Sehr hohe Pestizidbelastung in französischen Überseegebieten

Pestizidatlas

Eine ungewöhnlich hohe Pestizidbelastung wird ständig ignoriert: die beunruhigende Situation in den französischen Überseegebieten.

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 Zeitstrahl mit wichtigen Ereignissen im Chlordecon-Skandal von 1972 bis 1993. Links ein gelber Kanister, rechts ein roter.

2017 veröffentlichte die NGO „Générations Futures“ ihre „Glyph Awards“, einen Preis für die französischen Départements mit dem höchsten Glyphosatverbrauch pro Hektar bewirtschafteter landwirtschaftlicher Fläche. Dabei landeten Martinique und La Réunion auf dem zweiten beziehungsweise dritten Platz. Diese Platzierung zeigte einmal mehr, dass in den französischen Überseegebieten besonders viele Pestizide eingesetzt werden. Die Mitglieder des Observatoire Terre-Monde, einer französischen NGO, die sich vor allem für den Umweltschutz in den Überseegebieten einsetzt, wurden auf diese Probleme aufmerksam und haben zusammengetragen, was über den Einsatz von Pestiziden in diesen Regionen bekannt ist. Die ersten Ergebnisse dieser Studie waren besorgniserregend:

Einerseits werden für diese Gebiete zu wenige Daten erhoben – über die Nutzung, aber auch über die Gesundheit von Menschen und Umwelt.

Andererseits wird anhand der Einstufung bei den Glyph Awards oder auch angesichts der regelmäßigen Suizide durch Einnahme von Paraquat (das dort seit 2007 verboten ist) in Guyana deutlich, dass in einigen dieser Gebiete deutlich zu viele gefährliche Pestizide im Umlauf sind. Zudem werden gesetzliche Regelungen in der EU, Frankreich, den französischen Überseedépartements und -gebieten und den Überseekörperschaften jeweils zeitversetzt angewandt, sodass in Neukaledonien oder in Französisch-Polynesien noch immer Pestizide eingesetzt werden, die in Europa seit mehreren Jahren verboten sind.

Das frappierendste Beispiel einer übermäßigen Verwendung von Pestiziden in den französischen Überseegebieten ist derzeit wohl die Chlordecon-Affäre. Diese organische Chlorverbindung wurde auf den Bananenplantagen von Martinique und Guadeloupe offiziell von 1972 bis 1993 eingesetzt (und war illegal noch lange Zeit später in Gebrauch). Auf den Antillen wurde sie zu einem Zeitpunkt zugelassen, als die organischen Chlorverbindungen in Frankreich selbst bereits auf dem Rückzug waren und man die Warnmeldungen über deren Giftigkeit (Umwelthormon, krebsauslösend) kannte. In Frankreich wurde die Substanz nie eingesetzt. Ihre Verwendung auf den Antillen verseuchte die Inseln nachhaltig (je nach Bodenbeschaffenheit für mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte) und die Belastung schädigt dort sämtliche Ökosysteme (die Böden, das Grundwasser, das Meer, Menschen und Tiere). Nach heutigem Kenntnisstand wurde nachgewiesen, dass CLD Frühgeburten verursacht, bei Kindern zu Verzögerungen der kognitiven und motorischen Entwicklung und des Sehens führt sowie das Prostatakrebsrisiko erhöht. Mehr als 90 % der Bevölkerung der Antillen sind aktuell kontaminiert. An weiten Teilen der Küste ist der Fischfang verboten und auf bestimmten Böden kann kein unbelastetes Wurzelgemüse mehr angebaut werden.

Seit 2006 erheben lokale Vereine und Gruppen unter anderem Klagen wegen „Vergiftung“ und „Gefährdung Dritter“ und geben den staatlichen Behörden, die die Substanz genehmigt haben, aber auch den Verantwortlichen in der Bananen-Lieferkette (die vor allem der Bevölkerungsgruppe der weißen Kreolen angehören) die Schuld. Letztere hatten, nachdem der Verkauf und die Herstellung der Substanz in den USA 1975 verboten worden war, das Produkt in voller Kenntnis der Sachlage aufgekauft, dessen Herstellung organisiert und es selbst verkauft.

Nach 16 Jahren Verhandlung hat das Strafgericht in Paris nun im Januar 2023 die Einstellung des Verfahrens beschlossen. Die Richter erkennen zwar die Umweltverschmutzung und ihre gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen an, sind aber der Auffassung, dass keine natürliche oder juristische Person die Schuld für die Vergiftung der Bevölkerung auf den Antillen trägt. Dieses Urteil erzürnt die Menschen dort sehr, denn sie betrachten es als fortwährende Diskriminierung aus der Kolonialzeit und halten eine Rechtsprechung für ungerecht, die gegen Chlordecon protestierende Aktivisten ins Gefängnis steckt, für die Umweltverschmutzung verantwortliche Personen aber unbehelligt lässt.

Zeitstrahl von 1972 bis 1993 zeigt wichtige Ereignisse im Chlordecon-Skandal. Links ein gelber, rechts ein roter Kanister, dazwischen Textblöcke.
Einige Zivilparteien haben gegen den Einstellungsbeschluss bereits Berufung eingelegt und möchten bei Bedarf bis vor das oberste französische Gericht oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Chlordecon wurde auch außerhalb der französischen Antillen in Kamerun, der Elfenbeinküste, den

​​​USA, Deutschland, Costa Rica, Panama, Jamaika und anderen Ländern eingesetzt.
 Zeitstrahl von 1999 bis 2023 zeigt Entwicklungen im Chlordecon-Skandal. Markierungen für Umweltverschmutzung, Klagen, Aktionspläne und Studien.

