
Teile von Thailands neuzeitlicher politischer Geschichte, über die in Schulbüchern nichts zu finden ist, werden in einem unkonventionellen Museum ausgestellt und aufbewahrt. Dort sollen alle Thais zu Wort kommen – nicht nur wichtige historische Personen.

Ich habe Geschichte an der Universität studiert. Aber man könnte sagen, dass im Grunde alles mit einem weißen Tuch begann, das voller Fußabdrücke war – und das verschwunden ist.
Am 16. Februar 2018 versammelten sich die Teilnehmenden nach einem 28-tägigen und 450 km langen Protestmarsch für Verfassungsreformen rund um ein auf dem Boden liegendes weißes Tuch. Während ihres Marsches von der Hauptstadt Bangkok nach Khon Kaen, einer Stadt im Nordwesten Thailands, waren sie immer wieder mit Drohungen und Einschüchterungen seitens der Behörden konfrontiert worden, aber sie waren entschlossen, dass ihre Forderungen in Bezug auf Bürgerrechte, eine allgemeine Krankenversicherung, Ernährungssicherheit und eine bessere Verfassung Gehör finden würden. Um ein Erinnerungsstück an ihren Sieg zu haben, tauchten alle, die am Marsch teilgenommen hatten, ihre Füße in Farbe und hinterließen ihre farbigen Fußabdrücke auf einem weißen Tuch, das in der Nähe des Denkmals für Demokratie in der Innenstadt von Khon Kaen ausgebreitet worden war.
Ein weißes Tuch voller Fußabdrücke
Ich habe an dem Marsch teilgenommen und als sich sah, wie sich das weiße Tuch mit Fußabdrücken füllte, hatte ich vor Augen, wie dieses Stück Stoff zu einem Objekt von historischer Bedeutung werden würde.
Eine Woche später wandte ich mich an die Organisator*innen des Marsches, weil ich das Tuch mit den Fußabdrücken gern kaufen wollte. Aber sie wussten nicht, wo es geblieben war. Ich erklärte mir das damit, dass die Organisator*innen und Teilnehmenden der Bewegungen in der Regel so sehr mit allen möglichen Details beschäftigt sind, dass es zu schwierig ist, die in ihren Kämpfen genutzten Materialien systematisch zu sammeln und aufzubewahren, und dass dies vermutlich auch nicht zu ihren Prioritäten gehört.
Zudem wurden viele politische Veranstaltungen von ad-hoc gebildeten Gruppen organisiert; sobald die Veranstaltungen vorbei waren, lösten sich diese Organisationskomitees oder Gruppen wieder auf, weshalb es niemanden gab, der oder die sich für die Aufbewahrung der eingesetzten Materialen verantwortlich fühlte.
Mir kam der Gedanke, dass der Verlust von Stücken wie dem Tuch mit Fußabdrücken bedeutete, dass damit auch Teile der thailändischen Geschichte weggeworfen würden. Bis Ende Februar 2018 hatte ich den Plan erarbeitet, ein Museum für die Geschichte des Volkes zu gründen. Mit diesem Museum wollte ich sicherstellen, dass die politischen Aktionen oder Kämpfe des Volkes angemessen dokumentiert werden. Es sollte als Quelle für alle diejenigen dienen, die sich über die politische Geschichte Thailands „von unten nach oben“ informieren wollten.
Die Gründung eines Museums für die Geschichte des Volkes
Zwar erwies sich die Umsetzung des Plans als ebenso beschwerlich wie der Marsch von Bangkok nach Khon Kaen, aber das Museum wächst seit seiner Gründung beständig weiter und feierte diesen Februar sein sechsjähriges Bestehen. Das Museum wird jedoch meistens nur online besucht – auf der Facebook-Seite und der Website, auf denen eine Liste von Gegenstände zu finden ist, die zur Sammlung gehören.
Allerdings ist die Liste unvollständig, da ich als Einziger für das Museum arbeite. Es gibt keine Festangestellten und ich selbst gehe noch einer anderen regelmäßigen Arbeit nach. Alle Objekte sind in einem sicheren Raum gelagert, werden aber hin und wieder für Sonderausstellungen oder Veranstaltungen aus dem Lager geholt. Von den Leuten, die unsere Ausstellungen besuchen, ist oft zu hören, dass sie der Anblick der Stücke in die Zeit zurückversetzt, in der sie an den Protesten teilnahmen, und bei ihnen Erinnerungen an die Gründe der Proteste hervorruft.
