Die Menschenwürde verteidigen: Seyla Benhabib und das Denken mit Hannah Arendt

Ehrung

Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken wird 2025 an die Philosophin Seyla Benhabib verliehen. In ihrem Lebenswerk setzt sie sich mit einer der drängendsten Fragen unserer Zeit auseinander: Welche sozialen, politischen und moralischen Bedingungen sind notwendig, damit Menschen sich gegenseitig als gleichwertig anerkennen? 

Portrait Prof. Dr. Seyla Benhabib - mit Brille blickt nach rechts aus einem Fenster, Spiegelungen verdecken Teile des Gesichts.
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Seyla Benhabib.

Kritische Theorie, Feminismus, die Frage nach Grenzen, Asyl, Migration und Staatsbürgerschaft, die Dilemmata des modernen Staates und der Souveränität. Dies sind einige der zentralen Themen des zeitgenössischen politischen Denkens und die Fragen, denen sich die politische Philosophin Seyla Benhabib, Preisträgerin des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2025, in ihrer Karriere gewidmet hat.
Als Philosophin bringt sie kritische Theorie, normative Philosophie und feministisches Denken in einen Dialog mit den Problemen unserer globalisierten Welt. Als öffentliche Intellektuelle begegnet sie dabei den politischen Krisen unserer Zeit mit einer entschiedenen und prinzipiellen Unabhängigkeit des Geistes, Offenheit für Pluralität und dem Beharren auf öffentlicher Deliberation. 

Auf ihrer intellektuellen Reise setzte sich Benhabib mit dem politischen Erbe der Moderne auseinander. Indem sie philosophische Einflüsse von Kant bis Weber, von Hegel bis zur Frankfurter Schule, von Habermas bis Arendt miteinander verwebt, versucht sie in ihrem Werk, aus unterschiedlichen, aber gleichermaßen dringlichen Blickwinkeln die Frage zu beantworten, wie die Würde und Handlungsfähigkeit des Individuums bewahrt werden kann. Benhabib fragt: Was sind die sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Voraussetzungen für die Herstellung von Beziehungen gegenseitigen Respekts zwischen Menschen?

Ein Buch veränderte ihr Leben 

Benhabib wurde in Istanbul in eine sephardisch-türkische Familie geboren und wuchs in den Jahren der globalen Umwälzungen von 1968 auf. Sie erinnert sich:

„Während der Studentenbewegung von 1968, die auch uns in Istanbul, Türkei, erreichte, erklärte ich mich zur Marxistin und las Herbert Marcuses Ein-dimensionaler Mensch mit großem Interesse und Bewunderung.“ 

Diese frühen Begegnungen mit dem Marxismus und der Neuen Linken bildeten den Hintergrund für ihr Interesse an Fragen der Herrschaft und Emanzipation, aber auch für ihren späteren Widerstand gegen die Reduzierung von Politik auf wirtschaftliche Strukturen allein. 

Benhabib promovierte an der Yale University, wo sie sich in ihrer Dissertation über Hegel eingehend mit dem Problem der politischen Ordnung befasste. Dabei versuchte sie, die Wahrung der Würde und Handlungsfähigkeit des Einzelnen mit der Legitimität des modernen Staates in Einklang zu bringen. 

Hegels Theorie entwickelte sich für sie zu einer bleibenden Quelle für Fragen der Rechte, der Individualität und des modernen Staates. Doch auch hier, wie an vielen Stellen in ihrem Werk, lenkt Benhabib unsere Aufmerksamkeit auf das unausgeschöpfte emanzipatorische Potenzial in Hegels Theorie. Eine Kritische Theorie, die zeitgenössische moralische und politische Fragen reflektiert, kann sich nicht wie Hegel auf nationale Grenzen beschränken, sondern muss über den Nationalstaat hinausgehen. 

In ihren frühen Arbeiten beschäftigte sich Benhabib mit den Theorien der Frankfurter Schule, insbesondere mit Jürgen Habermas' kommunikativer Ethik. Wie Habermas ist Benhabib daran interessiert, die Vernunft vor der Instrumentalisierung zu bewahren, mit der die früheren Theoretiker der Frankfurter Schule sie identifiziert hatten. Sie verteidigt die kommunikative Vernunft und drängt sie gleichzeitig zu mehr Inklusivität und Vielfalt. 