Die Chlordecon-Affäre verdeutlicht wieder einmal, wie unterschiedlich der Pestizideinsatz in den Überseegebieten – auch rechtlich – gehandhabt wird. Diese unterschiedlichen Denkweisen gelten noch heute, vor allem in den französischen Überseekörperschaften. An dieser Stelle bestehen Zweifel an der Umsetzung und Wirksamkeit der Umweltcharta von 2004 (sie hat Verfassungsrang), laut der alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf ein Leben in einer gesunden Umwelt haben. Gleiches gilt für die Grundsätze der Vorbeugung und der Schutzmaßnahmen sowie die Pflicht zur Beachtung des Umweltschutzes (vgl. Artikel 1 und 2 der französischen Umwelt-Charta).

Rechtlich bestehen noch weitere Ungleichheiten, vor allem in Bezug auf das Informationsrecht und allgemein die Umweltdemokratie (vgl. Artikel 7 der französischen Umweltcharta, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Übereinkommen von Aarhus). Daten zur Nutzung von Pestiziden und deren Vorkommen werden sehr uneinheitlich erhoben. So gibt es beispielsweise einige wissenschaftliche Daten zur Verschmutzung der Böden in Frankreich selbst, aber diese Daten für die französischen Überseegebiete zu finden, ist schwierig. Eine Ausnahme bilden die Antillen, wo derzeit die Bodenverschmutzung kartiert wird – allerdings nur für eine einzige Substanz, das Chlordecon. In der Adonis-Karte zum Pestizideinsatz in Frankreich tauchen die französischen Überseegebiete überhaupt nicht auf. Gleiches gilt für die Messung von Pestiziden in der Luft: Diese wurde für Frankreich 2002 initiiert, aber erst seit 2020 stehen für die französischen Überseegebiete (jedoch nicht für die Überseekörperschaften) erste Daten zur Verfügung.

Weltkarte mit französischen Überseegebieten und unterschiedlichen Pesticid-Vorschriften. Blaue Markierungen zeigen Verbindungen zwischen Frankreich, Überseegebieten und international.
Zu den Überseegebieten gehören : Neukaledonien, die Überseedepartements (Guadeloupe, Martinique, Réunion, Mayotte, Guyana) und die Überseekörperschaften (Französisch Polynesien, St. Martin, St. Barthélémy, St. Pierre und Miquelon, Wallis und Futuna). Die Überseedepartements und St. Martin gehören zur Europäischen Union.

Diese unterschiedliche Gesetzgebung in verschiedenen Gebieten ist keine französische Eigenheit. Auch in anderen ehemaligen Kolonien oder „nicht souveränen Gebieten“ ist dieses Vorgehen üblich. So wurde zum Beispiel das Pestizid Nemagon (DBCP) 1979 in den USA verboten, während die Verwendung von Lagerbeständen bis 1983 in Südamerika und auf den Antillen erlaubt blieb. Zu ermitteln, wie viele Pestizide in den Überseegebieten verwendet werden und welche Auswirkungen dies auf die Gesundheit und die Umwelt hat, ist definitiv keine leichte Aufgabe. Manchmal gibt es Schwierigkeiten bei der Erhebung von Daten, manchmal gesetzliche Hürden, manchmal sind die Menschen und die Ökosysteme zu stark belastet oder Berufskrankheiten von Personen, die in diesen Gebieten mit den Produkten in Kontakt gekommen sind, werden nicht anerkannt. Vieles liegt im Dunkeln. Angesichts dieser absichtlich herbeigeführten Unwissenheit – dass keine Daten vorliegen, ist kein Problem der Forschung, sondern die Folge politischer Entscheidungen – scheint es unerlässlich, die Forschungen zu den Problemen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden in den Überseegebieten auszuweiten.

 

Quellen :

S.58 und S.59 : Générations Futures, Glyph’Awards, 2017, https://cutt.ly/N86Wxet ; M. Ferdinand, E. Molinié, « Des pesticides dans les outre-mer français », Ecologie et politique Nr. 63, 2021. https://cutt.ly/z86EhuB ; S.Letchimy, J. Benin, « Rapport d’enquête parlementaire concernant l’impact économique, sanitaire et environnemental de l’utilisation du chlordécone et du paraquat », Assemblée nationale, 2019, Band 1. https://cutt.ly/486Rt75 ; W. Sanchez et al, « Chlordécone et biodiversité antillaise : une contamination aux effets encore trop méconnus », The Conversation, 2022. https://cutt.ly/e86Rv4c ; Adonis-Karte zum Einsatz von Pestiziden in Frankreich, Solagro, 2020 https://cutt.ly/886RMMW ; F. Marlière, « Résultats de la campagne nationale exploratoire de mesure des résidus de pesticides dans l’air ambiant », 2020, https://cutt.ly/Z86YAHo ; Stellungnahme der Anses vom 14. Januar 2014, Antrag Nr. 2013-SA-0236, https://cutt.ly/P86YMze ; K. Lorand und I. Hamot, « Asulox, un herbicide retiré mais toujours utilisé en Martinique », RCI, 2018. https://cutt.ly/u86Y5lO ; M. Ferdinand, « L’interdiction de l’épandage aérien en France : des contestations locales aux Antilles à l’interdiction nationale » (2009-2014), 2018. https://cutt.ly/M86UfZX.