Verschwörungstheorien und Gewalt: Tunesien rutscht tiefer in die Krise

Analyse

Nach einer Rede von Präsident Saied kommt es in Tunesien zu einer Welle an Gewalt gegen Migrant*innen, und zahlreiche von ihnen werden verhaftet. Wirtschaftssanktionen afrikanischer Länder und die Suspendierung der Arbeit der Weltbank zwingen die Regierung zum Einlenken. Doch der Schaden ist bereits angerichtet

"Usman Siseh und Richard Fomjeh aus Sierra Leone und Eric Zewolo aus Liberia leben seit zwei Wochen auf der Straße vor dem Hauptqaurtier der internationalen Organisation für Migration (IOM). Sie berichten von Drohungen und Steinwürfen auf den Straßen von Tunis."
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Usman Siseh und Richard Fomjeh aus Sierra Leone und Eric Zewolo aus Liberia leben seit zwei Wochen auf der Straße vor dem Hauptqaurtier der internationalen Organisation für Migration (IOM). Sie berichten von Drohungen und Steinwürfen auf den Straßen von Tunis.

Als Birikhabosse Camera am Abend des 21. Februar 2023 auf sein Telefon schaut, traut er seinen Augen kaum. In den wenigen Minuten, die der Mann aus Guinea-Conakry auf einem Fußballplatz in Sfax verbracht hatte, waren mehr als 100 Anrufe auf seinem Handy eingegangen. Jeden Dienstag treffen sich in der Hafenstadt tunesische und westafrikanische Jugendliche zum Fußballspielen und bauen so Konflikte zwischen den beiden Gruppen ab. „Mir war sofort klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste“, sagt der ehrenamtliche Sozialarbeiter und Fußballfan aus Guinea. „Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, kommt es mir vor, als hätte ich im Vergleich zu heute in einem anderen Land gelebt.“ Die verpassten Anrufe stammten von Landsleuten, die den in Sfax als „Camera“ bekannten 25-Jährigen vor einer Verhaftungswelle warnen wollten. Im 290 Kilometer entfernten Tunis hatte die Polizei am Mittag damit begonnen, Schwarze Menschen aus Straßenbahnen und Bussen heraus zu verhaften. „Meine Freund*innen in Tunis berichteten, dass Studierende und Migrant*innen mit und ohne Arbeitserlaubnis in Sammeltransportern in das Gefängnis Boushousha gebracht würden. Niemand verstand, warum das passierte.“

Birikhabosse Camera mit dem tunesischen Aktivisten Omar ben Amor in Sfax. Sie engagieren sich in der Hafenstadt Sfax für das Zusammenleben von Migrant*innen und Tunesier*innen. Beide fürchten, dass die Gewalt gegen Migrant*innen auch nach dem Ende der Verhaftungswelle weiter geht
Birikhabosse Camera mit dem tunesischen Aktivisten Omar ben Amor in Sfax. Sie engagieren sich in der Hafenstadt Sfax für das Zusammenleben von Migrant*innen und Tunesier*innen. Beide fürchten, dass die Gewalt gegen Migrant*innen auch nach dem Ende der Verhaftungswelle weiter geht

Am nächsten Tage begann die Polizei auch in Sfax mit Verhaftungen von Migrant*innen auf offener Straße und der Schließung des so genannten afrikanischen Marktes, wo Händler*innen aus der Elfenbeinküste, Kamerun, Mali und Guinea-Conakry Waren anbieten. Begonnen hatte die Kampagne der Sicherheitskräfte mit einem gewöhnlich anmutenden Treffen des unregelmäßig tagenden Nationalen Sicherheitsrates im Präsidentenpalast. Die tunesischen Medien hatten in den Tagen zuvor über die Verhaftungen mehrerer Rechtsanwält*innen, Richter*innen, einflussreicher Geschäftsleute und Politiker*innen berichtet. Der merklich wachsende Widerstand gegen seine zunehmend autokratischen Maßnahmen schien den Juristen Saied jedoch nicht übermäßig zu beunruhigen. Mit gezielten Falschmeldungen über angebliche Funde von subventionierten Waren in den Kellern von verhafteten Oppositionellen, hatte er die vermeintlich Schuldigen für die zuvor über Monate leeren Supermarktregale benannt. Ende Februar konnten Waren des täglichen Bedarfs wie Zucker und Kaffee wieder eingekauft werden. Kais Saied erschien in dieser Krisensituation vielen wieder als der einzig vertrauenswürdige Politiker des Landes – der äußerst geringen Wahlbeteiligung von 11 Prozent bei den Parlamentswahlen im Dezember 2022 zum Trotz.

