Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gewinnt der Prozess der EU-Annäherung Albaniens, getrieben hauptsächlich durch die neuen sicherheitspolitischen Interessen der EU, langsam eine neue Dynamik.

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gewinnt der Prozess der EU-Annäherung Albaniens, getrieben hauptsächlich durch die neuen sicherheitspolitischen Interessen der EU, langsam eine neue Dynamik. Kennzeichnend für die neue Phase ist eine aktive Gipfeldiplomatie und eine damit einhergehende Flexibilisierung der Erweiterungspolitik, die bereits einige Erfolge vorweisen kann. So konnte die EU in einem großen diplomatischen Kraftakt nach der Aufhebung der Blockade durch Bulgarien Mitte Juli 2022 mit Albanien und Nordmazedonien offiziell die Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Die langersehnte erste Beitrittskonferenz mit Albanien fand am 19.07.2022 statt – 16 Jahre nach der Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens (SAA). Es war in der Tat ein Meilenstein. Die Intensivierung des Dialogs und die Annäherung zwischen der EU und Albanien kam anschließend beim ersten Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag und beim Gipfeltreffen im Rahmen des Berlin-Prozesses Anfang November zum Ausdruck, wo positive Ergebnisse in Hinblick auf die Stärkung der regionalen Zusammenarbeit zwischen den Westbalkan-Staaten erzielt werden konnten. Sie einigten sich auf drei Abkommen, die das Reise- und Freizügigkeitsrecht in der Region erleichtern durch gegenseitige Anerkennung von Personalausweisdokumenten, Hochschul- und Berufsabschlüssen. Für den Energiebereich kündigte die Europäische Kommission 1 MRD. Euro zur unmittelbaren Bewältigung der Energiekrise an, für Investitionen in Erneuerbare Energiequellen. Diese Errungenschaften nun zu implementieren liegt in der Hand der Regierungen der Westbalkan Länder. Weiterhin wurde Albaniens Einladung angenommen, den EU-Westbalkan-Gipfel am 6. Dezember zum ersten Mal außerhalb der EU, nämlich in Tirana, abzuhalten.
Neue Dynamik vs. zähe Reform der eigenen Erweiterungspolitik
Die neue Dynamik scheint eine Win-Win-Sitation produziert zu haben. Während die albanische politische Elite ihre Leistungen als „Stabilitätsanker” in der Region anbieten, erhalten sie externe Legitimation und wirtschaftliche Unterstützung für Infrastrukturentwicklung und die Bewältigung der Folgen der steigenden globalen Energie-, Finanzierungs- und Lebensmittelpreise. Allerdings steht dieser Win-Win-Situation und der bisherige Erfolg der Gipfeldiplomatie zwischen den EU- und Westbalkan-Führungsspitzen auf recht wackligen Beinen. Aus der Sicht der Erweiterungspolitik stehen die Verhandlungen, wenn sie ernsthaft beginnen, vor großen Herausforderungen, die zunächst die EU selbst betreffen. Solange die EU sich nicht reformiert hat und keine Mehrheitsentscheidungen in Erweiterungsfragen zumindest für den Prozess zulässt, kann jeder Mitgliedsstaat ein Veto einlegen und die Verhandlungen verzögern bzw. stoppen. Auf albanischer Seite stellt der Verhandlungsprozess und das ihm vorgeschaltete Screening-Verfahren die öffentliche Verwaltung allein ihrer begrenzten Kapazitäten vor eine große Bewährungsprobe. Gleichzeitig steigt der Bedarf an einer inklusiven und transparenten Debatte, in der sich die Akteure der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und die Bürger*innen mit der Politik und den Rechtsvorschriften der EU befassen können. Auch hier fehlt es weitgehend an Kapazitäten und Strukturen weshalb die Hoffnung auf schnelle Fortschritte und eine starke albanische Verantwortung eher unrealistisch ist.
Albaniens politische und sozioökonomische Herausforderungen
Jenseits der Risiken, die den Verlauf des Verhandlungsprozesses betreffen, sollte die neue Dynamik der EU-Annäherung auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Albanien gegenwärtig vor großen politischen und sozioökonomischen Herausforderungen steht, die die Stabilität des Landes gefährden können. So basiert die wirtschaftliche Struktur in Albanien weitgehend auf dem Konsum. Die Investitionen, einschließlich ausländischer Direktinvestitionen, konzentrieren sich nach wie vor vorwiegend auf einige wenige Infrastruktur- und Energieprojekte sowie den Immobiliensektor, deren produktivitätssteigerndes Potenzial begrenzt ist.
