Die arabische WM

Analyse

Auch wenn der sportliche Erfolg am Ende ausgeblieben ist: Die WM in Katar zeigt, dass die Golfmonarchien mithilfe des Sports ihren regionalen und globalen Einfluss in der Politik und der Wirtschaft immer mehr ausweiten werden. Dahinter steckt großes Selbstbewusstsein, welches sich auch in harten Kontroversen mit Europa niederschlägt.

Drei Boote an einem Anlegesteg vor einem Schild mit 'FIFA World Cup Qatar 2022'

Innerhalb von Sekunden wich aus den Gesichtern der Fans der saudischen Nationalmannschaft die Hoffnung der Fassungslosigkeit und der Enttäuschung. Beim Stand von 0:1 hatte ihr aufstrebender Fußballstar Salem Aldawsari vom saudischen Klub Al-Hilal Saudi FC einen Elfmeter gegen Polen im zweiten Gruppenspiel verschossen und damit sein Team auf die Verliererstraße gebracht. Am Ende verloren die „grünen Falken“ 0:2 und verabschiedeten sich nach einer weiteren Niederlage im dritten Spiel gegen Mexiko von der WM. Das Spiel gegen Polen zeigte jedoch symbolisch, wie wichtig der Fußball mittlerweile in Saudi-Arabien geworden ist. An der Küste der katarischen Hauptstadt Doha hatte Saudi-Arabien ein eigenes Fanfest („Saudi House“) organisiert, das vor allem zu den Spielen des Königreichs von Tausenden saudischen Unterstützern besucht worden war, die keine Karte mehr für die Spiele in den Stadien ergattern hatten können.

Ein öffentiches Viewing eines Fußballspiels
Ein öffentliches Viewing eines Fußballspiels in Katar.

Auf einer Bühne sorgten saudische DJ’s und Sänger:innen vor den Spielen für Unterhaltung und in einem eigenen Pavillon wurden Höhepunkte der saudischen Fußballgeschichte ausgestellt. Zehntausende hatten die kurze Anreise aus dem benachbarten Königreich auf sich genommen, um in Katar die eigene Mannschaft zu unterstützen. Nach dem Sensationserfolg im Auftaktspiel gegen das Topteam Argentinien hatten viele bereits zu träumen begonnen und ihr Team in der K.o.-Phase gewähnt. Der 2:1-Triumph hatte dabei nicht nur in Saudi-Arabien selbst, sondern in weiten Teilen der arabischen Welt für Euphorie gesorgt. Im Irak, in Jordanien oder im Sudan feierten viele den Erfolg ihrer saudischen Brüder und bejubelten den Sieg des arabischen Davids gegen den südamerikanischen Goliath.

Eine Metapher wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs

Der Sieg Saudi-Arabiens gegen Argentinien dient hierbei als Metapher für den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg der Golfmonarchien, die sich als einflussreiche Regionalkräfte in den letzten Jahren positioniert haben. Sie wollen sich mit selbstbewusster Eigenständigkeit, kompromissloser Machtpolitik, dem Aufbau globaler Netzwerke und finanzieller Strahlkraft aus dem Schatten des Westens lösen. So strebt der saudische Kronprinz Muhammad bin Salman danach, das Königreich als Zentrum der Technologie, der Unterhaltung und des Tourismus zu etablieren, fördert mit einer Politik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Liberalisierung die junge Bevölkerung und insbesondere die Frauen und zielt mit seinem Modernisierungskurs darauf ab, das Image des Königreichs als verkrustete, erzkonservative und rückwärtsgewandte Monarchie zu wandeln und das Bild einer aufstrebenden, einflussreichen und reformfreudigen Mittelmacht in der Golfregion zu verkaufen. Die Videos von jubelnden Fans auf der katarischen Fanmeile oder in den Heimatstädten Riad und Dschidda nach dem Sieg gegen Argentinien helfen ihm dabei, diese Politik fortzuführen.

Fans in einem pink-beleuchteten Stadion
Beigeisterte Fußball-Fans verfolgen eines der WM-Spiele.