Reformdruck durch den IWF

Doch hinter den Mauern des Palastes in Tunis-Karthago schwelt eine existentielle Krise. Das ehemalige Vorzeigeland des arabischen Frühlings steht unmittelbar vor einem Staatsbankrott. Eine Möglichkeit ist, diesen durch einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) abzuwenden. Dessen Bewilligung liegt jedoch in weiter Ferne, da Tunesien die vom IWF formulierten Voraussetzungen dafür nicht erfüllt. Im Zentrum steht eine Übereinkunft zwischen der landesweit größten Gewerkschaft UGTT, der Regierung, dem Präsidenten und dem Arbeitgeberverband UTICA. Die Expert*innen des IMF halten diese für notwendig, um Entlassungen in der seit 2011 aufgeblähten staatlichen Verwaltung gesellschaftlich tragfähig zu machen. Doch Saied schlug in den vergangenen Monaten immer schärfere Töne gegen seine Kritiker*innen wie dem großen Gewerkschaftsverband UGTT an. So bezeichnete er sie beispielsweise als „Feind des Volkes“, „Verräter“, und „Diebe“. Mit einer Fortsetzung dieser Tirade hatte die Öffentlichkeit auch am 21. Februar 2023 gerechnet. Doch es kam noch schlimmer. Saied hatte den Nationalen Sicherheitsrat einberufen, bestehend aus dem Präsidenten, Vertreter*innen der Nationalgarde und der Regierung, um über den vermeintlich zu großen Zustrom irregulärer Migrant*innen aus Subsahara-Afrika zu sprechen. Dahinter stünde eine Verschwörung unbekannter Mächte, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts mit dem Ziel vorbereitet worden sei, die demografische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern, so Said. Verschiedene Akteure hätten seit 2011 große Geldsummen erhalten, um Tunesien durch die Ansiedlung irregulärer Einwanderer*innen in ein „rein afrikanisches Land“ zu verwandeln und seine arabische und islamische Identität verschwinden zu lassen. Er wies an, irregulärer Einwanderung ein Ende zu setzen.

Tunesien als Opfer einer großen Verschwörung

In den Tagen vor Saieds Rede über den „großen Bevölkerungsaustausch“ waren auf den persönlichen Facebookseiten vieler Tunesier*innen Videos aufgetaucht, die vermeintlich kriminelles Verhalten von Migrant*innen zeigten. Keine noch so abwegige Theorie schien abwegig genug, um verbreitet zu werden. „Die Migrant*innen essen zu viel Reis“ hieß es in einigen, andere sollen das Drucken von Banknoten zeigen, mit denen Migrant*innen den Dinar, die tunesische Währung, geschwächt hätten. Wie im Falle der verhafteten Oppositionspolitiker*innen wurde ein Zusammenhang zwischen Migration und den leeren Supermarktregalen suggeriert. Auch alte Videos von gewaltsamen Übergriffen auf Migrant*innen wurden geteilt und als aktuelle verbreitet. „Les Africaines“ (frz.: die Afrikaner*innen) in Tunesien stammen mehrheitlich aus der Elfenbeinküste, dem Senegal und Guinea. Seit 2015 können Studierende und Tourist*innen ohne Visum nach Tunesien einreisen. Private Universitäten haben sich seitdem zu einer boomenden Wirtschaftsbranche entwickelt. Seit der Vergabe des Friedensnobelpreises an das so genannte Quartett, einer Allianz mehrerer gesellschaftlicher Organisationen, hat sich Tunesien dank seiner Willkommenskultur trotz der Tourismusflaute zu einem Hub für den Austausch zwischen dem Mittleren Osten, Subsahara-Afrika und Europa entwickelt. „In keiner anderen Stadt der Region konnten sich Studierende, Migrant*innen, internationale NGOs, aber auch Diplomat*innen so frei bewegen wie in Tunis“, so der deutsch-libysche Start-Up-Unternehmer Mehemed Bugsea, der versucht, junge IT-Spezialist*innen aus der ganzen Welt nach Tunis zu holen.

