Ukraine: Wiederaufbau und Klimaschutz

Interview

Der Wiederaufbau der durch Russlands Krieg zerstörten Ukraine erfordert gigantische Investitionen. Welche Rolle kann der Klimaschutz dabei spielen? Ein Gespräch mit Oksana Aliieva, ehemalige Koordinatorin des Klima- und Energieprogramms im Kyjiwer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung, und Anna Ackerman, Vorstandsmitglied der NGO Ecoaction und Policy Analyst am International Institute for Sustainable Development (IISD). Von Alyona Vyshnytska.

Illustration von Vögeln und rauchenden Schornsteinen
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Klimaschutz und Krieg in der Ukraine

Alyona Vyshnytska: Die Wiederaufbaupläne für die Ukraine umfassen insbesondere den Übergang des Landes zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise mit verringerten Treibhausgasemissionen und einer Umstellung auf erneuerbare Energiequellen. Wie kann das Land trotz anhaltendem Krieg den Wiederaufbau mit dem Ziel der Dekarbonisierung verknüpfen?

Oksana Aliieva (OA): Derzeit konzentriert sich der Wiederaufbauplan hauptsächlich auf die wirtschaftliche Entwicklung, das BIP-Wachstum und die Anziehung von Investitionen. Dies ist auch verständlich, da der Krieg zu einem massiven Wirtschaftseinbruch geführt hat. Dekarbonisierung und der Green Deal werden vor allem in Bezug auf die Integration mit der EU diskutiert. Wir müssen in der Ukraine aber noch besser verstehen, dass die Dekarbonisierung auch unabhängig von der EU in unserem ureigenen Interesse liegt.Die aktuelle Situation ähnelt dem Trend von 2014, nachdem Russland die Krim annektiert und Teile der Regionen Donezk und Luhansk besetzt hatte. Es ist schwierig, die dringende Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels zu vermitteln, wenn gleichzeitig ein anderer Kampf priorisiert werden muss. Im Unterschied zu damals ist aber heute klar, dass es keine bloße Reparaturen für ein Zurück zum vorherigen Status braucht, sondern eher einen kompletten Neuaufbau von Infrastruktur und Wirtschaft. Daher gibt es viel mehr Raum für das Ziel der Dekarbonisierung. Wenn unser alter sowjetischer Staubsauger endgültig ausfällt, kaufen wir nicht noch einmal das alte Modell. Stattdessen streben wir nach besseren und neueren verfügbaren Technologien, auch unter Berücksichtigung sozialer Aspekte. Denn die Transformation muss auch die Menschenrechte in den Blick nehmen. Ein Beispiel: Wir untersuchen ganzheitliche ökologische Ansätze zur Erhaltung von Lebensräumen und zur Minimierung von Schäden für die Böden, die in natürlicherem Zustand große Mengen an Kohlenstoff speichern können, wozu die Wurzelsysteme von konventionellen Weizenfeldern nicht in der Lage sind. Besser funktionierende Ökosysteme sind widerstandsfähiger gegen den Klimawandel.

Nach Angaben der staatlichen Umweltinspektion der Ukraine waren am 18. Februar 2023 14 Millionen Quadratmeter mit Überresten und Trümmern zerstörter Einrichtungen und Munition verschmutzt, wobei 280.000 Quadratmeter Boden mit gefährlichen Substanzen kontaminiert waren. Dauert Russlands Krieg gegen die Ukraine an, so wird es noch mehr Schäden geben. In vielem mangelt es uns an einem vollständigen Bild und Daten – wie kann dennoch der Wiederaufbau effektiv geplant werden?

