Die wirtschaftliche Situation der ägyptischen Bevölkerung wird immer aussichtsloser und Proteste werden im Keim erstickt. Europa muss dringend die Sicherheit der Menschen ins Zentrum seiner Beziehungen zu Ägypten stellen. Nur so kann sich die Lage im Land nachhaltig verbessern.
Während sich in Deutschland viele über die nach wie vor sommerlichen Temperaturen freuen, leiden die Menschen in Teilen Ägyptens weiterhin unter extremer Hitze von bis zu 45 Grad. Glücklich kann dort sein, wer sich – wie die meisten Tourist*innen – in klimatisierte Räume zurückziehen kann. Doch vielen Ägypter*innen bleibt das verwehrt, denn ab Mitte September schaltet die Regierung voraussichtlich erneut stundenweise den Strom ab. Erst am 20. Juli dieses Jahres hatte das ägyptische Regime die tägliche Reduktion der Stromversorgung ausgesetzt. Zuvor mussten die Menschen außerhalb der ägyptischen Tourismusregionen seit Juli 2023 zwei bis drei Stunden täglich auf Strom verzichten.
Strom ist eine knappe Ressource
Gründe für die Energieknappheit sind vor allem die Misswirtschaft des Regimes und die große Abhängigkeit von fossilen Energieträgern. Sechsundsechzig Prozent des in Ägypten verbrauchten Stroms wird aus Erdgas gewonnen, während er nur zu 12 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen stammt.
Bis vor Kurzem noch produzierte Ägypten mehr Strom, als es benötigte. Ägypten hat zwei LNG-Terminals – die einzigen überhaupt in der Region. Durch sie kann es Teile seines großen Erdgasvorkommens exportieren – und versucht so, der seit Jahren herrschenden Währungskrise und der hohen Staatsverschuldung mit Devisen zu begegnen. Es importiert auch Erdgas, um dieses als deutlich teureres LNG weiterzuverkaufen, aber auch, um Teile des eigenen Bedarfs zu decken. Doch schon seit mehreren Jahren ist dieses System aus Import, Export und dem eigenen Energiebedarf aus dem Gleichgewicht geraten.
Im vergangenen Jahr dann ging die Rechnung des Regimes nicht mehr auf: Bevölkerungswachstum und unerwartet hohe Temperaturen führten zu einem höheren Strombedarf als erwartet. Zugleich wurde eine Rückzahlung von 25 Milliarden Euro Schulden fällig. Die meisten Schulden hat Ägypten beim Internationalen Währungsfond (IWF), weitere Geber sind beispielsweise Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Der aktuelle Krieg Israels gegen die Hamas wirkt sich zudem negativ auf die ägyptische Wirtschaft aus. Es fließen weniger Devisen ins Land, was wiederum den Import von Erdgas erschwert. Das ägyptische Regime versucht seither, Herr der Lage zu werden, indem es den Strom rationiert. Die Auswirkungen – insbesondere bei extremen Temperaturen – sind weitreichend. So können etwa der Zugang zu sauberem Wasser und eine lückenlose Kühlkette für verderbliche Lebensmittel und Medikamente nicht mehr gewährleistet werden.
Nicht nur die Industrie ist auf eine verlässliche Stromversorgung angewiesen. Auch private Krankenhäuser sind davon abhängig. Doch auch sie sind – anders als staatliche Gesundheitseinrichtungen – von den Stromausfällen betroffen und können Operationen und Untersuchungen wie Röntgenaufnahmen nur durchführen, wenn Generatoren eine stabile Stromversorgung gewährleisten.
Das Lebensnotwendige ist unbezahlbar
Erschwerend kommt hinzu, dass seit Anfang August die staatlichen Subventionen für Strom schrittweise abgebaut werden. Damit erfüllt das ägyptische Regime eine Forderung des IWF. Verbraucher*innen könnten dadurch künftig bis zu 50 Prozent mehr für Strom bezahlen. Das träfe viele hart. Fast 30 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Doch die Wirtschaftskrise des Landes macht es auch für die Mittelschicht immer schwieriger, Produkte des täglichen Bedarfs zu bezahlen. Die Preise für viele Lebensmittel sind innerhalb des letzten Jahres um 45 Prozent gestiegen, nachdem sie sich in den vorangegangenen beiden Jahren bereits verdoppelt hatten. Das ägyptische Pfund hat seit 2022 mehr als die Hälfte seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Die Inflationsrate, die im September 2023 auf einem Rekordhoch von 38 Prozent lag, sinkt zwar seit März. Im Juli dieses Jahrs lag sie jedoch noch immer bei über 25 Prozent. Als aktuell weltweit zweitgrößter Weizenimporteur (in absoluten Zahlen) wurde das Land außerdem sehr hart von den steigenden Weizenpreisen auf dem Weltmarkt getroffen, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auslöste. Erstmals seit 1988 erhöhte das ägyptische Regime daher im Juni den Preis für staatlich subventioniertes Brot von 5 Piaster auf 20 Piaster – eine Preissteigerung von 300 Prozent. Inzwischen nehmen zwei Drittel der ägyptischen Bevölkerung an einem Programm teil, das es ihnen erlaubt, täglich 5 Fladenbrote pro Person zum subventionierten Preis zu erwerben.