Immerhin präsentieren sich die saudischen Fans als leidenschaftliche, enthusiastische und authentische Anhänger des Fußballs, und treten somit dem Vorurteil entgegen, in der arabischen Welt – gerade in den Golfmonarchien – existiere keine Fußballkultur. Gleichzeitig kann der Kronprinz seinen nationalistischen Herrschaftsstil konsolidieren: Nachdem die Nationalmannschaft Argentinien besiegt hatte, wurde verlautbart, dass es auch die motivierenden Worte Muhammad bin Salmans in der Kabine vor dem Anpfiff gewesen seien, die das Team zu Höchstleistungen getrieben hatte. Mit solchen Auftritten präsentiert er sich als Beschützer der Nation, der den Sport als Triebfeder der eigenen Politik betrachtet, indem er ihn als volksnahes Werkzeug seiner Identitätspolitik instrumentalisiert. So wurden die Bilder von feiernden und traurigen Fans – männlich wie weiblich – auf der Fanmeile sorgsam von saudischen Kamerateams und auf unzähligen Fotos für Kampagnen in sozialen Medien eingefangen, um die Authentizität der saudischen Fankultur öffentlichkeitswirksam zu vermarkten und damit das Bild des neuen, sich verändernden Saudi-Arabien in der Welt zu verbreiten. Diese Kombination aus echter Fußballbegeisterung und PR-Kampagnen verdeutlicht, dass Golfmonarchien wie Saudi-Arabien und auch Gastgeber Katar die WM dafür nutzen, eigene Ziele zu erreichen. Obwohl bis auf Marokko kein arabisches Team die Vorrunde überstanden hatte, sprechen arabische Beobachter dennoch von „ihrer WM“. Damit ist vor allem gemeint, dass allein die Ausrichtung eines solchen Turniers in der arabischen Welt dazu geführt hat, das regionale Selbstwertgefühl nochmals zu erhöhen.

Unabhängigkeit und diversifizierte Partnerschaften

Mittlerweile wollen die Regierungen am Golf nicht mehr als Juniorpartner, als Geldautomat oder als Steigbügelhalter westlicher Interessen fungieren, sondern ernstgenommen und respektiert werden. Indem Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine weder klar für die Position Westeuropas und der USA gegen die russische Invasion Partei ergriffen noch die Forderungen nach einer Drosselung der Ölproduktion in der OPEC+ erfüllten, sendeten sie ein eindeutiges Signal an Washington, Paris oder Berlin: Unabhängigkeit und diversifizierte Partnerschaften bestimmen die außenpolitische Agenda der Golfmonarchien zusehends – ein Trend, der sich vor allem in engen wirtschaftlichen Beziehungen mit China sowie an pragmatischer Zusammenarbeit mit Russland niederschlägt und der zunehmend von einem anti-westlichen Narrativ dominiert wird.

Es laufen Menschen in traditioneller Kleidung auf einem Gehweg in Katar
WM-Zeit in Katar: eine Familie in Doha.

So hat sich China zum wichtigsten Wirtschaftspartner aller Golfmonarchien entwickelt und Präsident Xi Jinpings erste Auslandsreise seit der Corona-Pandemie führte ihn nach Saudi-Arabien. Bereits zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine fühlten sich Gesprächspartner in Saudi-Arabien und den VAE von der Tatsache brüskiert, sich eindeutig auf die Seite des Westens stellen zu sollen. Stattdessen betonten sie auch öffentlich ihre Unzufriedenheit mit den langjährigen Partnern in den USA und Europa, die sie bei vergangenen Krisen oftmals im Stich gelassen hätten. So wird die Vereinbarung mit Iran über das Atomprogramm aus dem Jahr 2015, welche während der Präsidentschaft Donald Trumps von den USA aufgekündigt worden war, noch immer in weiten Teilen der Golfmonarchien als Verrat an ihren nationalen Sicherheitsinteressen bewertet. Mit dem Atomabkommen habe man der Islamischen Republik einen Freifahrtschein erteilt, den eigenen regionalen Einfluss auszuweiten und die arabischen Nachbarn zu destabilisieren. Dies Wahrnehmung führte dazu, dass der politische Wille, Europa im Kampf gegen Russland zu unterstützen, nur gering ausgeprägt war. Immerhin handele es sich um einen europäischen Krieg, der die Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen der Golfmonarchien nicht tangiere, betonten Gesprächspartner am Golf.