Queen und Emanuel aus der nigerianischen Provinz Biafra sitzen mit einem Kind auf einem Sofa
Queen und Emanuel aus der nigerianischen Provinz Biafra leben seit 6 Jahren in Tunesien. Sie arbeiten und mieten eine Wohnung, eine Aufenthaltsgenehmigung wurde ihnen allerdings bisher immer verwehrt. Ihren UNHCR-Asylkarte wird von den tunesischen Behörden bisher nur inoffiziell anerkannt

Die staatlichen Medien sprechen davon, dass sich circa eine Million Migrant*innen aus Subsahara-Afrika in Tunesien befinden. Tatsächlich dürften es nicht mehr als 25.000 Menschen sein (2021 zählte das tunesische Institut National de Statistique knapp 21.500 Personen), die nach der maximalen visumfreien Aufenthaltsdauer von drei Monaten meist ohne legale Aufenthaltsgenehmigung in der südlichen Küstenstadt Zarzis, in Sfax und Tunis leben. Doch es gibt auch Schwarze Tunesier*innen, die vorwiegend in den südtunesischen Städten Gafsa, Kilibi und Medenine leben. Auch sie sind, mal offen, mal latent, Rassismus ausgesetzt. Aber auch Herkunftsdiskriminierung ist jenseits von Rassismus eine Diskriminierungserfahrung junger Tunesier*innen. Vorurteile gegen Bewohner*innen aus armen Hauptstadt-Vororten wie Ethadamen und Melassine haben zugenommen. Wer von dort kommt oder danach aussieht, wird auf der Avenue Bourguiba, der Flaniermeile im Zentrum von Tunis, mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer der vielen Polizeistreifen in Zivil aufgehalten und befragt. „Für Tunesier*innen gehört Diskriminierung in allen möglichen Formen zu ihrem Alltag“, sagt die Journalistin Tharwa Boulifi. „Dass sich die Wut über die eigenen miesen Perspektiven aber so konzertiert und in wenigen Tagen auf eine Gruppe wie die Migrant*innen richten könnte, hielt ich bisher nicht für vorstellbar.“

Die Hintermänner

Hinter der plötzlich medial allgegenwärtigen Angst vor Migrant*innen scheint eine sehr wirksam agierende Splitterpartei zu stecken. Die Bekanntheit der „Nationalistischen Partei Tunesiens“ basiert auf den Medienauftritten einer kleinen Gruppe von national-konservativen Aktivist*innen aus Tunis. Ihr strategischer Kopf ist Sofien Ben Sghaier. Der 43-Jährige widmete sich in seinen stets polarisierenden Videos zwei Jahre lang den anhaltenden Folgen der französischen Kolonialzeit und dem Einfluss französischer Firmen in Tunesien. Seit Januar 2023 thematisieren die Videos von Sofien Ben Sghaier, dem man eine persönliche Nähe zum Präsidenten nachsagt, jedoch verstärkt die Theorie des großen Bevölkerungsaustausches. In den zwei Wochen vor der Rede Saieds am 21. Februar 2023 im Nationalen Sicherheitsrat schnellten die Aufrufzahlen der Facebook-Seite der Nationalistischen Partei in die Höhe. Zur gleichen Zeit tauchten die Videos über die angebliche Kriminalität von Migranten*innen auf den Facebook-Seiten vieler Tunesier*innen auf. „Zuvor war dies nie der Fall“, wundert sich die Aktivistin Marwa Soltani. In ihren Botschaften ruft die Nationalistische Partei Tunesiens dazu auf, für die „Rettung“ Tunesiens aktiv zu werden, wie es auch Kais Saied während seines Putsches im Juli 2021 getan hatte.

Welle von Gewalt

Der geschürte Hass führte zu gewaltsamen Übergriffen auf Migrant*innen, deren Ausmaß bisher nur zu erahnen ist, da die meisten Betroffenen ihre Erfahrungen nicht in sozialen Medien oder mit Fremden teilen. Die von Augenzeug*innen beobachteten Fälle sind jedoch erschreckend. Am 23. Februar 2023, als bereits mehrere tausend Menschen mit Gewalt aus ihren Häusern vertrieben worden waren, weil Vermieter*innen Angst vor Strafen hatten, Plünderungen stattfanden und die Verhaftungswelle im vollen Gang war, präzisierte Kais Saied schließlich die Absicht seiner Rede: Die legal im Land lebende Migrant*innen könnten bleiben. Nach offiziellen Angaben sollen es 5400 sein. Es ginge nur ihm um die Einhaltung gültigen Rechts. Doch zu diesem Zeitpunkt saßen bereits zahlreiche Migrant*innen mit einer gültigen „Carte de Sejour“ (Aufenthaltsgenehmigung) im Gefängnis. Dabei zielten die von Saied angestoßenen Maßnahmen nur auf „undokumentierte“ schwarze Migrant*innen. Reisen Europäer*innen mit einem Touristenvisum nach Tunesien ein und überschreiten die maximale Aufenthaltsdauer von drei Monaten, zahlen sie, auch wenn sie in Tunesien arbeiten, nach längerem Aufenthalt einfach die pro Monat fälligen 24 Euro Strafgebühr und bleiben in der Regel unbehelligt.