Die massive Auswanderung zuerst der ehemaligen Landbevölkerung und zuletzt immer mehr der gutausgebildeten städtischen Mittelschichten hat durch die Rücküberweisungen, die zurzeit etwa 10 Prozent des BIPs ausmachen, stark zur Perpetuierung dieses konsumorientierten Wirtschaftssystems beigetragen. Gleichzeitig führte die Auswanderung zur Reduzierung des Drucks auf den Arbeitsmarkt und stabilisierte den neoliberalen Strukturwandel.
Der Zugang zu globalen Finanzmärkten schaffte den staatlichen Eliten zusätzlichen Spielraum, diese konsumorientierte Wirtschaftsstruktur mit hohen Leistungsbilanzdefiziten aufrechtzuerhalten. Es bildete sich in diesem Kontext eine neue Art von Staatlichkeit, in der den politischen Akteuren hauptsächlich die Rolle zukam, durch regulative Akte einer oligopolistischen, transnationalen Finanz- und Wirtschaftsstruktur schnelle, sichere und hohe Gewinne zu ermöglichen, wie z.B. durch Sonder-Baugenehmigungen und große Infrastrukturprojekte. Der neue Masterplan für Tirana diente z.B. in erster Linie dazu, Megaprojekte (Wohn- und Geschäftstürme und andere neoliberale städtische Projekte) regulativ zu ermöglichen, die vom globalen Kapital finanziert wurden (zuletzt – wie beim Hafenprojekt in Durres – auch vom überschüssigen Ölkapital aus den arabischen Golfstaaten, das – wie andere Destinationen im Mittelmeerraum – seinen Weg nach Tirana fand). Die gegenwärtigen globalen wirtschaftlichen Verwerfungen, insbesondere auf den Finanz- und Energiemärkten, können wie ein Brandbeschleuniger wirken und dieses eindimensionale Abschöpfungsmodell in einen Teufelskreis stürzen.
Die Staatsverschuldung liegt mittlerweile auf einem sehr hohen Niveau. Auch die privaten Haushalte haben hohe Hypothekenkredite angehäuft. Angesichts der galoppierenden Inflation insbesondere infolge der gestiegenen Energiepreise wechselt die Zentralbank nun zu einer restriktiveren Geldpolitik und erhöht die Leitzinsen. Die steigenden Zinsen erhöhen die Last des Schuldendienstes und lassen nur wenig Raum für staatliche Subventionen bzw. machen Steuererhöhungen notwendig. Auch die Mittelschicht, die bisher von steigenden Immobilienpreisen profitierte, wird die Last steigender Zinszahlungen zu spüren bekommen. In der Folge wird sowohl der öffentliche als auch der private Konsum gebremst und Investitionen werden aufgeschoben. Die breiten Bevölkerungsschichten werden dabei sowohl unter der steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen leiden als auch von steigender Arbeitslosigkeit bzw. stagnierenden Löhnen betroffen sein. Ein Platzen des Immobilienbooms könnte schließlich eine Finanz- und Wirtschaftskrise auslösen – mit verheerenden sozialen Auswirkungen und einem massiven politischen Rechtsruck.
