„Unmittelbar nach dem bahnbrechenden Jahr 2000 waren es die Schriftsteller*innen, die begannen, Verbindungen zu schaffen“

Interview

Vladimir Arsenijević, Autor und Direktor des unabhängigen Kulturzentrums KROKODIL in Belgrad, über die historisch-politischen Hintergründe von Serbiens aktueller geopolitischer und kultureller Position zu seinen unmittelbaren Nachbarn und Europa.

Außenwand des Kulturzentrums Krokodil
Teaser Bild Untertitel
An der Außenwand des Kulturzentrums KROKODIL wurde das Wandbild der berühmten ukrainischen Schriftstellerin und Pionierin der ukrainischen Frauenbewegung, Lesia Ukrainka, beschädigt.

Nino Lejava: Die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre waren prägende und traumatische Ereignisse für Ihre Generation serbischer Autor*innen. Welche Überlegungen oder Gefühle haben Sie jetzt, da wir alle Zeugen eines weiteren Krieges am anderen Rand Europas sind, der von Serbiens geopolitischem Verbündeten, Russland, entfesselt wird?

Vladimir Arsenijević: Als die ganze Sache begann, habe ich im Grunde zwölf Stunden gebraucht, um zu verstehen, wie die serbische Öffentlichkeit auf den Krieg reagieren würde; die einzige zusätzliche Ebene zu meiner allgemeinen enttäuschenden, aber richtigen Einschätzung war der allgemeine Mangel an Empathie. Wieso tut es den Menschen nicht leid? Ich meine, wie kann man kein Mitleid empfinden, wenn die Menschen so leiden müssen? Ich habe den Eindruck, dass es einen Teil unserer Gesellschaft gibt, der das Leid und die Zerstörung geradezu bejubelt. Wenn man selbst eine solche Erfahrung gemacht hat und nicht in der Lage ist, es mit anderen Menschen in Verbindung zu bringen, die ähnliches Leid durchmachen - das ist für mich ein Verlust an Menschlichkeit. Das hat nicht einmal etwas mit Serbien zu tun, es ist einfach so, dass die Menschen ihre grundlegendsten menschlichen Bindungen zu anderen verloren haben; das ist für mich eine völlig neue Enttäuschung. Aber wie gesagt, ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich von dieser Gesellschaft nichts mehr erwarte, also denke ich, dass es vielleicht ein Weg ist, mich selbst zu schützen, denn ich möchte nicht mehr desillusioniert werden.

Wir sind als Gesellschaft überhaupt nicht in guter Verfassung. Die Menschen bevorzugen meist einfache Erklärungen und geben der aktuellen Regierung die Schuld. Natürlich ist die derzeitige Regierung schuld, aber ich glaube leider, dass das Problem viel tiefer liegt als das. Es gibt eine depressive Kontinuität in der Art und Weise, wie wir mit unseren geopolitischen Beziehungen und unserer Position in Europa seit dem 19. Jahrhundert umgehen. Außerdem gibt es in Serbien eine Tradition der Skrupellosigkeit in der Politik, die bis in die Zeit zurückreicht, als wir Anfang des 19. Jahrhunderts vom Osmanischen Reich befreit wurden. Die Art der autoritären persönlichen Herrschaft, die Herzog Miloš zu Beginn unseres Landes durchsetzte, wurde zur Norm für alle Politiker der verschiedenen Systeme. Es ist also leicht, dem Neoliberalismus die Schuld zu geben (so wie es früher leicht war, den Sozialismus oder das Königreich davor oder was auch immer zu beschuldigen), aber dieses spezifische Problem hat kaum etwas mit globalen politischen Systemen zu tun. Es ist tiefer in der serbischen Gesellschaft verwurzelt, es ist die Art und Weise, wie dieses rückständige Patriarchat funktioniert, jenseits und unterhalb aller Ideologien.