Nach dem Schock der Protest

Nach mehreren Tagen des Schocks organisierte sich der Widerstand eines Teils der tunesischen Zivilgesellschaft. Am 25. Februar 2023 protestierten rund 1000 vorwiegend junge Menschen gegen die Maßnahmen und Wortwahl Saieds. Auf ihren Plakaten forderten sie „Solidarität mit unseren afrikanischen Brüdern und Schwestern“ und positionierten sich „Gegen Faschismus“. Doch auch hier wurden die Früchte der Desinformation in den sozialen Medien sichtbar: So beschimpfte beispielsweise ein älterer Herr die sichtlich empörten Demonstrant*innen als Mittäter*innen im Migrations-Komplott gegen Tunesien. „Man kann auf der Straße tagtäglich sehen, dass die Strategie, die Migrant*innen zum Sündenbock zu machen, funktioniert“, sagt die Journalistin Boulifi. „Sie stößt auf eine von Preiserhöhung und Mangelwirtschaft gestresste Bevölkerung, die in jeder Form des starken Handelns einen Fortschritt sieht und durch unkontrollierte soziale Medien und Falschmeldungen leicht zu beeinflussen ist.“

An den letzten zwei Wochenenden haben in Tunis Demonstrationen gegen die Rhetorik und das Vorgehen des tunesischen Präsidenten und seinen Sicherheitskräften stattgefunden.
An den letzten zwei Wochenenden haben in Tunis Demonstrationen gegen die Rhetorik und das Vorgehen des tunesischen Präsidenten und seinen Sicherheitskräften stattgefunden.

Das Schweigen Europas

Vor dem Theater auf der Avenue Bourguiba diskutieren einige Demonstrierende, ob der Besuch des italienischen Außenministers im Zusammenhang mit dem Beginn der Kampagne stünde. „Migration ist ja eine Plage für Italien und Tunesien gleichermaßen“, erklärte der italienische Außenminister Antonio Tajani am 18. Januar 2023 während seines Treffens mit Präsident Saied in Tunis. Aus rechten Kreisen in Italien und Frankreich erhält Said viel Zuspruch für das Vorgehen gegen illegale Migration. Auffällig zurückhaltend reagierten dagegen bisher Politiker*innen und Diplomat*innen anderer europäischer Staaten.

Das Präsidialamt rudert zurück

Während eines Treffens des Friedens- und Sicherheitsrates der Afrikanischen Union am 3. März 2023 versichert der tunesische Vertreter den Schutz der Afrikaner*innen in Tunesien und bittet um Versöhnung. Das ist auch eine Reaktion auf die Ankündigung von Wirtschaftssanktionen verschiedener afrikanischer Länder. Die Weltbank suspendiert mit Verweis auf die Folgen der Rede des Staatspräsidenten bis auf Weiteres ihre Arbeit in Tunesien. Noch am selben Abend gibt das Präsidialamt eine Reihe von Maßnahmen bekannt: Aufenthaltstitel für Studierende, ein Moratorium für Strafzahlungen wegen Überziehung der Aufenthaltsdauer von Migrant*innen, um dadurch die Ausreise von rückkehrwilligen Menschen in ihre Herkunftsländer zu erleichtern, soziale, medizinische und psychologische Betreuung durch das Tunesische Rote Kreuz und seine Partner soll erfolgen, die Einrichtung eines Notfalltelefons, wo auch Missbrauch und Misshandlung angezeigt werden kann, sowie Maßnahmen gegen Menschenhandel und andere Formen der Ausbeutung von Ausländer*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Es wird auf das Gesetz gegen Rassismus aus dem Jahr 2018 verwiesen. Doch Migrant*innen und Aktivist*innen sehen die am vergangenen Sonntag erlassenen Maßnahmen kritisch. „Die Diskriminierung gegen Schwarze Menschen geht nun nicht mehr staatlich sanktioniert von der Polizei aus, aber sind sie vor Übergriffen von einfachen Bürger*innen geschützt?“, fragt Aktivistin Soltani mit Blick auf die Lage ihrem Stadtteil Bardo in Tunis. „Die latente Wut der Tunesier*innen über die Wirtschaftskrise ist nun wie ein Geist aus der Flasche gelassen worden.“ Jenseits davon, dass die angekündigten Maßnahmen in der Gesellschaft und den Institutionen breit mitgetragen werden müssen, sind zur Umsetzung die Bereitstellung entsprechender Ressourcen notwendig. Das erscheint in der gegenwärtig angeheizten Stimmung kaum umsetzbar. Tunesien muss um Anerkennung als würdiges Mitglied in der Afrikanischen Union erneut werben. Für das Land steht viel auf dem Spiel: gesellschaftlicher Zusammenhalt, Identität, internationale Reputation und die Lösung einer tiefen Wirtschafts- und Zahlungskrise.