Bis jetzt haben wir sieben Einzelausstellungen organisiert. Zudem werden wir immer wieder gebeten, mit bestimmten Stücken zu kleineren Ausstellungen beizutragen, die von Studierenden oder NROs im Rahmen ihrer Aktionen oder im Gedenken an ein politisches Ereignis organisiert werden
Ich wähle dann die Stück aus, die zum Thema oder Programm der Ausstellung passen. Wenn wir Mitveranstalter sind, bitte ich die Partnerorganisationen, mit mir das Lager aufzusuchen, um die Objekte gemeinsam auszuwählen.
Herausforderungen bei der Museumsarbeit
Da ich Vollzeit für eine zivilgesellschaftliche Organisation arbeite, zu deren Aufgaben die Beobachtung öffentlicher Versammlungen gehört, habe ich direkten Zugriff auf Dinge wie T-Shirts und Tücher der Kampagnen sowie Flugblätter, Broschüren und Poster. Außerdem bitte ich die Aktivist*innen, so viele Ephemera der Kampagnen und Proteste für mich zu sammeln wie möglich. Manchmal kaufe ich auch Stücke und bezahle sie aus eigener Tasche.
Das tue ich, um das Museum am Laufen zu halten. Seit 2020 kommen aber auch Spenden von internationalen gemeinnützigen Organisationen dazu.
Das Museum besitzt jetzt schon über 1.000 Stücke aus verschiedenen Zeiten der neueren thailändischen Geschichte. Das älteste Stück der Sammlung ist derzeit eine Anstecknadel aus der Regierungszeit der „Volkspartei“ (Khana Ratsadon), der es 1932 mit einem Staatstreich gelungen war, Thailand von einer absoluten zu einer konstitutionelle Monarchie zu machen. Mit dieser Anstecknadel wurden alle Offiziere und Menschen ausgezeichnet, die sich 1933 am Kampf gegen die Gegenrevolution, die Rebellion von Prinz Boworadet, beteiligten.
Ein anderes jahrzehntealtes Artefakt ist eine mit einer antikommunistischen Botschaft versehene Propaganda-Schale, die über 40 Jahre auf einem Privatgrundstück in der Provinz Sakon Nakhon vergraben war.
Jemand hatte mich auf der Fanseite des Museums auf diese Schale aufmerksam gemacht. Angeblich waren dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem die Schale gefunden wurde, 10.000 Baht (gut 270 Euro) dafür geboten worden. Ich meldete mich bei dem Grundstückseigentümer und er erklärte sich bereit, die Schale dem Museum zu spenden, wenn sie jedes Jahr zum Jahrestag des Massakers vom 6. Oktober 1976 ausgestellt wird. Bei diesem Massaker handelt es ich um die gewaltsame Niederschlagung von Protesten an der Thammasat-Universität in Bangkok, bei der viele Studierende ums Leben kamen.
Als er die Schale ans Museum schickte, legte er einen Zettel bei, auf dem zu lesen war: „Möge diese Schale das Interesse späterer Generationen wecken.“
Vom Widerstand der Vergangenheit bis zu aktuellen Protesten
Es ist eine große Herausforderung, umfangreiche Teilsammlungen zu verschiedenen Kämpfen, vor allen zu denen vor 2020, zusammenzustellen. Zu den Bewegungen ab 2020 haben wir sehr gute Teilsammlungen, da das Museum zu der Zeit schon seine Arbeit aufgenommen hatte und direkt bei den Veranstaltungen und Aktionen Materialien erwerben konnte.
Aber das Sammeln von Materialien zu früheren Protesten wie denen der Volksallianz für Demokratie, die unter dem Namen „Gelbhemden“ bekannt ist, in den Jahren 2005 und 2006 oder denen der „Rothemden“ 2009 und 2010 sowie denen des Volksausschusses für demokratische Reformen im Jahr 2013 ist nach wie vor sehr schwierig. Zum Glück haben einige Rothemden ihre großen Sammlungen dem Museum gespendet.
Eine dieser Rothemden ist Napasorn Boonree, die gegenüber der Online-Zeitung Prachatai äußerte, dass sie sich immer sehr freue, wenn sie ihr gespendetes Material in den Museumsausstellungen sehe.