Die Desillusionierung, von der ich spreche, hat tiefe Wurzeln. Es gab eine winzige Zeitspanne nach dem bahnbrechenden 5. Oktober 2000, als die Herrschaft von Milošević gestürzt wurde, und einige Monate vor dem Tod von Franjo Tuđman in Kroatien. Wir wussten, dass es das Ende einer Ära war, es war das Ende der 1990er Jahre, und es gab dieses milleniale Gefühl, dass wir alles neu machen konnten - alles schien zusammenzufallen, das Jahrhundert war zu Ende, das Jahrtausend war zu Ende, und überall gab es wirklich das Gefühl von Zukunft, dass wir neu anfangen können, und wir waren beschwingt. Alle sagten, dass „wir eine richtige Gesellschaft schaffen werden. Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, dass es in der versammelten Menge kein einziges „wir gab, sondern dass es Nationalisten, die Zivilgesellschaft und queere Aktivist*innen gab - und jeder hatte seine eigenen Vorstellungen davon, wie sich diese Gesellschaft entwickeln sollte. Leider gehörten meine eigenen Ansichten in dieser Angelegenheit zu der kleinen Minderheit. Und wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, haben wir uns wieder einmal auf eine Weise entwickelt, die meiner Meinung nach nicht gut für unsere Gesellschaft und ihre Zukunft war.

Im Jahr 2007 schrieben Sie in einem Artikel für die DIE ZEIT über ein gewisses Gefühl der kollektiven Schuld oder Scham, das im serbischen Volk besteht, unabhängig davon, ob es zugegeben wurde oder nicht. Was hat sich seitdem in positiver oder negativer Hinsicht verändert?

Wir erleben seit zwei Jahrzehnten intensiven Geschichtsrevisionismus. Er hat sich in unsere Schulbücher und unser Bildungssystem eingeschlichen, er ist in den Medien zu finden, er taucht beim sonntäglichen Mittagessen auf, er findet in und zwischen Familien statt, er wird überall gefördert. Ich glaube, damals war ich noch etwas optimistisch, denn selbst bei dem hohen Maß an Nationalismus in den frühen 2000er Jahren konnte man die Gräueltaten nicht wirklich leugnen. Das konnte man nicht. Es war offensichtlich, dass Srebrenica und Vukovar geschehen waren.

Für die Generationen, die seither aufgewachsen sind, ist es nicht mehr offensichtlich. Was sie sehen, ist diese lächerlich reduzierte Version unserer jüngsten Geschichte, in der es diese guten Serben gab, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, und dann kam die böse NATO und hat uns einfach weggebombt. Es gibt nichts, was auch nur im Entferntesten mit der Verantwortung für das, was vorher geschah, vergleichbar wäre, und es wird nicht einmal die Frage gestellt, warum in aller Welt ein Bündnis von 18 Ländern ohne Grund gegen einen bestimmten Staat vorgeht. Nichts als eine vereinfachte, lächerliche Version der Ereignisse, die im ganzen Land verbreitet wird, dringt mehr in die Köpfe dieser Menschen. Das ist für mich eine große Veränderung, denn in den letzten zwanzig Jahren haben diese ganzen neuen sogenannten Wahrheiten, emotional aufgeladene „Wahrheiten, die Faktenlage ersetzt und sich in der Gesellschaft festgesetzt. Es wird sehr, sehr lange dauern und sehr harte Arbeit erfordern, um zu versuchen, das Bewusstsein für die Fakten zurückzubringen.

 „Nun, die Russen haben uns nie bombardiert!

Welches sind die historischen und politischen Faktoren, die aus Ihrer Sicht die besondere Haltung Serbiens gegenüber Europa oder der Welt im weiteren Sinne bestimmen?