Benhabib teilt Habermas Ansicht, dass echte Kommunikation Respekt, Fairness, Ehrlichkeit und gleiche Anerkennung erfordert. Sie betrachtet diese Werte jedoch weniger als universelle philosophische Wahrheiten, sondern vielmehr als Prinzipien, die historisch aus bestimmten sozialen Erwartungen hervorgegangen sind. Inspiriert von Arendts Werk stehen für sie nicht die Voraussetzungen der öffentlichen Deliberation, sondern der tatsächliche Prozess der Verständigung mit anderen durch Dialog im Vordergrund. Ihre Arbeiten zu Habermas und zur Diskursethik legten den philosophischen Grundstein für ihre späteren Arbeiten über die Ausgrenzung verschiedener Gruppen – Frauen, Minderheiten sowie Migranten, Flüchtlinge und Staatenlose.

Eine Antwort auf postmoderne feministische Kritiken

Die postmoderne Kritik an großen Erzählungen dominierte das intellektuelle Klima der 1990er Jahre. Seyla Benhabib befand sich mitten in einer hitzigen feministischen Diskussion. Zentral war die Frage, wie feministische Subjektivität im Lichte der Postmoderne konzeptualisiert werden kann. Benhabib räumte zwar einige dieser Kritikpunkte ein, problematisierte jedoch radikale, einer Ablehnung der Ideale der Aufklärung gleichkommende Positionen. Benhabib zufolge kann die westliche philosophische Vorstellung eines vermeintlich universellen, neutralen, transzendenten Subjekts jedoch zu Recht abgelehnt werden, da eine solche Figur von vornherein nie existiert hat. 

An ihre Stelle setzt Benhabib ein feministisches Verständnis von Subjektivität, das in einem historischen und kulturellen Kontext verankert ist, aber dennoch die rationalen und autonomen Dimensionen des Selbst berücksichtigt. Jede Gesellschaft vermittelt kulturelle und historische Codes, welche die Entwicklung des Individuums prägen. Durch diese Codes wächst ein Kind beispielsweise zu einem Hopi- oder Ägyptisch sprechenden Mitglied seiner Gemeinschaft heran, das in der Lage ist, an komplexen sozialen Praktiken teilzunehmen. Hierin spiegelt sich die Einbettung (situatedness) des Subjekts wider. Gleichzeitig wird jeder Mensch zum Initiator seiner eigenen einzigartigen Lebensgeschichte, die sich nicht allein auf kulturelle Codes reduzieren oder durch diese vorhersagen lässt. Darin kommt die Autonomie des Individuums zum Ausdruck. Letztlich vertritt Benhabib die Auffassung, dass eine solche autonome und dennoch situierte Subjektivität sowohl für normative Kritik als auch für politische Transformation unerlässlich ist. Die feministische Theorie darf daher weder einen abstrakten Universalismus akzeptieren noch sich dem Relativismus hingeben. Sie muss vielmehr ihre Universalität aus der Vielfalt gelebter Erfahrungen heraus artikulieren.

An ihre Stelle setzt Benhabib ein feministisches Verständnis von Subjektivität, das in einem historischen und kulturellen Kontext verankert ist, aber dennoch die rationalen und autonomen Dimensionen des Selbst berücksichtigt. 

Benhabib führte diese Erkenntnis später weiter aus und stützte sich dabei insbesondere auf die Gedanken von Hannah Arendt. In demokratischen Gesellschaften hängt die Legitimität der Institutionen davon ab, dass die Bürger und Bürgerinnen ihre gemeinsamen Angelegenheiten im öffentlichen Raum diskutieren. Die Kraft dieser Ordnung liegt in dem, was Arendt (in Anlehnung an Kant) als „erweiterte Mentalität” bezeichnet. Diese ist die Fähigkeit, Dinge aus der Perspektive anderer zu betrachten und die eigenen Meinungen anhand ihrer Urteile zu überprüfen. Dieser Prozess setzt eine öffentliche Kultur voraus, in der alle ihre Meinung äußern und ihre Perspektive zum Ausdruck bringen können. 

