischen Phrasen.

Werner hätte gerne Jura studiert, aber er wusste zu gut, was mit dem System der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ verbunden war und was von Absolventen dieser Fachrichtung erwartet wurde. Also entschied er sich für ein Studium der Lebensmitteltechnologie an der Berliner Humboldt-Universität. Dort war er anschließend als Assistent tätig und konnte eine Promotion vorbereiten. Jahre, in denen er die Möglichkeiten und Grenzen eigenen Widerspruchs austestete und die ersten Schritte in die sich formierenden Gruppen der Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiebewegung machte.

Von 1976 bis 1978 entzog er sich dem Waffendienst in der NVA und wählte den Dienst als Bausoldat, der alles andere als karrierefördernd war.

Kurz vor Fertigstellung seiner Promotion im Jahre 1980 riskierte er die nächste Konsequenz und protestierte öffentlich gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan.

Selbstachtung und Bewahrung der eigenen Freiheit waren ihm wichtiger als Karriere und Aufstieg oder auch nur ein Normalleben in der DDR. Die Kündigung folgte auf dem Fuße, und er hatte noch Glück in seinem Fachgebiet, zunächst in einem Recyclingbetrieb und später in einer staatlichen Hygiene-Inspektion unterzukommen.

„Was lange gärt, wird Wut“

In einem 2009 entstandenen Aufsatz beschrieb Werner Schulz die achtziger Jahre und seinen eigenen Weg in dieser Zeit als den „Vorlauf der DDR-Opposition zur friedlichen Revolution.“ Mit einem der für ihn charakteristischen Wortspiele, wählte er den Titel: „Was lange gärt, wird Wut“.

Es war ein Weg, der ihn zunächst in den kirchlichen Pankower Friedenskreis führte und einige Jahre später zu einem der Mitbegründer des Neuen Forum werden ließ. Im gleichen Aufsatz beschrieb er den Höhepunkt der Leipziger Montagsdemonstrationen als den Glücksfall einer Revolution, bei der die Wut sich protestantische Zügel anlegte, bei der „Kerzenwachs und kein Blut floss, bei der die Demonstranten Transparente statt Steine oder Molotowcocktails in den Händen hielten“, eine „enorme zivilisatorische Kraft, die im Domino-Effekt ein totalitäres System zum Einsturz brachte. Von der friedlichen, der samtenen, bis zur singenden Revolution im Baltikum“.

In all diesen Bildern und Gedanken, klang die Vorreiterrolle der Solidarność mit, die, wie ihn, zahlreiche DDR-Oppositionelle befeuerte.

Neues Forum und Initiative für Frieden und Menschenrechte am Runden Tisch

Mich hatte ein anderer verschlungener Weg in die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ geführt. Nach der erzwungenen Ausreise unserer Familie mit DDR-Pässen und der Rückkehr im November 1989, fand ich mich ab Dezember am Runden Tisch wieder und saß dort Werner und anderen Vertretern des Neuen Forum gegenüber.

Er gehörte zu den wenigen politischen Ausnahmetalenten auf unserer Seite, verband den analytischen Verstand des Technikers und Naturwissenschaftlers mit einem rhetorischen Talent und dem leidenschaftlich vertretenen Erneuerungsanspruch der Bürgerbewegung. Gegen die Phalanx der Pseudoreformer um Gregor Gysi und den schnellen Anpassungswillen der „Blockflöten“ und gegen die großen ausgestreckten Hände Helmut Kohls vertrat er mit Wolfgang Ullmann von „Demokratie Jetzt“ mit Jens Reich und anderen Engagierten den Anspruch, eines eigenen aufrechten Gangs in die Einheit.

Für den Weg einer gesamtdeutschen Reform

Einem Anspruch, dem ich letztlich folgte. Es kam uns darauf an, nicht mit dem Rücken an der Wand gegen das Vereinigungsstreben einer Mehrheit zu stehen, sondern dem geforderten Schnellanschluss eigene Konzepte und einen eigenen Verfassungsentwurf entgegenzustellen. Vor allem aber einen eigenen politischen Zusammenschluss zu schaffen, der sich als „Bündnis 90“ aus dem Zusammengehen heterogener oppositioneller Kräfte zu einer politischen Partei entwickelte. Die Auseinandersetzung über die Bedingungen und das Tempo eines für uns und das parlamentarische Überleben der Grünen notwendigen Zusammenschlusses sah Werner als politischer Realist und bestimmte seinen Weg zum Berufspolitiker.

In den neunziger Jahren trat Werner Schulz angesichts der Kriege in Bosnien und dem Kosovo für eine Militärintervention ein. Er nahm damit Positionen vorweg, die sich aktuell in der großen Mehrheit der bündnisgrünen Partei durchgesetzt haben. Damals vertrat er eine Minderheit in der Fraktion, sah sich heftigen Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt.

Schulz hat Putin nie getraut

Im September 2001 hatte Wladimir Putin einen mit großer Begeisterung und stehenden Ovationen der Abgeordneten begleiteten Auftritt im Bundestag. Der Charme und die gewinnenden Worte des KGB-Offiziers konnten Werner nicht einfangen. Zu gut kannte er das Milieu, dem Putin entstammte, die russische Geschichte der neunziger Jahre. Er wusste um den Hintergrund der Machtübergabe des ehemaligen Hoffnungsträgers Boris Jelzin und die Realitäten des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges. Als einziger Abgeordneter verließ er während der Rede Putins den Plenarsaal und erntete dafür Unverständnis und Ablehnung zahlreicher Kolleg*innen. Ekkehard Maaß, ein DDR-Oppositioneller mit Kontakten im gesamten Kaukasus und genauer Kenntnis der Geheimdienstoperationen und der Gräueltaten im Tschetschenienkrieg, rief in der gleichen Zeit zu Protestaktionen vor der sowjetischen Botschaft auf. Als wir in kleiner Menge den Riesenkomplex der Botschaft umkreisten und „Putin, Mörder“ skandierten, sahen gesellschaftliche und politische Mehrheiten in Deutschland im russischen Präsidenten noch den künftigen Hoffnungsträger und Heilsbringer.  