Die Bombardierung durch die NATO war der letzte Nagel im Sarg des westlich gesinnten Serbiens, denn das aktuelle Narrativ lautet: Die Russen haben uns ja nicht bombardiert! In den letzten Jahren ist ein weiteres, etwas komisches Problem aufgetaucht, nämlich die Frage, wie die Befreiung Belgrads im Oktober 1944 richtig dargestellt werden kann. Belgrad wurde von sowjetischen Streitkräften und jugoslawischen Partisan*innen befreit, aber heutzutage kann man nicht mehr „sowjetisch und „Partisan sagen, also heißt es stattdessen, dass die Russen und die Serben Belgrad befreit haben - während auf den Bildern des Hauptgebäudes der Post eindeutig die sowjetische Flagge weht und daneben die jugoslawische Flagge mit roten Sternen zu sehen ist. Was immer man also von dieser historischen Wahrheit halten mag, sie ist dennoch geschehen, und man muss einen Weg finden, damit umzugehen. Ich denke, das „Russland, das in der serbischen Vorstellung so stark vertreten ist, hat nichts mit dem wirklichen Russland zu tun. Dieses Bedürfnis nach Verbundenheit hat nichts mit politischen Interessen zu tun. Es hat mit gesellschaftlichen  Minderwertigkeitskomplexen und dem Bedürfnis nach einem „älteren Bruder“ zu tun, jemandem, der größer ist als man selbst, der einen beschützt und der immer hinter einem steht. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass Russland Serbien immer unterstützt hat, ganz im Gegenteil, aber das ändert nichts an dieser Illusion, die im Falle Serbiens sehr stark ist.

Dies wiederum hängt mit einem anderen Thema zusammen - mit der Kosovo-Frage und dem Mythos von Sieg und Niederlage. Es ist möglich geworden, zu behaupten, dass die Serben immer wieder verlieren, und dies in diesen Erzählungen zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen. Das Problem dabei ist, dass selbst wenn Putin diesen Krieg verliert, dies in den Köpfen der Serben zu einem Sieg“ wird, weil größere Kräfte im Spiel waren und er vom bösen Westen verraten wurde“. Bei diesem Narrativ geht es nicht um das ukrainische Volk, sondern um die Amerikaner, die sich gegenüber Russland verkriechen“. Was das ukrainische Volk will oder braucht, wird hier völlig außer Acht gelassen. Meiner Meinung nach gehört es zur Autonomie einer Nation, selbst zu entscheiden, ob sie Mitglied der NATO sein will oder nicht. Aber dieses Narrativ berücksichtigt nicht die mehr als 40 Millionen Ukrainer*innen, es konzentriert sich nur auf diesen größeren Kampf zwischen der „westlichen“ und der „östlichen“ Welt.

Spaces of Freedom

Die Vereinigung KROKODIL hat literarische Aufenthaltsstipendien in Belgrad für den Zeitraum Oktober 2022 bis Juni 2023 ausgeschrieben. Die öffentliche Ausschreibung richtet sich an ukrainische Literaturschaffende – Prosaiker*innen, Dichter*innen, Essayist*innen, Übersetzer*innen, Redakteur*innen, Kulturjournalist*innen, Comic-Autor*innen, Theoretiker*innen, Kolumnist*innen, Liedermacher*innen, Rapper*innen, Spoken-Word-Künstler*innen usw. Es richtet sich sowohl an Literaturschaffende aus der Ukraine als auch an solche, die sich bereits im Exil befinden. Das Projekt wird unterstützt von: Die Europäische Kulturstiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung Belgrad, FRIDA und vom Frauenkollektiv Pobunjene čitateljke.

Das Writer-in-Residence-Programm von KROKODIL ist seit 2012 als einziges kontinuierliches Residenzprogramm für Schriftsteller*innen in Serbien aktiv und hat bisher mehr als 110 Schriftsteller*innen aus 20 Ländern aufgenommen. Um diesen Raum auch Literaturschaffenden und Kulturschaffenden aus der Ukraine anbieten zu können, beschloss KROKODIL, alle regulären Aktivitäten seines laufenden Programms einzustellen und es als sicheren Hafen für gefährdete Kreative aus diesem vom Krieg zerrütteten Land zu sichern.

Der Verein KROKODIL, eine unabhängige Organisation aus Belgrad mit literarischen, künstlerischen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten, bietet ukrainischen Literaturschaffenden Unterschlupf und Unterstützung sowie andere Aktivitäten, einschließlich der persönlichen Übergabe von humanitärer Hilfe an das städtische Perinatalzentrum in Charkiw.

