Im Rahmen ihrer Sommertagung beleuchtete die Grüne Akademie verschiedene Dimensionen von Sicherheit und nahm dabei neben der klassischen Sicherheitspolitik auch das Zusammenspiel ökonomischer und politischer Sicherheit in den Blick.
Sommertagung der Grünen Akademie
Den Eröffnungsvortrag hielt Anna Lührmann (MdB und Staatsministerin für Europa und Klima, Auswärtiges Amt sowie Mitglied der Grünen Akademie). Lührmann verband in ihrem Vortrag Einsichten aus der Praxis mit einer politikwissenschaftlichen Analyse der sicherheitspolitischen Verschiebungen.
In der Diskussion ging es zunächst um die Entwicklung sicherheitspolitischer Debatten innerhalb der grünen Strömung. Ein Blick zurück auf grüne Regierungsbeteiligungen in den 1990ern und 2000er Jahren zeigte, dass damals zwar über die Militäreinsätze im Kosovo und Afghanistan diskutiert wurde, nicht aber unter dem Vorzeichen der Sicherheit. Der Fokus lag auf Menschenrechten, den Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit sowie der Gestaltung von offenen Gesellschaften, welche in dieser Zeit aber kaum sicherheitspolitisch gedacht wurden. Ein Umdenken hinsichtlich des Sicherheitsbegriffs setzte bereits vor Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein. Wachsende Unsicherheit und Systemkonflikte sowie humanitäre Katastrophen führten innerhalb der grünen Strömung dazu, Sicherheit nicht den konservativen Kräften überlassen zu wollen, sondern den Begriff vielmehr progressiv zu besetzen. Dabei könne es, so sahen es viele Mitglieder, nicht nur um militärische Verteidigung gegen andere gehen, sondern es müssten darüber hinaus auch der Schutz individueller Freiheiten und die Unterstützung von Menschen in Notlagen im globalen Maßstab in den Blick genommen werden. Beispielhaft könnten hier sicherheitspolitische Ansätze wie Human Security sein, welche den Blick über eng gefasste staatliche Sicherheitsinteressen hinaus weiten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Sicherheit und die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs stehen dabei für einen produktiven Reflexionsprozess innerhalb der grünen Strömung. Im Rahmen der Tagung wurde herausgestellt, dass der Schock über Russlands Angriffskrieg nicht zum Vorwand eines falschverstandenen „Realismus“ werden darf, der in eine vermeintlich „harte“ Interessenspolitik – zumal als rein nationale Sicherheitspolitik – zurückfiele. In dieser Situation dürfe nicht der schwerwiegende Fehler gemacht werden, für die Sicherung von Zugängen zu Ressourcen weitgehende Kompromisse mit Autokratien einzugehen. Obwohl die grüne Strömung lange für das Credo einer wertebasierten Außen- und Sicherheitspolitik belächelt wurde, erscheint gegenwärtig gerade dies die einzig realistische Option, um Freiheit und Wohlstand dauerhaft zu sichern.
Europäische Souveränität: Schlüssel einer wertebasierten Sicherheitspolitik
Als Schlüsselelement einer wertebasierten Sicherheitspolitik wurde in der Debatte die Stärkung der europäischen Souveränität auf wirtschaftlicher, verteidigungspolitischer und strategischer Ebene identifiziert. Wirtschaftlich erfordert dies eine Verringerung von Abhängigkeiten und eine Überprüfung bestehender Lieferketten. Bei Fragen der Verteidigung geht es zunächst um den Ausbau der Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung, doch auch die Dimension der Konfliktprävention könne in diesem Rahmen gestärkt werden. Klar ist, dass Deutschland mehr Geld für die Verteidigung ausgeben und zugleich die Kooperation mit seinen demokratischen Partnern intensivieren muss. Dies erfordert zum einen, Gesprächskanäle und Partnerschaften über die europäischen Grenzen hinaus zu pflegen und aufzubauen – und somit die Einflussnahme von Autokratien auf außereuropäische Länder zu schwächen. Zum anderen ist es entscheidend, mögliche Herausforderungen und Bruchlinien innerhalb der europäischen und transatlantischen Allianz zu antizipieren, wie sie etwa infolge eines Wahlsieges rechtspopulistischer Regierungen wie von Marine Le Pen in Frankreich oder bei einer Rückkehr Donald Trumps denkbar sind. Beispielhaft für die gestärkte europäische Einheit und Bereitschaft zur engen Kooperation sind die sechs Sanktionspakete gegen Russland, aber auch die deutsch-französische Initiative WE Power EU, die den europäischen Energiemarkt stärken und Abhängigkeiten von russischem Gas reduzieren soll. Das weite Feld des Sicherheitsbegriffs wurde im Anschluss an die Plenumsdebatte in drei Themenforen exemplarisch vertieft.