Die Repression kommt vor den Protesten
Im Frühsommer dieses Jahres regte sich in den Sozialen Medien Unmut über die enormen Preissteigerungen und die andauernden Stromabschaltungen. Unter dem Hashtag „Dignity Revolution“ riefen Menschen zu Protesten und zum Sturz des Präsidenten al-Sisi auf. Noch bevor die Proteste sich jedoch aus dem Internet auf die Straße verlagern konnten, verhafteten die ägyptischen Sicherheitskräfte an einem Tag in mindestens sechs Gouvernoraten insgesamt 119 Personen, darunter mindestens sieben Frauen und ein Kind. Ihnen warfen die Behörden „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, „Veröffentlichung von Falschinformation“ und „Missbrauch von sozialen Medien“ vor.
Das harte Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte ist nicht überraschend. Das ägyptische Regime verfolgt seine Kritiker*innen erbarmungslos, verhaftet, foltert und verschleppt sie systematisch. Inzwischen genügt es zuweilen, ein Tanzvideo auf TikTok zu veröffentlichen, um zu einer Haftstrafe von zwei Jahren wegen „Verstoßes gegen Familienwerte“ verurteilt zu werden. Die Menschenrechtssituation in Ägypten war nie so schlecht, wie unter dem aktuellen Regime.
Dass in diesem repressiven Klima dennoch Proteste stattfinden, zeigt, wie ausweglos die Situation vieler Ägypter*innen ist. Auch die Verhörprotokolle zweier im Juli Inhaftierter, die Amnesty International vorliegen, bestätigen das. Ein dreifacher Vater und ein jüngerer Mann, die beide zuvor noch nie an politischen Aktionen teilgenommen hatten, gaben darin an, trotz langer Arbeitszeiten noch nicht einmal das Lebensnotwendige von ihren Gehältern bezahlen zu können und deshalb Protestposts in den Sozialen Medien veröffentlicht zu haben.
Die Wirtschaft im Sinkflug
Bei seiner gewaltsamen Machtübernahme im Jahr 2013 hatte Präsident al-Sisi den Ägypter*innen neben mehr Sicherheit auch einen wirtschaftlichen Aufschwung versprochen. Elf Jahre später liegt die ägyptische Wirtschaft am Boden und das Land steht vor dem Bankrott. Ende 2023 lag die Staatsverschuldung bei 96 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das aufgenommene Geld investiert das ägyptische Regime jedoch nicht in Armutsbekämpfung oder die Stabilisierung der Staatsfinanzen. Präsident al-Sisi geht es nicht darum, die wirtschaftliche Situation der breiten Bevölkerung zu verbessern. Er fokussiert sich stattdessen auf äußerst zweifelhafte und teure, dafür aber prestigeträchtige Megaprojekte, wie den Bau einer neuen Hauptstadt mitten in der Wüste.
Zudem kontrolliert das Militär große Teile der ägyptischen Wirtschaft, wodurch die Produktivität stagniert und ein fairer Wettbewerb verhindert wird. Al-Sisi sichert sich so die Loyalität des Militärs, dem traditionell die Rolle des Königs- oder vielmehr Präsidentenmachers zukommt, und stabilisiert seine Macht. So befördert er aber auch Korruption, die in Ägypten bis auf höchster Ebene weit verbreitet ist.
Es ist daher unwahrscheinlich, dass die Rekordsumme von 35 Milliarden Dollar, die Ägypten zu Beginn dieses Jahres von den Vereinigten Arabischen Emiraten erhalten hat, die wirtschaftliche Situation des Landes nachhaltig verbessert. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass sich die wirtschaftliche Situation der breiten Bevölkerung weiter verschlechtern wird und Proteste und Unruhen zunehmen.
Menschliche Sicherheit muss an erster Stelle stehen
Trotz der katastrophalen Menschenrechtssituation und der ausgesprochen instabilen wirtschaftlichen Situation sieht die Europäische Union (EU) in Ägypten noch immer einen wichtigen Partner in seiner südlichen Nachbarschaft. Zurzeit verhandelt die Europäische Kommission die Details eines strategischen und umfassenden Partnerschaftsabkommens mit Ägypten, in dessen Rahmen 7,4 Milliarden Euro finanzielle Unterstützung an Ägypten fließen sollen. Mit der aktuellen Ausrichtung des Abkommens, welches unter anderem eine engere Kooperation im Bereich Migrationsmanagement vorsieht, laufen die EU und ihre Mitgliedsstaaten Gefahr, mit diesem Geld das ägyptische Regime unter Präsident al-Sisi zu stärken, statt das Land zu stabilisieren.
Um das zu vermeiden, muss die menschliche Sicherheit ins Zentrum der Kooperation mit Ägypten gestellt werden. Die EU sollte finanzielle Unterstützung und politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit an die Bedingung knüpfen, dass Ägypten die Menschenrechtssituation maßgeblich verbessert und auf Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit achtet. Darüber hinaus müssen die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf die sukzessive und entschiedene Entflechtung von Militär und Wirtschaft und die konsequente Bekämpfung von Korruption bestehen.
Statt zuerst den Abbau staatlicher Subventionen für Produkte des täglichen Bedarfs wie Brot und Energie zu fordern, müssen Verbesserungen in diesen Bereichen auch zur Voraussetzung für neue Kredite des Internationalen Währungsfonds gemacht werden. Nur so besteht die Chance, dass sich das Land nachhaltig stabilisiert und langfristig ohne immer neue Finanzhilfen auskommen kann. Außerdem könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten so dazu beitragen, dass die ägyptische Bevölkerung endlich in Würde leben kann, wie sie es schon 2011 während der ägyptischen Revolution verlangt hatte. Und wie es die Teilnehmer*innen der im Keim erstickten Kampagnen diesen Sommer erneut forderten.