Berühmt wurde er für seine Interventionen gegen den autoritären, anmaßenden Politikstil Gerhard Schröders. Als der im Juli 2005 mit der trickreichen Konstruktion einer Vertrauensfrage sein politisches Überleben sichern wollte, stellte ihn Werner Schulz, der sich in allen parlamentarischen Kniffen auskannte, hier aber die Grenzen des Zulässigen weit überzogen sah: Sein Einspruch ging als die bemerkenswerteste Fünfminutenrede, die der Bundestag je erlebt hatte, in die Parlamentsgeschichte ein und wurde mit einem Preis bedacht.

Im Jahre 2009, andere seiner frühen Gefährten hatten sich schon resigniert und zermürbt aus dem Politikbetrieb verabschiedet, setzte Werner noch einmal alles auf eine Karte. Auf einem Nominierungsparteitag zur Europawahl im Jahre 2009 setzte er sich mit einer fulminanten Bewerbungsrede gegen andere chancenreiche Bewerber durch und zog in das Europaparlament ein. War das nur das Verlangen, im Raum der Berufspolitik zu bleiben und jetzt auf einer anderen Ebene zu agieren? Ihm ging es um mehr, und ich entsinne mich an zahlreiche Gespräche der Folgezeit. Gespräche, die mich schon in Warschau sahen und ihn vor allem in Brüssel. Seine zahlreichen Reisen als Parlamentarier führten ihn immer wieder in den osteuropäischen Raum, schärften sein Sensorium für bevorstehende Konflikte und Herausforderungen.

Der Winter des Jahres 2010 sah in Kiew den Wahlsieg von Wiktor Janukowytsch, der als ukrainischer Präsident sein Land erneut an die Kette Russlands legen sollte. Im Herbst 2004 hatte sich Janukowytsch als Wahlfälscher diskreditiert, und es zogen Protagonisten der Orangenen Revolution in die höchsten Staatsämter ein; damit wuchs die Hoffnung auf einen eigenen Weg der Ukraine. Eine Hoffnung, die sich erst in der Erhebung gegen Janukowytsch auf dem Majdan 2013/14 erneut überdeutlich auftat.

Für Putin war der Kampf um die Ukraine von Anfang an das entscheidende Ziel bei der Erneuerung imperialer russischer Großmacht im Osten Europas. Er wollte die Ukraine als einen abhängigen Satrapenstaat oder sogar als Teil Russlands. Seit der gescheiterten Operation 2004, mit der Festigung der Machtvertikale im Innern, wurde sein Ton immer drohender. Und so konnte er 2008 eine NATO-Perspektive für das Nachbarland verhindern, die einen späteren Angriffskrieg unmöglich gemacht hätte.

Als der Mut und die Aufopferung der Demonstrant*innen auf dem Majdan Janukowytsch schließlich in die Flucht trieben, reagierte Putin mit der Besetzung der Krim und der Operation „Neurussland“, und er begann einen unverhüllten Angriffskrieg. Er rechnete mit einer halbherzigen Reaktion des Westens, Deutschland eingeschlossen, und sollte zunächst recht behalten.    

Werner Schulz gehörte zu denen, die in all diesen Jahren warnten, mahnten und intervenierten. Die Realität lag offen zutage, und er verweigerte sich ihr nicht. Zunächst mit den Möglichkeiten des Europaparlamentariers und nach seinem Abschied von dieser Bühne als zivilgesellschaftlicher Akteur. Alte Weggefährten von Bündnis 90, die wie Matthias Platzeck zu Russlandlobbyisten mutiert waren, ging er hart an, und er lehrte bei seinen Fernsehauftritten zweifelhaften Kantonistinnen das Fürchten.

Mahner in der Wüste zu sein – das vor allem verband uns in dieser Zeit, aber wir waren alles andere als froh, dass uns die Realität der letzten Monate in furchtbarer Weise Recht gab. Die gemeinsame Hoffnung, dass dem bevorstehenden Ende des Putin-Systems der Weg in ein demokratisches Russland folgen wird, wollten wir nicht aufgeben. Eine Hoffnung, die uns herausforderte.   

In einem Aufsatz aus dem Jahre 2009, zog Werner Schulz einen historischen Rückbezug zu Robert Blum, der als radikaler Demokrat, in den Revolutionskämpfen des Jahres 1848 für ein in allen Teilen freies Europa eintrat. Er hatte sich dafür im Rahmen der Frankfurter Paulskirche eingesetzt und war dort einer der leidenschaftlichsten Verfechter der polnischen Sache gewesen. Seine Beteiligung an den Kämpfen in Wien ließ ihn am 9. November 1848 unter den Kugeln eines Erschießungspelotons der habsburgischen Militärkräfte fallen.

Kann man die Ironie der Geschichte noch steigern?

Mir werden die Würdigungsworte des Bundespräsidenten im Gedächtnis bleiben, die Werners letzten Aufenthalt im Schloss Bellevue begleiteten.

Wie wir es auch künftig mit dem Symbolcharakter des 9. November halten – für mich wird dieses Datum auch mit dem Abschied von Werner Schulz verbunden bleiben.