Wandel des Sicherheitsbegriffs
Wie sich der Sicherheitsbegriff und seine Bedeutung im öffentlichen Diskurs gewandelt hat, diskutierte Giorgio Franceschini (Referent Außen- und Sicherheitspolitik und Koordinator Forum Neue Sicherheitspolitik, Heinrich-Böll-Stiftung) im ersten der drei Themenforen. Die Diskussion konzentrierte sich besonders auf die Konzepte der erweiterten Sicherheit und der kollektiven Sicherheit, die in bewusster Abgrenzung zu einem traditionellen, auf militärische Faktoren fokussierten Sicherheitsbegriff entwickelt worden waren. Kritisch und bewusst überspitzt analysierte Franceschini diese Konzepte in ihrem geschichtlichen Rahmen und zeigte verschiedene Schwächen im Umgang mit der derzeitigen Krisensituation auf. Die Teilnehmer:innen, darunter auch Mitglieder des Forums Neue Sicherheitspolitik diskutierten, inwiefern der erweiterter Sicherheitsbegriff, welcher möglichst viele Perspektiven und Kontextfaktoren berücksichtigt, Gefahr laufe, sicherheitspolitische Akteure angesichts multipler Krisen und hochkomplexer Konfliktsituationen zu überfordern. Die kooperative Sicherheit wiederum, entwickelt vor dem Hintergrund des eingeschränkten Austauschs zwischen den Konfliktparteien des Kalten Krieges, kann an unzuverlässigen Akteuren scheitern. Der Glaube, dass selbst schwierigste Akteure mit ökonomischen Anreizen, kulturellem Austausch und vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich eingebunden werden könnten, scheint angesichts der aktuellen russischen Aggression vollends widerlegt.
Sicherheit durch eine veränderte Handelsarchitektur
Mit dem Spannungsfeld zwischen internationalem Handel und Sicherheit angesichts geopolitischer Umwälzungen beschäftigte sich das zweite Themenforum. Ausgehend von Impulsen durch Michael Holstein (Chefvolkswirt, DZ Bank) und Elisabeth Winter (Programmleiterin Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit; Helmut-Schmidt-Stiftung) ergab sich eine intensive und konstruktive Diskussion über den derzeitigen Stand der deutschen und europäischen Handelsbeziehungen, die stärkere Berücksichtigung umweltpolitischer Konsequenzen sowie Perspektiven für eine transformative Handelspolitik. Zu Beginn des Themenforums stand die Feststellung, dass das Lieferkettenversagen sowie die gegenwärtige Belastung und der teilweise Rückbau von Handelbeziehungen nicht ausschließlich Ergebnis einer schlagartigen De-Globalisierung als Folge von Krieg und Corona-Pandemie seien, sondern vielmehr Ausdruck eines längerfristigen Trends der letzten 15 Jahre. Hinzu käme das Erstarken eines ökonomischen Nationalismus rund um den Globus, der asymmetrische ökonomische Abhängigkeiten als politische Waffe nutzt. Daraus folge wiederum für Deutschland und Europa die Notwendigkeit, eine geoökonomische Strategie für die politische Praxis zu entwickeln. Hierzu gehört neben Prämissen und Korridore für das politische Handeln auch ein klar umrissenes Verständnis über Geoökonomie. Die Teilnehmer:innen diskutierten handelspolitische Strategien, insbesondere das sogenannte Near- oder Friendshoring, das ein Verlagern von Produktionsstandorten bzw. Teilen der Wertschöpfungskette in zumeist östlich von Europa gelegene Länder oder demokratische Schwellenländer favorisiert. Mit Blick auf die durch globale Spannungen und Klimakrise wachsenden Anforderungen gilt es nicht zuletzt, die richtige Balance zu finden zwischen staatlichen Anreizen und Richtungsvorgaben für Investitionen und Engagement im Ausland auf der einen und Freiraum für die Ausgestaltung dieser unternehmerischen Auslandsbeziehungen auf der anderen Seite.