Napasorn beteiligt sich schon seit den Ereignissen vom Schwarzen Mai 1992 an Demonstrationen. Sie erzählte der Zeitung Prachatai, dass sie anfangs Dinge wie Flugblätter und Aufkleber gesammelt habe, um die Botschaft der Protestierenden weiterzuverbreiten. Zudem habe sie an den Orten der Proteste viele T-Shirts gekauft, um andere Rothemden zu unterstützen, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienten.
Verschiedene Perspektiven auf Thailands Geschichte
Die Sammlungen der Gelbhemden sind kleiner, aber das Museum hat Materialien von ihren Protesten gekauft, um sicherzustellen, dass in der Ausstellung verschiedene Seiten präsentiert werden. Es wäre kein vollständiges Bild, wenn die Sammlungen nur einen Standpunkt zeigen würden.
Vor allem zwei der dem Museum gespendeten Objekte verdeutlichen diesen Punkt: eine Trillerpfeife und ein Buch, die der Spenderin geschenkt worden waren. Die Pfeife gehörte zu Utensilien, die der rechtsextreme Volksausschuss für demokratische Reformen in seinen Kampagnen von 2013 und 2014 nutzte. Die junge Frau, die sie zusammen mit dem Buch spendete, hatte sie eigenen Angaben zufolge von ihrer Mutter bekommen, die ihr gesagt hatte, sie solle die Pfeife an einem Band um den Hals tragen und „ein braves Mädchen sein“.
Sie trug diese Pfeife auch in der Schule und eine Lehrkraft, die ihr bis dahin kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, machte einen netten Kommentar dazu. Später wurde ihr auf einer Buchmesse ein Geschichtsbuch geschenkt. In der Notiz, die sie an ihre Spende an das Museum heftete, erklärte die junge Frau, dass das, was sie in diesem Buch las, sich sehr von dem unterschied, was ihre Mutter ihr über die politische Geschichte Thailands erzählt hatte und was sie aus ihren Schulbüchern gelernt hatte.
Sie fügte hinzu, dass sie das veranlasst habe, sich weitere Informationen aus verschiedenen Quellen zu beschaffen. Ich glaube oder möchte glauben, dass sie mit ihrer Spende der Trillerpfeife und des Geschichtsbuchs verstand, wie wichtig es ist, für andere Sichtweisen offen zu sein, und dass eine Geschichte immer mehrere Seiten hat.
Zukunftsperspektiven und die Rolle des Museums im politischen Gedächtnis
Das Museum wird respektiert – sowohl in der Wissenschaft als auch in den Kreisen der politisch Aktiven. Während das Museum wächst und gedeiht, gibt es jedoch in Bezug auf die Pflege der Sammlung und die Tragfähigkeit des Projekts noch immer Herausforderungen, die ich zu bewältigen habe. Für die Aufbewahrung von empfindlichen Materialien wie Zeitungen, Vinylbannern oder Stoffen ist Fachwissen erforderlich, über das ich nicht verfüge und wofür es dem Museum noch an Ausrüstung fehlt.
Zudem bin ich nach wie vor die einzige Person, die für all die im Museum anfallenden Arbeiten zuständig ist, denn es gibt kein Budget für Vollzeitangestellte. Und die Aufgaben scheinen sich zu vervielfachen. Neben der Zusammenstellung und Aufbewahrung der physischen Artefakte hat die Museum auch die Aufgabe, Geschichten zu erzählen: Menschen erzählen ihre Erlebnissen und Erfahrungen – schriftliche Berichte, die auf unser Facebook-Seite hochgeladen werden.
Trotz der Schwierigkeiten bin ich zuversichtlich, dass das Museum noch größer werden wird. Ich hoffe auch, dass diese Initiative zivilgesellschaftliche Organisationen in anderen Teilen der Welt dazu inspirieren wird, ihre Kämpfe nicht nur in Worten zu dokumentieren, sondern auch anhand von Ephemera aus den Kampagne und Protesten.
Die „offizielle“ Geschichte mag sich nach wie vor auf die wichtigsten historischen Persönlichkeiten konzentrieren, aber die Geschichte einer Nation ist ohne die Stimmen ihrer Menschen unvollständig – unabhängig davon, ob sie alle miteinander übereinstimmen und ob ihre Forderungen je erfüllt werden.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in englischsprachiger Fassung bei "Asia Democracy Chronicles".