Briefwechsel: Heinrich Böll und Lew Kopelew

Von der äußerst umfangreichen Korrespondenz, die Heinrich Böll geführt hat, ist bislang nur wenig publiziert worden. Der Briefwechsel mit Lew Kopelew ist unter anderem deshalb so bedeutsam, weil er das Herzstück der Kontakte und der Korrespondenz Bölls in die Sowjetunion darstellt. Ein Interview mit der Herausgeberin Elsbeth Zylla.

Heinrich Böll hat umfangreich korrespondiert. Warum wurde gerade der Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Lew Kopelew für eine Publikation ausgewählt?

Zylla: Von der äußerst umfangreichen Korrespondenz, die Heinrich Böll geführt hat, ist bislang nur wenig publiziert worden. Es gibt eine Auswahl der Kriegsbriefe Bölls, die mein Kollege Jochen Schubert herausgegeben hat, und es gibt die Korrespondenz mit Bölls Jugendfreund Ernst Adolf Kunz. Alles andere liegt bisher weitgehend unerschlossen im Archiv – darunter etliche Korrespondenzen, die für literaturwissenschaftliche oder zeitgeschichtliche Forschung von großem Interesse wären. Der Briefwechsel mit Kopelew ist unter anderem deshalb so bedeutsam, weil er das Herzstück der Kontakte und der Korrespondenz Bölls in die Sowjetunion darstellt.

Kopelew war als Freund und als jemand, der Informationen lieferte, eine wichtige Person für Heinrich Böll, der sich in Richtung Sowjetunion sehr engagiert hat, vor allem für verfolgte Schriftsteller und Intellektuelle.  Es gibt in diesem Zusammenhang noch andere Korrespondenzen, zum Beispiel mit dem Germanisten und Romanisten Efim Etkind oder mit dem Maler Boris Birger. Die Korrespondenz mit Kopelew ist aber fraglos die wichtigste und stellt sozusagen einen Kulminationspunkt dar.

Wie entstand der Briefwechsel zwischen Böll und Kopelew?

Zylla: Der Kontakt kam zustande, als Heinrich Böll 1962 als Teilnehmer einer Schriftstellerdelegation nach Moskau reiste, gemeinsam mit seinen Kollegen Richard Gerlach und Rudolf Hagelstange. An der Moskauer Universität fand eine große Veranstaltung mit russischen Studierenden statt, die Kopelew moderierte und dolmetschte. Zu dieser Zeit reisten nur wenige westliche Intellektuelle in die Sowjetunion. Kopelew hatte einiges von Böll gelesen, schon selbst über ihn geschrieben und, um es salopp auszudrücken, er stürzte sich regelrecht auf ihn.

Für Kopelew war dieser Besuch von sehr großer Bedeutung, und er nahm Böll gleich mit zu sich nach Hause und machte ihn mit seinem Freundeskreis bekannt. Von da an schrieben sie sich regelmäßig Briefe - in der Publikation sind die ersten beiden als Faksimile abgedruckt. Die Korrespondenz währte bis etwa 1982, danach gibt es im Wesentlichen nur noch  Notizzettel oder Redemanuskripte, die ich in das Buch nicht mehr aufgenommen habe. Kopelew lebte zu dieser Zeit längst in Köln, und er konnte sich mit Böll treffen oder mit ihm telefonieren.

Konnten die Briefe damals unbemerkt durch die russische Zensur gelangen?

Zylla: Nur ganz wenige Briefe, abgesehen von Telegrammen, wurden mit der normalen Post geschickt. Die meisten wurden von “ Brieftauben“ transportiert, dass heißt zum Beispiel über Journalisten, die in Moskau akkreditiert waren. Dazu gehörten Fritz Pleitgen, Klaus Bednarz, Dietrich Möller, Reinhard Meier und einige andere. Hauptsächlich waren es deutsche Journalisten, aber es gab auch Personen, die in der Deutschen Botschaft in Moskau arbeiteten und die Möglichkeit hatten, übrigens ebenso wie die Journalisten, sich der Diplomatenpost zu bedienen. Das war oft grenzwertig, es gab immer wieder Ärger deshalb, und manchmal war es fast unmöglich, Briefe zu transportieren. Gelegentlich waren es mutige Reisende, die es riskierten, Post mitzunehmen. Mit der regulären Post kamen, von Telegrammen abgesehen, vor allem nur Briefe, wenn Kopelew und seine Frau Raissa Orlowa auf Reisen waren und aus dem Baltikum, aus Tbilissi oder Zentralasien schrieben. In diesen Fällen war die Zensur nicht so scharf wie in Moskau.

