Selbstverständlich europäisch!? 2023

Zusammenfassung

Die Bundesregierung soll aktive und kooperative Europapolitik betreiben. Bisher wird sie diesem Versprechen nach Meinung der Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht. Das zeigt unsere Studie zur Rolle Deutschlands in der EU. ► Zu allen Inhalten der «Selbstverständlich europäisch?!» Studie.

Eine Person schwenkt eine Europa Flagge

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag einer „aktiven Europapolitik“ und einem „konstruktiven Gestaltungsanspruch“ in der EU verschrieben. Das letzte Jahr war auf EU-Ebene jedoch vom Krisenmanagement in Folge des Angriffskriegs von Russland überschattet. Bei der Unterstützung der Ukraine oder in der Energiepolitik erwies sich die EU in vielen Punkten als handlungsfähig, allerdings waren die Gestaltungsmöglichkeiten häufig im engen Korsett der Krisen gefangen. In der Verteidigungsfähigkeit und dem klimaneutralen Umbau der Industrie steht die EU weiter vor enormen Herausforderungen. In diesem Kontext untersucht die fünfte Ausgabe der Langzeitstudie Selbstverständlich europäisch!?, wie die deutsche Bevölkerung die Rolle Deutschlands in der EU beurteilt und welche Erwartungen sie hat.

Die wichtigsten Ergebnisse der repräsentativen Umfrage1

  • Gestaltungsversprechen in der Europapolitik noch nicht eingelöst: 74,6 % der Bürgerinnen und Bürger sind der Meinung, dass die Bundesregierung ihrem Gestaltungsanspruch in der Europapolitik bisher nicht gerecht wird. 19,9 % sagen, dass dieses Versprechen eingelöst wird.

Abb. 1. Ist die Bundesregierung ihrem Anspruch, Europas Zukunft konstruktiv zu gestalten, bislang gerecht geworden?

  • Deutschland soll in Europa aktiver werden: Das Auftreten der Bundesregierung in der EU nehmen 51,6 % der Befragten in letzter Zeit als "weniger aktiv" wahr, 37,1 % empfinden es als "aktiv" – ein Rückgang um 12 % im Vergleich zum Vorjahr. Für die Zukunft wünschen sich 66,6 % ein aktives Verhalten. Zudem befürworten 69,8 % ein kooperatives Auftreten Deutschlands in Europa.
  • Verteidigung und Energie haben höchste Priorität: Bei der Frage nach den drei aktuell wichtigsten Prioritäten für die EU, stimmen die Befragten am häufigsten für Verteidigungsfähigkeit (54,6 %) und Energieunabhängigkeit (50,6 %). Als weitere Bereiche mit hoher Priorität folgen die Inflationsbekämpfung, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, Klimaschutz und soziale Sicherheit.
  • Mehrheit unterstützt EU-Fonds für grüne Industrie: 55,8 % der Bürgerinnen und Bürger würden es begrüßen, wenn die EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Investitionsfonds zur Förderung einer klimaneutralen Industrie schaffen würden. 35,4 % sprechen sich dagegen aus. Abgesehen von der AfD, gibt es im Lager aller Parteien eine (relative) Mehrheit für den Fonds, wobei diese sehr unterschiedlich ausgeprägt sind.

Abb. 2.  Sollten die EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Investitionsfonds für eine klimaneutrale Industrie schaffen? Gesamtbevölkerung und nach Parteipräferenz

  • Vorteile der EU-Mitgliedschaft überwiegen: Auch in diesem Jahr überwiegen für eine Mehrheit (58,7 %) die Vorteile der EU-Mitgliedschaft Deutschlands. 37,7 % sehen allerdings mehr Nach- als Vorteile – ein Plus von 7 % im Vergleich zu 2022. Im Besonderen sind die Befragten vom politischen Nutzen der EU überzeugt: 61 % sagen, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann (vgl. Abb. 3. Kann Deutschland seine politischen Ziele eher mit der EU oder ohne die EU erreichen?). Den wirtschaftlichen Nutzen der EU sehen hingegen derzeit nur 46,2 % der Befragten. Dies entspricht einem Rückgang von 2,6 %, der in der derzeitigen allgemeinen wirtschaftlichen Verunsicherung begründet liegen könnte.

Abb. 3. Kann Deutschland seine politischen Ziele eher mit der EU oder ohne die EU erreichen?

Trends und politische Empfehlungen

  • Europa in der Krise aktiv gestalten: Die Umfrageergebnisse können als ein starkes Plädoyer der Bürgerinnen und Bürger für ein aktives und kooperatives Auftreten Deutschlands in der Europapolitik gewertet werden. Kurzfristiges Krisenmanagement und langfristige Zukunftsgestaltung sollten kohärent in europäischen Lösungen miteinander verbunden werden.
    Der Gestaltungsanspruch der Bundesregierung kann durch eine Stärkung der europäischen Souveränität in Energie-, Wirtschafts- und Verteidigungsfragen, eine konsequente Klimapolitik und institutionelle EU-Reformen umgesetzt werden.
  • Europas soziales Versprechen einlösen: Die Deutschen sehen den politischen Nutzen der EU, doch der Glaube an die wirtschaftlichen Vorteile hat etwas abgenommen. Dieser Trend korreliert mit der allgemeinen Krisenlage und den gestiegenen Zukunftsängsten. Gerade deshalb ist es die Aufgabe der Politik, Europa als wirtschaftliches und soziales Gemeinschaftsprojekt gezielt zu stärken und Sicherheit auch in diesen Bereichen zu gewährleisten.
  • Gemeinsam investieren: Die Bürgerinnen und Bürger sprechen sich wie bereits in den Vorjahren mit großer Mehrheit für gemeinsame Investitionen der EU-Mitgliedstaaten aus (z.B. in Energie, Verteidigung, Klima). Eine Mehrheit unterstützt konkret einen EU- Investitionsfonds zur Förderung einer klimaneutralen Industrie in Europa. Die EU sollte im Wettbewerb um klimaneutrale Technologien auf entsprechende Programme ihrer größten Handelspartner reagieren, dem „European Green Deal“ einen Schub verleihen und die Umsetzung der sozial-gerechten Transformation voranbringen.

Die Studienzusammenfassung als PDF gibt es hier.


1Das Meinungsforschungsunternehmen Civey hat für diese Studie 5.000 Personen im Februar 2023 online befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren. Der Fragebogen wurde u.a. auf Basis von Fokusgruppen konzipiert, die 2019 und 2021 durchgeführt wurden.