Harsche Kritik und Abwehrreflexe

Ein Mann lehnt sich an ein Gebäude auf einer Straße in Katar
Ein Marktplatz in Doha, Katar.

Im Laufe dieser Entfremdung wird der Westen zunehmend in der Golfregion als ausgehöhltes, leeres Konstrukt wahrgenommen, das zwar als moralisierender Besserwisser auftrete, aber kaum eigene konstruktive Ideen vermittle, um die fragile Sicherheitssituation im Nahen und Mittleren Osten zu stabilisieren. Stattdessen hätten die USA und ihre europäischen Verbündeten dazu beigetragen, die Konflikte anzuheizen, so viele golfarabische Beobachter, und verweisen auf das Debakel in Afghanistan, den Krieg im Jemen oder die Krisen im Irak und in Libyen. Vor diesem Hintergrund haben sich Ressentiments und Vorbehalte, Stereotype und Klischees gegen den sogenannten „Westen“ gebildet, die während der WM noch an Popularität gewannen. Die harsche Kritik aus einigen europäischen Ländern – darunter vor allem Deutschland – an der strukturellen Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen, der rechtlichen Ungleichbehandlung von Frauen und der strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern der LGBTQ-Gemeinschaft führte in Katar und weiten Teilen der arabischen Welt zu einem Abwehrreflex, der die Vorbehalte gegen die Misstöne aus dem Westen noch verstärkte. Insbesondere der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani sprach einige Tage vor Beginn des Turniers von einer Diffamierungskampagne und beklagte islamophobe und rassistische Untertöne in der kritischen Betrachtung der WM. Damit gelang es ihm, bereits länger bestehende anti-westliche Gefühle zu revitalisieren und für eigene Zwecke zu nutzen: Mit seiner Gegenreaktion sendete er ein Signal an Teile der arabischen Gesellschaften, die eigenen Reihen gegen externe Anfeindungen zu schließen, eine Wagenburgmentalität zu schaffen und Solidarität mit Katar zu zeigen. Damit setzte der Emir den Ton für die in den folgenden Wochen stattfindende polemische und schrille Debatte zwischen den Befürwortern und den Kritikern der WM, in deren Epizentrum Deutschland geriet. Die Episode um die „One Love“-Armbinde sowie die Geste der deutschen Nationalmannschaft beim Auftaktspiel gegen Japan, sich den Mund zuzuhalten, um gegen die Bevormundung der FIFA zu protestieren, wurden in Katar und anderen arabischen Gesellschaften als Symbole für mangelnden Respekt und moralisierender Bevormundung abgelehnt. Stattdessen folgten hämische Töne nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft, während der deutsche Botschafter in Katar über langfristige Verwerfungen im deutsch-katarischen Verhältnis klagte. Diese Gegenreaktion spiegelt das neue Selbstbewusstsein der Golfmonarchien wider, die die WM als Bühne genutzt haben, um ihre eigenen Erfolge in der sportlichen Entwicklung (wie z. B. Saudi-Arabien) oder als professioneller Gastgeber (wie Katar) der Welt zu präsentieren. Weiterhin hilft den golfarabischen Monarchien der anti-westliche Duktus, um ihren eigenen nationalistischen Führungsstil zu zementieren und sich als starke Anführer gegen Kritiker von außen zu generieren.

Die WM als Katalysator der Versöhnung

Fußballstadion in Katar
Hunderte Fußballfans stehen am Stadion an, um ein Spiel zu schauen.