Welchen Einfluss kann ein Schriftsteller heute, in diesem sehr feindseligen und zersplitterten kulturellen Kontext, auf die gesellschaftlichen Prozesse nehmen, wenn es um die Verantwortung für den Umgang mit schwierigen politischen Themen geht?

Nun, die gesamte Realität ist sehr fragmentiert, und wir müssen erkennen, dass dies die Welt ist, in der wir jetzt leben. Wir sind teilweise dankbar für die Dinge, die wir in den letzten Jahrzehnten von der technologischen Seite unserer Zivilisation erhalten haben, aber wir müssen immer noch Wege finden, um zu lernen und uns an diese neuen Realitäten anzupassen. Wir als Spezies kommen nur schwerfällig mit den neuen Kommunikationsmitteln zurecht, die uns die Technologie geboten hat, aber es braucht wahrscheinlich diese Generationen von Kindern, die noch aufwachsen, die nicht mit einigen früheren Realitäten verbunden sind, um diese Sache ein bisschen besser zu steuern als wir.

Ich denke auch an die aktuelle Protestwelle in Belgrad, die durch die Berichterstattung der Tageszeitung Informer über einen Vergewaltiger und das anschließende reißerische Interview ausgelöst wurde - wie vor allem Frauen und auch einige sympathisierende Männer über verschiedene feministische Gruppen reagierten. Es war klar, dass einige jüngere Schriftstellerinnen nicht nur aktiv, sondern entscheidend für diese Bewegung waren, solche wie Radmila Petrović oder Lana Bastašić, die die ganze Zeit mit Megaphonen vor Ort waren, weil sie beschlossen hatten, dass es nicht reicht, etwas auf Facebook zu posten, sondern dass man in bestimmten Krisen einfach auf die Straße gehen muss. Und zum Glück haben sie das getan. Das vermittelte das Gefühl, dass sie etwas erreicht haben. Am wichtigsten ist, dass die Zeitung Informer in der Öffentlichkeit beschämt wurde. Ich bedauere nur, dass es überhaupt noch Zeitungen gibt, die tagtäglich solche giftigen Inhalte produzieren. Wenn man in Belgrad an irgendeinem Kiosk vorbeigeht, wird man mit solchem Zeug vergiftet. Dergleich skandalöse Berichterstattung über den Vergewaltiger brauchte eine vergleichbare Reaktion. Es ist gut für uns, dass diese Frauen reagiert haben, aber wir hätten schon lange vorher auf diese Art von Sensationsmedien reagieren müssen, dann wäre dieser Vorfall vielleicht nie passiert.

Sie verfügen über eine breite Erfahrung als Gründer und Organisator eines jährlichen Literaturfestivals. Gibt es nach all dem Zerfall und den Kriegen jetzt wenigstens neue kulturelle Räume, in denen die Menschen in der Region zusammenkommen können?

Unmittelbar nach jenem bahnbrechenden Jahr 2000, in dem die Kommunikation plötzlich wieder möglich wurde, waren es die Schriftsteller*innen, die begannen, Verbindungen zu schaffen. Zehn oder fünfzehn Jahre zuvor waren es die Autor*innen, die eine Atmosphäre für den Krieg schufen, aber es waren Schriftsteller*innen mit einer anderen Mentalität. Im Jahr 2000 kehrte ich aus dem mexikanischen Exil zurück und beschloss, den Verlag Rende zu gründen, weil wir zeitgenössische regionale Autor*innen veröffentlichen wollten. Ich war mir bewusst, dass es Generationen von Schriftsteller*innen gab, die in Kroatien, Slowenien, Bosnien und im Kosovo aufwuchsen und zu denen wir keinen Kontakt hatten. Und die serbische Leserschaft hatte keine Ahnung, was in diesen Ländern vor sich ging.