Laut Benhabib entsteht das Versprechen der modernen Politik durch diese ständige Herausforderung und Erschütterung unserer selbstzentrierten Perspektive durch eine Vielfalt von Stimmen. Dabei handelt es sich um einen dialogischen und spannungsgeladenen Prozess. Für Benhabib ist es eine fortwährende Praxis, in der die Stimmen von Migranten, Staatenlosen, Frauen und anderen marginalisierten Gemeinschaften im Namen des Universellen zu Wort kommen können. Es handelt sich um eine fundamentale politische Handlung, durch die Universalität zurückgewonnen und neu interpretiert werden kann.

Jenseits der Unterscheidung zwischen Freund und Feind

Benhabib wandte das Konzept der erweiterten Mentalität auf die autoritäre und identitäre Politik unserer Zeit an. Während eine erweiterte Mentalität ein Element des Respekts für den anderen beinhaltet und auf einen Prozess der gegenseitigen Verständigung abzielt, blockiert der Diskurs autoritärer Führer diesen Prozess. 

Die Politik solcher Charaktere basiert normativ auf einer ontologisch definierten Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Individuelle Unterschiede werden dabei in Kategorien wie „das Volk“ oder „unsere Seite“ aufgelöst.

Ein zweites bleibendes Vermächtnis Arendts in Benhabibs Werk ist das „Recht auf Rechte“. Arendt argumentierte, dass die Mitglieder politischer Gemeinschaften „Rechte haben”, d. h. die bekannten bürgerlichen und politischen Rechte der Bürger. Bevor Menschen jedoch irgendwelche gesetzlichen Rechte genießen können, müssen sie zunächst als Mitglieder der Menschheit anerkannt werden. Benhabib zeigt, dass sich hinter Arendts Formulierung ein vorhergehender moralischer Anspruch verbirgt: Jeder Mensch sollte zunächst als Individuum anerkannt werden, das einer politischen Gemeinschaft angehört. 

Gesetzliche Rechte, so erkannte Arendt, haben ohne die vorherige Anerkennung der Rechtsträger*innen als Mitglied der Menschheit keine Grundlage. Eine traurige Realität bleibt jedoch, dass die Gewährung dieser grundlegenden Zugehörigkeit durch die menschliche Gemeinschaft in der Praxis nicht immer für alle Menschen erfolgt. Arendt selbst beobachtete dies in einem Prozess, den sie als „Niedergang des Nationalstaates“ bezeichnete, in dessen Folge bereits vor Beginn des Zweiten Weltkriegs Millionen von Flüchtlingen, deportierten Ausländer*innen und Staatenlosen entstanden waren. 

Grundlegung der Menschenrechte

Während des Jugoslawienkrieges wurde Seyla Benhabib Zeugin einer Migrationskrise in Europa. Diese fiel in einen Moment, in dem die Gründung der Europäischen Union zugleich zum ersten Mal die Verwirklichung einer wahrhaft kosmopolitischen Weltordnung zu versprechen schien. Als Antwort auf diese Herausforderungen entwarf Benhabib ein philosophisches Konzept zur Grundlegung der Menschenrechte. 

Unter Ablehnung der beiden reaktionären Behauptungen, dass Menschenrechte entweder lediglich ein neoliberaler Trick mächtiger Staaten seien, um andere zu dominieren, oder eine Bedrohung für die demokratische Selbstverwaltung darstellten, bot Benhabib eine auf Diskursethik basierende Grundlage für die Akzeptanz von Menschenrechtsnormen. Sie beharrte darauf, dass Menschenrechtsnormen nicht einfach von oben auferlegt werden. Stattdessen werden sie demokratisch reproduziert. Die Menschenrechte gewinnen an Kraft, wenn Gemeinschaften sie sich durch demokratische Praxis zu eigen machen, sie hinterfragen und anpassen. 

Die Bedeutung dieser Normen entfaltet sich durch wiederholte öffentliche Auseinandersetzungen innerhalb länderspezifischer Kontexte. Darüber hinaus haben Menschenrechtsnormen rechtsetzende Kraft: werden sie von marginalisierten Gruppen übernommen, schaffen sie Möglichkeiten für organisiertes Handeln und die Behebung von Ungerechtigkeiten. Menschenrechte werden somit nicht von außen auferlegt, vielmehr sind sie sich ständig weiterentwickelnde Prinzipien, die durch eine demokratische Praxis geprägt werden.