OA: Natürlich geht der Krieg weiter; Wir haben jedoch die Kontrolle über einige unserer zuvor eroberten Gebiete wiedererlangt, obwohl auch diese weiterhin unter Beschuss und Zerstörung leiden, insbesondere in den Regionen Kyjiw, Tschernihiw, Sumy, Charkiw und Cherson. Können wir es uns leisten, zu warten, bis der Krieg vorbei ist, oder sollten wir mit der Planung und dem Wiederaufbau beginnen? Haben wir Zeit zu warten?Was mich betrifft, müssen wir es jetzt tun. Aber wie organisieren wir das, wenn der Krieg andauert? Woher nehmen wir die Mittel, wenn private Investitionen derzeit aufgrund hoher Sicherheitsrisiken und fehlender Garantien des Staates oder der Banken kaum in Frage kommen? Wir sprechen derzeit von einer visionären Planung für die kommenden Jahre. Es ist notwendig, damit wir wissen, wohin die Reise geht, und damit wir unseren internationalen Partnern Antworten darauf geben können, wie wir unsere Zukunft sehen.

Auch die Menschen im Land brauchen es jetzt, müssen sich ihre Zukunft vorstellen können. Sie müssen sehen, dass das Land die jetzige Situation nutzt, um einen Weg in eine bessere Zukunft einzuschlagen. Sie müssen auch wissen, wofür sie weiter kämpfen wollen. Eine visionäre Planung ist für die kommenden Jahre notwendig und sollte hier und jetzt geschehen. Außerdem sollten die Unternehmen, die sich derzeit in der Ukraine befinden, in der Lage sein, Perspektiven für sich selbst zu sehen und die Ukraine als einen Ort für ihre zukünftigen Investitionen zu betrachten, nicht als einen abgeschriebenen Ort.

Anna Ackermann: Wir wissen nicht, in welchem Zustand sich unsere Wirtschaft und unser Energiesektor befinden werden, wenn der Krieg vorbei ist. Sich jetzt die richtigen Ziele zu setzen, ist dennoch von entscheidender Bedeutung. Es geht sowohl um die europäischen Perspektiven der Ukraine als auch um die Notwendigkeit einer stärkeren Energiesicherheit durch eine nachhaltige Energiewende. Wir sollten klar zum Ziel erklären, uns der EU-Strategie der Klimaneutralität bis 2050 anzuschließen.

Apropos langfristige Ziele für den Energiesektor: Derzeit arbeitet das Energieministerium der Ukraine an einem solchen Plan für 2050. Hypothetisch könnte man die möglichen Optionen für den zukünftigen Energiemix berechnen. Damit sich die Ukraine in Richtung Dekarbonisierung, Klimaschutz und Stärkung der Energiesicherheit bewegt, sollten wir in der Tat damit beginnen, zu verstehen, wohin wir gehen. Dabei müssen wir Schritt für Schritt weg vom ständigen Patchen und Reparieren des Veralteten und stattdessen mit dem Aufbau des Neuen beginnen, also strategisch denken. Unabdingbar ist auch eine umfassende öffentliche Diskussion darüber, welche Bedeutung dem Begriff „Dekarbonisierung“ aufgeladen werden sollte. Wir sollten es als Einführung fortschrittlicher Technologien in der Ukraine und als Gelegenheit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in neuen Industrien sehen. Die Ukraine ist als integraler Bestandteil eines gemeinsamen Marktes mit der EU nicht nur ein Lieferant von Rohstoffen, sondern auch ein solider Hersteller von Technologien und Ausrüstung. Alle Schlüsselministerien sollten Verantwortung für die Dekarbonisierung übernehmen, etwa das Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung und das Ministerium für Infrastruktur. Sie müssen verstehen, was sie tun müssen, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.

Wie hat sich die gesellschaftliche Debatte über die grüne Transformation und die Dekarbonisierung seit Beginn der großen Invasion Russlands verändert?