Die EU hat zwar durchaus bereit gezeigt, Albanien finanziell zu unterstützen, um die Last der gestiegenen Energiepreise auf das Staatsbudget zu mildern. Dennoch steigt der Druck auf den albanischen Staat, die Energieversorgung zu privatisieren und die bestehende Subventionspolitik aufzuheben. Eine solche Politik kann den sozialen Frieden gefährden, weil diese Subventionen oftmals ein Ausgleich für das Fehlen anderer elementarer öffentlicher Leistungen, wie etwa medizinische Versorgung darstellen, für die albanische Bürger*innen bereits überproportional privat aufkommen müssen. Auch die Finanzhilfen der EU für Energie- und Infrastrukturprojekte würden durch die Begünstigung von Großprojekten eher zur Stärkung des bestehenden Systems beitragen als zu dessen Wandel. Betrachtet man aus diesem Blickwinkel die Frage, welche Auswirkungen die gegenwärtige EU-Politik, die Albanien als einen „Stabilitätsanker“ in der Region betrachtet, auf den Demokratisierungsprozess Albaniens entfaltet, erkennt man, dass die starke Orientierung der EU an Sicherheitsinteressen statt an einer nachhaltigen Entwicklung, die die Teilhabe der Bevölkerung garantiert, eher die bereits existierenden, polarisierenden Züge des politischen Systems stärkt. Die externe Legitimation, die die albanischen politischen Eliten im Rahmen der EU-Annäherung genießen und die Finanzhilfen, die sie in diesem Prozess generieren, macht sie gegenüber Kritik der einheimischen Bevölkerung relativ immun. Hinzu kommt die Schwäche der Zivilgesellschaft, der unabhängigen Medien und der parlamentarischen Opposition, so da dass die Regierung nicht in innerhalb demokratischer Rahmen zur Rechenschaft gezogen werden kann. Davon profitieren populistische Kräfte mit einem starken Appell insbesondere an die besonders marginalisierten Teile der Bevölkerung.
In einem Umfeld, in dem die Unzufriedenheit dieser Leute hoch und ihr Vertrauen in die Regierungspartei, die seit 2013 an der Macht ist und mit Korruptionsskandalen zu kämpfen hat, gering ist, hat die sich neuformende rechtspopulistische Opposition gute Erfolgsaussichten – mit negativen Auswirkungen auf die ohnehin geringen Handlungsspielräume für kritische zivilgesellschaftliche Akteur*innen und unabhängige Medien. Eine erste Schaubühne für diese erneute politische Polarisierung werden die Lokalwahlen im Frühjahr 2023 darstellen. Angesichts dieser kritischen Überlegungen stellt sich die Frage, inwieweit der Erweiterungslogik unterliegende Ansatz vom „Wandel durch EU-Integration“ in einem Kontext wie Albanien wirklich funktionieren kann: Die Anpassung an EU-Normen soll, so die Annahme, die Rechtssicherheit garantieren, das Investitionsklima verbessern und langfristig zu einer aufholenden wirtschaftlichen Entwicklung basierend auf Produktivitätssteigerungen führen. Dabei sollen die Investitionen in (Transport-)Infrastruktur und im Energiesektor den Marktzugang von privaten wirtschaftlichen Akteuren gewährleisten. Angesichts u.a. der geringen Größe des albanischen Marktes, des Fehlens einer großen Reserve an billigen Arbeitskräften bzw. von natürlichen Rohstoffen erscheint das Land allerdings für nicht spekulative Investitionen wenig attraktiv. In diesem Zusammenhang können Infrastrukturmaßnahmen eher zu klientelistischen Mitnahmeeffekten führen, indem Naturschutzgebiete fernab der Hauptstadt leichter zugänglich werden, um unter dem Deckmantel der Tourismusförderung zur Immobilienentwicklung geöffnet werden. Damit steht in Frage, ob überhaupt durch verbesserte politische und rechtliche Rahmenbedingungen allein genügend private Investitionen nach Albanien kommen, um den oben geschilderten „vicious circle“ in einen „virtous circle“ zu verwandeln.
Die EU soll entwicklungspolitisch orientierte Ansätze verfolgen, die mit progressiven Partnern vor Ort entwickelt werden
In Verbindung mit zu ihrer bislang im Wesentlichen von sicherheitspolitischen Interessen geleiteten Erweiterungspolitik sollte die EU deswegen entwicklungspolitisch orientierte Ansätze verfolgen, die mit progressiven Partnern vor Ort diskutiert und entwickelt werden sollten. Dazu zählt ein nachhaltigen Entwicklungsplan mit gezielten öffentlichen Investitionen in den Sektoren Bildung, Gesundheit, Naturschutz, Energiewende und ökologisches Wohnen. Nur durch die Etablierung einer Wissensökonomie in Süd- und Südosteuropa können Standortfaktoren nachhaltig verbessert werden. Die Gesellschaften im Westbalkan werden den Fortschritt der EU Annäherung daran messen, ob spürbare Verbesserungen für sie und die Generation ihrer Kinder absehbar stattfinden, nachdem sie dem fast 20 Jahre währenden, bisher weitestgehend ergebnislosen Prozess, immer resignierter gegenüberstehen.