Nach einer neuen Migrationswelle nach Europa infolge des Syrien-Krieges reflektierte Benhabib öffentlich über die Herausforderungen, denen Deutschland und die EU gegenüberstehen. Sie erkannte zwar an, dass der Schutz von Flüchtlingen gemäß verbindlichen internationalen Verträgen wie den Genfer Konventionen erforderlich ist, stellte jedoch auch fest, dass Staaten diese Verpflichtungen oft verletzen und ihre Durchsetzung immer schwierig ist. Sie begrüßte daher die Entscheidung Deutschlands, seine Grenzen trotz gesellschaftlicher Herausforderungen nicht zu schließen. Sie betonte dabei nachdrücklich, dass Geflüchtete unter dem Gesichtspunkt ihrer Menschenrechte betrachtet werden müssten und nicht als Sicherheitsrisiko. 

Unter Ablehnung der beiden reaktionären Behauptungen, dass Menschenrechte entweder lediglich ein neoliberaler Trick mächtiger Staaten seien, um andere zu dominieren, oder eine Bedrohung für die demokratische Selbstverwaltung darstellten, bot Benhabib eine auf Diskursethik basierende Grundlage für die Akzeptanz von Menschenrechtsnormen.

Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und angesichts einer weiteren Massenflucht bekräftigte Benhabib ihr Bekenntnis zu einem „Kosmopolitismus ohne Illusionen“, d. h. vor allem zu einem kompromisslosen Eintreten für Menschenwürde und Menschenrechte.

Zuletzt verteidigte Benhabib das Völkerrecht gegen die Kritik der sog. Third World Approaches to International Law, denen zufolge das Völkerrecht historisch gesehen lediglich die Interessen der westlichen Mächte geschützt habe, anstatt eine gerechte Weltordnung aufzubauen.

Benhabib räumt ein, dass die liberale Weltordnung von verschiedenen Interessen geprägt und mit Problemen behaftet ist. Sie bekräftigt jedoch die Möglichkeit, das Völkerrecht neu zu gestalten, um einen inklusiveren Universalismus und eine gerechtere Welt zu schaffen. Unsere liberal-demokratischen Institutionen sind nicht perfekt. Und Sie müssen ständig hinterfragt und überarbeitet werden. Ohne die in diesen Institutionen verankerten universellen Prinzipien können wir der anhaltenden Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung schutzbedürftiger Gruppen jedoch nicht wirksam begegnen. 

Die politische Moderne ist für Benhabib nicht erschöpft, solange sie durch demokratische Auseinandersetzungen neu gestaltet wird. 

Der öffentliche Diskurs erscheint heute zunehmend polarisiert, und das demokratische Leben immer mehr zersplittert. Das weltweite Wiederaufleben von Autoritarismus, Neofaschismus, Rassismus, Sexismus und Diskriminierung von LBGTQ-Personen hat ein Umfeld geschaffen, in dem die Stimmen derer, die für das kämpfen, was Benhabib als „Würde in Widrigkeiten“ bezeichnet, zunehmend zum Verstummen gebracht werden. 

Vor diesem Hintergrund spricht der Hannah-Arendt-Preis 2025 eine klare Sprache. Er ehrt eine Philosophin und öffentliche Intellektuelle, deren Werk im Sinne Arendts die „Liebe zur Welt“ zum Ausdruck bringt, indem es deren Ausgrenzungen hinterfragt, ihre Aporien beleuchtet und den Horizont demokratischer Möglichkeiten erweitert. 

Arendt selbst war keiner einzigen Ideologie verpflichtet. Für sie war das Zeitalter der Ideologien vorbei. Was blieb, war die Verpflichtung zum Verstehen. In ähnlicher Weise verkörpert Benhabib eine Form des philosophischen Verstehens, die sich der Vereinfachung widersetzt und der Komplexität gelebter Erfahrung Rechnung trägt. 

Auch wenn wir, wie Arendt einmal sagte, in „dunklen Zeiten“ leben, ist die Dunkelheit niemals vollständig. Die Arbeit von öffentlichen Intellektuellen wie Seyla Benhabib erhellt unsere fragile, gemeinsam geteilte Welt. 

Diese Welt ist weder gegeben noch sollte sie als selbstverständlich angesehen werden. Aber im Sinne Arendts können wir sie durch politisches Handeln, Vielfalt und Dialog kontinuierlich gestalten.

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