Wir fingen an, das Konzept der Region zu begreifen - wir konnten jede Art von getrennten Identitäten intakt lassen, aber es würde immer noch eine gemeinsame Sprache geben, als ein wichtiges verbindendes Element für Bosnien, Serbien, Montenegro und Kroatien.  Sie können es nennen, wie Sie wollen, aber wir verstehen uns einfach. Im gesamten Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gibt es eine ähnliche Sensibilität und die Erkenntnis, dass wir einen wichtigen Teil der Geschichte teilen. Heutzutage würden selbst die hartgesottensten Nationalist*innen niemals nach Bosnien reisen und es als „Ausland" betrachten. Oder nach Slowenien, trotz der sprachlichen Unterschiede. Sie müssen die ehemaligen Grenzen überschreiten, um sich im Ausland zu „fühlen". Ungarn ist also im Ausland, Österreich ist im Ausland, Italien ist im Ausland, aber Nord-Mazedonien ist nicht im Ausland, es ist etwas Anderes. Für mich ist das die Qualität der Region. Das ist etwas, das sehr dynamisch und spielerisch ist, das viele kreative Möglichkeiten bietet, und das wir schätzen und teilen können.

Als ich also mit KROKODIL anfing, war das nur eine Fortsetzung dieser Idee, dass es regionale Literatur gibt, die sehr vielfältig ist, und dass diese Menschen gerne zusammenkommen. Viele Menschen aus der Region sind befreundet, und sie überwinden nationale Spannungen. Das sind also die Dinge, die es sehr wohl wert sind, weiter entwickelt zu werden. Wir haben viel an der Idee der gemeinsamen Sprache gearbeitet, und das Ergebnis war die Erklärung zur gemeinsamen Sprache, die in der ganzen Region eine Vielzahl von Reaktionen hervorgerufen hat. Und wissen Sie, wenn Sie sehen, wie diese nationalistischen Eliten sich aufregen und sagen, diese Art von Aktion sei nicht wichtig - für uns zeigt die Tatsache, dass sie so reagieren, dass sie es doch ist! Und das Krokodil-Festival ist für uns jedes Jahr aufs Neue ein Beweis dafür, dass sich die Menschen wirklich nach solchen Verbindungen sehnen. Und das wiederum sollte nichts mit der Anerkennung der Tatsache zu tun haben, dass wir in getrennten Ländern und getrennten Gesellschaften leben, dass wir all diese nationalen Identitätskennzeichen haben, wie Pässe und Wappen und Flaggen und Nationalhymnen und was auch immer. Es gibt noch eine andere Ebene unserer Kommunikation, die integrativ ist. Wir möchten auf die Anerkennung der Literatur und der Sprache hinarbeiten - und nicht auf eine nationale oder sogar ethnische Auswahl von Literatur.

Als wir anfingen, über dieses Thema in einem breiteren europäischen Rahmen nachzudenken, sahen wir, wie schmalspurig die Dinge überall geworden sind. Wenn man auf die Leipziger Buchmesse geht, gibt es nur eine Möglichkeit, sich zu präsentieren - in der Kategorie „nationale" Literatur. Ich glaube nicht, dass sich die Mitglieder der DADA-Bewegung in den 1920er Jahren als Rumänen, Deutsche oder Österreicher verstanden haben. Nein. Sie erkannten sich als DADA. Die Surrealisten haben sich als Surrealisten verstanden. Und die Menschen verbündeten sich auf völlig unterschiedlichen Ebenen durch Identifikationen statt durch Identitäten - aber irgendwie wurde diese Eigenschaft durch ein übermächtiges nationales Etikett überschattet. An der Leipziger Buchmesse kann man nur teilnehmen, wenn man sich entscheidet, die serbische Literatur zu vertreten. Wir wollten wirklich fragen, ob wir nicht einfach etwas Anderes präsentieren können, und wir haben es sehr geschätzt, dass die deutsche Botschaft uns zu Gesprächen eingeladen hat.