OA: Vor dem Februar 2022 war viel von der Dekarbonisierung als Element und Verpflichtung aus dem Assoziierungsabkommen EU-Ukraine die Rede. Der Energiesektor war der größte Emittent von Treibhausgasen und für 2/3 der Gesamtemissionen verantwortlich. Damals ging es also vor allem aus wirtschaftlicher Sicht um die Energiewende. Es hatte einen lebhaften Diskurs gegeben, bei dem viel darüber geredet wurde, wie und was man dekarbonisiert, und woher die notwendige Finanzierung kommen kann. Nach Ausbruch des umfassenden Krieges und insbesondere nach der Besetzung Mariupols und der Zerstörung vieler großer metallurgischer und anderer Unternehmen in den Regionen Donezk und Luhansk hat sich die Bilanz der Treibhausgasemissionen in der Ukraine erheblich verschoben – wieder einmal. Russlands fortgesetzter Beschuss der Energieinfrastruktur, der die Hälfte der ukrainischen Stromerzeugung zerstört hat, hatte natürlich auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Treibhausgasemittenten im Land. Die Menge der verbleibenden Emissionen bleibt unklar, je nachdem welche Betriebe überleben und wie sie weiter funktionieren werden.

Die bisherigen Klimaziele bleiben einstweilen bestehen. Trotz kriegsbedingt deutlich gesunkener Emissionen – aufgrund des Zusammenbruchs ganzer Industriezweige, Abwanderung etc. – steht aktuell natürlich eine Anpassung der Ziele nicht auf der Tagesordnung. Nicht vernachlässigt werden sollte, dass andererseits auch die Kriegshandlungen selbst zu erheblichen Emissionen geführt haben: Brennende Tanklager, zerstörte Wälder, Beschuss und Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur u.v.m. Einstweilen müssen zur Versorgung jegliche verbliebenen Energieerzeugungskapazitäten genutzt werden – darunter natürlich auch kohle- und gasbasierte und Dieselgeneratoren. Der Neubau von Straßen, Brücken, Infrastruktur, Fabriken und Wohnungen wird zunächst ebenfalls zu einem erheblichen Anstieg der Treibhausgasemissionen führen. Umso wichtiger ist es, bereits jetzt die klimafreundlichsten Lösungen für diese anstehenden Neuinvestitionen vorzuplanen und die Weichen richtig zu stellen. Und Russland hat nicht nur Bauten zerstört, auch viele Ökosysteme. Auch diese Kosten sollten in den Wiederaufbauplänen berücksichtigt werden. Bereits Ende November 2022 waren 30 % des Territoriums der Ukraine mit Minen übersät (nach Angaben des staatlichen Notdienstes der Ukraine), einschließlich Wälder, Städte und Felder. Über diese Landminen stolpern sowohl Menschen als auch Tiere, außerdem verschmutzen die Sprengstoffe Böden und Wasser. Diese Gebiete müssen sich erholen, was mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.

Der Wiederaufbau impliziert umfangreiche Bauprojekte, die auch zu einem dringend erforderlichen Wirtschaftswachstum führen werden. Wie passt das mit einer umfassenden Dekarbonisierung zusammen?

OA: Ich sage, dass Wirtschaftswachstum unter Einhaltung von Umweltstandards durchaus auf kohlenstoffarme Weise möglich sein wird. Wirtschaftswachstum sollte nicht gegen die Bekämpfung des Klimawandels oder gegen die Ökologie im Allgemeinen ausgespielt werden. Mit modernen Technologien ist alles möglich. In der Ukraine können wir diesen Sprung zwischen den Entwicklungsstufen, von der veralteten sowjetisch geprägten fossilen Industriegesellschaft zur innovativen erneuerbaren Effizienzwirtschaft schaffen.

Die Finanzierung bleibt aber auch hier das zentrale Thema. Die Ukraine verfügt nicht über ausreichende Ressourcen, um ihre Industrien und andere Sektoren der Volkswirtschaft, einschließlich der Verkehrsinfrastruktur, selbstständig wiederherzustellen. Umweltorientierte Technologien sind verfügbar; sie müssen jedoch finanziert werden.
 


Die Fragen stellte Alyona Vyshnytska.
Redaktion der automatisierten deutschen Übersetzung: Robert Sperfeld.

Das Interview wurde zuerst auf ua.boell.org in ukrainischer Sprache veröffentlicht.