Darüber hinaus ist den Golfmonarchien daran gelegen, die WM als großes Momentum der gegenseitigen Versöhnung zu nutzen. Bis Januar 2021 hatten sich Saudi-Arabien, die VAE, Bahrain und Ägypten noch in einem Konflikt mit Katar befunden und damals versucht, den kleinen Nachbarn im Rahmen der seit Juni 2017 andauernden Golfkrise zu isolieren. Katar hatte mit einer aktivistischen und ehrgeizigen Regional- und Außenpolitik seit den Aufständen des „Arabischen Frühlings“ 2010/11 die traditionelle Vormachtstellung Saudi-Arabiens und der VAE herausgefordert und sollte nun auf Normalmaß zurechtgestutzt werden. Gleichzeitig bestand wohl das geheime Ziel des Blockadequartetts, Katar als Gastgeber der WM zu diskreditieren, um möglicherweise eine Neuvergabe des Turniers zu erzwingen. Dieses Vorgehen scheiterte: Katar behielt die WM, da es international zu viele schützende Partnerschaften geschlossen hatte. Gezwungenermaßen gaben die regionalen Konkurrenten nach und versuchten, aus der Not eine Tugend zu machen. Seit dem Ende der Krise haben vor allem Saudi-Arabien und Katar ihre Beziehungen schrittweise vertieft: Der katarische Emir zeigte sich der Öffentlichkeit mit der Nationalflagge Saudi-Arabiens, während Kronprinz Muhammad bin Salman im Rahmen der Eröffnungsfeier besonders prominent neben Tamim und dem FIFA-Präsidenten Gianni Infantino platziert wurde. Ein starkes Signal, um die Nähe zwischen den katarischen und saudischen Staatsführern zu unterstreichen. Gleichzeitig aber auch ein Bild mit Symbolkraft, immerhin buhlt Saudi-Arabien um die Gunst der FIFA, möchte man doch 2030 gemeinsam mit Ägypten und Griechenland die übernächste WM ausrichten. Und nicht zuletzt besuchte der emiratische Kronprinz und Präsident Muhammad bin Zayid Al Nahyan Anfang Dezember zum ersten Mal seit der Krise Katar und lobte vor Ort die WM als Turnier für alle Araber. So betonen die einstigen Rivalen die neu gewonnene Einheit, die sich in der Solidarität untereinander im Laufe der WM manifestiert und die regionale Einigkeit zum Ausdruck bringen möchte, während auf der anderen Seite die Vorbehalte gegen die angebliche europäische Doppelmoral instrumentalisiert werden, um dieses Gefühl der Loyalität noch zu verstärken.

Rückkehr zum pragmatischen Umgang?

Doch dieser Weg birgt auch Risiken, immerhin ist die golfarabische Seite nicht langfristig an einer Verwerfung mit europäischen Partnern wie Deutschland interessiert. Zwischen Deutschland und Katar existieren gewachsene und vertrauenswürdige Wirtschaftsbeziehungen, von denen beide Parteien profitieren. Während Katar ab 2026 für einen Zeitraum von 15 Jahren Flüssiggas nach Deutschland liefern wird, wurden auch mit den VAE und Saudi-Arabien Energiepartnerschaften geschlossen. Weiterhin hat Katar in wichtige deutsche Unternehmen wie Volkswagen, die Deutsche Bank oder RWE investiert, während auch Saudi-Arabien daran interessiert ist, deutsche Expertise für die Entwicklung eigener Großprojekte zu gewinnen. Auf der anderen Seite ist in der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik das Bewusstsein gewachsen, trotz aller Unstimmigkeiten und Probleme die Golfmonarchien als wirtschaftliche Partner in Zeiten der Energiekrise mehr denn je zu brauchen.

Die aktuelle Entfremdung steht diesen Zielen entgegen und schadet langfristig beiden Seiten. Vor diesem Hintergrund könnte nach der WM eine Rückkehr zu einem pragmatischen Umgang miteinander allen Parteien nützen und den Blick für konstruktive Felder der Kooperation schärfen. Bevormundung und Überheblichkeit sollten dabei ebenso wenig die Debatte dominieren wie Häme und Schadenfreude. Stattdessen sollte das gewachsene Selbstbewusstsein auf golfarabischer Seite neue Wege der offenen und kritischen Diskussion ermöglichen, indem mit- anstatt übereinander gesprochen wird.