Als Deutschland auf der Belgrader Buchmesse im Mittelpunkt stand, präsentierten sie nicht die deutsche Literatur, sondern die Literatur deutscher Sprache. Sie luden Österreich, die Schweiz und Liechtenstein zur Teilnahme ein, und für uns war das ein Augenöffner: vier Länder, eine Sprache. Sie alle präsentierten sich als Schriftsteller*innen in deutscher Sprache. Es gab keine österreichische Sektion hier, eine liechtensteinische Sektion dort. Es war einfach alles durcheinander. Und es war wirklich schön. Und für das Publikum war es intensiv. Es hat eine Weile gedauert, bis sie verstanden haben, was eigentlich passiert ist. Es war eine Art von Alchemie, die sie nicht gewohnt waren. Das ist etwas, das wir als Quelle der Inspiration und der Möglichkeiten betrachtet haben. Ich sage nicht, dass dies die nationalistischen Eliten in allen vier Ländern beseitigen wird, aber es macht das Gesamtbild zumindest etwas bunter und vielschichtiger.

„Eine neue, jüngere Generation von selbstbewussten, pointierten Schriftstellerinnen“

Als Sie die Situation mit dem Protest um die Zeitung Informer beschrieben, erwähnten Sie zwei Schriftstellerinnen, die die neue Generation repräsentieren. Könnten Sie noch mehr von ihnen nennen?

Glücklicherweise gibt es in der gesamten Region viele Autorinnen - eine neue, jüngere Generation von selbstbewussten, pointierten Schriftstellerinnen.  Sie setzen sich über all diese Hindernisse hinweg, sie strecken die Hand aus, sie kommunizieren, sie scheren sich nicht viel um diese Identitätsgrenzen - seien es ethnische, nationale Identitäten usw. Rumena Bužarovska aus Nord-Mazedonien ist wahrscheinlich die prominenteste Vertreterin auf dem globalen oder zumindest dem europäischen Literaturmarkt. Ihr Werk wurde von großen Verlagen in der ganzen Welt veröffentlicht. Lana Bastašić wurde mit dem EU-Literaturpreis ausgezeichnet, woraufhin ihr Werk in zahlreichen Übersetzungen in der ganzen Welt veröffentlicht wurde. Lejla Kalamujić aus Bosnien und Herzegowina ist eine queere Autorin, die sehr furchtlos, mutig und kämpferisch, aber auch sehr sensibel und emotional schreibt. Olja Savičević-Ivančević aus Kroatien, Radmila Petrović; die Liste geht weiter und weiter.

Vor zwei Jahren, in der Zeit der totalen Covid-Sperre, haben wir beschlossen, das Festival trotzdem zu veranstalten, und zwar als eine weibliche Version des Festivals. Wir wussten einfach nicht, wo wir anfangen sollten. Es gab so viele spannende literarische Namen auf der Liste der Schriftstellerinnen in der ganzen Region, vor allem, wenn wir die Schriftstellerinnen aus Nord-Mazedonien und Slowenien mit einbeziehen. Diese Schriftstellerinnen können wir nicht ohne Übersetzungen lesen (wir können es in gewisser Weise, aber es ist nicht dieselbe Sprache), also werden die Werke von Autorinnen wie Rumena Bužarovska im mazedonischen Original für uns übersetzt. Aber wenn sie hierherkommt, ist sie trotzdem keine ausländische Autorin". Außerdem sind sie alle sehr eng befreundet, sie halten zusammen. Viele von ihnen habe ich bereits erwähnt, Lejla Bastašić hatte auch eine ziemlich große Anerkennung in Bezug auf Übersetzungen; Asja Bakić, ebenfalls aus Bosnien,  hatte eine ziemlich breite Leserschaft in den Vereinigten Staaten. Es gibt also zahlreiche Frauen, und das macht die Gegenwartsliteratur in unserer Region sehr interessant und uns viel einfacher, sich mit ihr zu identifizieren, als alles andere, was auf der gesellschaftlichen Ebene passiert.


Die deutsche Version ist eine redigierte Automatikübersetzung aus dem Englischen mit Hilfe von deepl.com.

Der Artikel erschien zuerst auf rs.boell.org