Relevanz der Bundeswehr für die militärische Sicherheit
Das dritte Forum beschäftigte sich mit der neuen Relevanz der Bundeswehr als Trägerin militärischer Sicherheit im Spiegel der öffentlichen Meinung. Hier präsentierte Timo Graf (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) empirische Umfragedaten zur Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Bundeswehr aus dem Jahr 2021 und ordnete diese vor dem Hintergrund der „Zeitenwende“ ein. Die umfangreiche Datenauswertung ergibt dabei einerseits eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der Bundeswehr sowie gegenüber einer gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik. Andererseits zeigt sich (zumindest für das Jahr 2021) aber auch eine geringe Kenntnis von konkreten Einsätzen der Bundeswehr und eine skeptische Haltung bezüglich erhöhter Verteidigungsausgaben und robuster Kampfeinsätze. Letzteres gilt besonders für Anhänger:innen der Grünen. Hier zeigt sich ein Spannungsfeld in der Neudefinition des Selbstverständnisses als traditionelle Friedenspartei vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen. Die Frage, inwiefern die veränderte Sicherheitslage eine grundsätzliche Reflexion über grüne Positionen oder sogar Werte erfordert, wurde kontrovers von den Teilnehmer:innen diskutiert.
Der Begriff der Zeitenwende
Nach den Themenforen folgte die Abschlussdebatte mit Impulsen von Emily Büning (Politische Geschäftsführerin Bündnis 90/Die Grünen und Grüne Akademie) und Michael Zürn (Direktor der Abteilung Global Governance am WZB und Professor für Internationale Beziehungen an der FU Berlin). Büning stellte die Sicht der grünen Partei auf die sogenannte Zeitenwende dar, während Zürn über die globalen politischen Entwicklungen reflektierte. Der Begriff der Zeitenwende ist aus Sicht der Vortragenden nicht ohne politische Spannung. Er läuft Gefahr, begrifflich-diskursiv das zu hinterfragen, was es angesichts des russischen Angriffskrieges zu verteidigen gilt: das ungebrochene Bekenntnis aller Staaten zu einer internationalen Friedensordnung basierend auf minimalen Grundprinzipen. Weil Russlands Krieg eines der grundlegenden Prinzipien, nämlich das Gewalt- und Aggressionsverbot verletzt, stimmten viele Staaten überein, dass die Ukraine europäische Werte verteidigt. Das Beschwören einer Zeiten- oder Epochenwende dürfe dabei jedoch keinesfalls als Abkehr von den Grundsätzen ebendieser regelbasierten Nachkriegsordnung missverstanden werden. Eine Rückkehr zu einer Großmachtpolitik wie aus dem 19. Jahrhundert wäre fatal. Für den Begriff der Zeitenwende sprach in der Debatte die gescheiterte Prämisse, dass durch das Zusammenspiel von wirtschaftlicher Globalisierung und internationaler Ordnung alle Dominanz- und Großmachtambitionen eingehegt werden könnten. Der Krieg, aber beispielsweise auch die Drohgebärden Chinas gegenüber Taiwan zeigen, dass es weiterhin und anscheinend wieder verstärkt Staaten gibt, die bereit sind, territoriale Grenzen mit Waffengewalt zu verschieben. Im Umgang mit den gegenwärtigen Krisen weist die Programmatik der Grünen nicht nur Spannungen auf, beispielsweise hinsichtlich der Frage von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, sondern auch eine Reihe von Stärken. In vielen Bereichen von der Energiepolitik und der kritischen Haltung zu Russland bis hin zum – bereits im Rahmen der Tagung diskutierten – erweiterten Sicherheitsbegriff weisen die Ideen für viele Akademie-Mitglieder in die richtige Richtung. So habe die grüne Strömung im Gegensatz zu manchen politischen Mitbewerber:innen die Relevanz der erneuerbaren Energien schon sehr frühzeitig erkannt. In der derzeitigen Krisensituation seien aber auch schmerzliche Kompromisse notwendig, etwa mit dem Rückgriff auf Kohle- und Atomkraft als Reserven in der Energieversorgung. Strittig blieb in diesem Zusammenhang, inwieweit die neue politische Weltordnung „nach der Zeitenwende“ tatsächlich in der Gesellschaft wie in der grünen Strömung bereits umfassend in ihren Konsequenzen durchdrungen und in den sich daraus ergebenden Handlungsoptionen diskutiert worden seien.