Hier liegt auch der Schlüssel für die Bedeutung der Korrespondenz im Hinblick auf zeitgeschichtliche Forschung, denn wenn alle diese Dokumente durch die Zensur gegangen wären, dann würde wahrscheinlich nicht viel Wichtiges darin stehen. Ich kenne solch offiziell transportierte Briefe von anderen Korrespondenten – deren Botschaft ist dann oft, verkürzt gesagt: „Mich gibt es auch noch“, „vergiss mich nicht“, „hab mich weiterhin lieb“ und „Katja hat die Masern“. Mehr war nicht möglich - von dieser Sorte Briefe gibt es etliche im Böll-Archiv. Der Briefwechsel mit Kopelew ist eben nicht so, und es gibt nur wenig darin, was verklausuliert ausgedrückt werden musste.

Was war Gegenstand des Briefwechsels? Was brachte Böll und Kopelew dazu, ihre Korrespondenz über einen so langen Zeitraum hinweg kontinuierlich weiterzuführen?

Zylla: Es begann damit, dass die beiden sich mochten und schnell gemeinsame Interessen fanden. Natürlich geht es in den Briefen auch viel um Privates – um Befindlichkeiten, um ihre freundschaftliche Beziehung, um die Familien. Besonders wichtig war jedoch, dass Böll und Kopelew beide Kriegsteilnehmer gewesen waren, ein Fundament ihrer Verständigung, und beide waren mit deutscher und russischer Literatur stark verbunden. Der Germanist Kopelew hatte sich intensiv mit deutscher Literatur befasst – unter anderem mit Goethe, mit Heine, mit Brecht und in vielfältigster Weise mit zeitgenössischer Literatur. Böll hatte eine tiefe Beziehung zu den russischen Klassikern, vor allem zu Dostojewskij. Literarische Themen waren immer wieder Gegenstand der Korrespondenz. Des Weiteren ging es um die Höhen und Tiefen von Heinrich Bölls Leben in der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder geriet er in die Schusslinie der Springerpresse, beispielsweise im Zuge der RAF-Debatte, oder der katholischen Presse.

Böll war niemand, der diese öffentlichen Attacken an sich abgleiten lassen konnte, er hatte alles andere als ein dickes Fell. Aber auch bestimmte Ereignisse in der sowjetischen Hemisphäre wurden zum Thema, wie zum Beispiel der Prager Frühling 1968 und dessen gewaltsame Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Paktes. Böll befand sich im August 1968 mit seinem Sohn René und seiner Frau Annemarie auf dem Prager Wenzelsplatz, als die Panzer rollten. Darüber hat er Kopelew einen sehr ergreifenden Brief geschrieben – wie er das wahrgenommen hat und was er dort erlebt hat. Das inhaltliche Kernstück der Korrespondenz aus meiner Sicht ist allerdings die Situation der sowjetischen Intellektuellen unter den Bedingungen der Repression. Aus den Briefen lässt sich sehr gut erkennen, in welcher Weise und für wen sich Heinrich Böll in der Sowjetunion eingesetzt hat. Böll hatte zu keiner Zeit von sich selbst das Verständnis eines Politikers, sondern er setzte sich als Schriftsteller, unter anderem während seiner Zeit als Präsident des deutschen und des internationalen PEN, für verfolgte Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein – übrigens nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in vielen anderen Ländern.

Das Interview führte Jan Drewitz, Heinrich-Böll-Stiftung.

Elsbeth Zylla
Elsbeth Zylla, geboren 1955, studierte Germanistik und Politikwissenschaft und war danach in der Erwachsenenbildung tätig. Ihre biografischen Verknüpfungen mit Mittel- und Osteuropa sind vielfältig und wurden auch in der Entstehung von Büchern sichtbar. Seit 1993 arbeitet sie für die Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Das Buch

Heinrich Böll Lew Kopelew
Briefwechsel
Mit einem Essay von Karl Schlögel
Hrsg. von Elsbeth Zylla
Zahlreiche Illustrationen, 448 Seiten, Steidl-Verlag
29,80 Euro, ISBN 978-3-86930-363-5
 
» Zum Steidl Verlag
 

Geleitwort

Briefwechsel Böll-Kopelew

Der vorliegende Band setzt die Reihe von Editionen zu Heinrich Bölls Leben und Werk fort, die in den letzten Jahren unter Mitwirkung der Heinrich Böll Stiftung erschienen sind. Er schließt unmittelbar an die nach mehr als zehnjähriger Arbeit abgeschlossene Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls an. Weitere Editionsprojekte werden folgen, die bestimmte Aspekte des Böll‘schen Œuvres für die Nachwelt aufbereiten. Dabei geht es nicht um eine Kanonisierung Bölls. Er hat sich zeitlebens dagegen gesträubt, in den Rang einer unfehlbaren moralischen Instanz erhoben zu werden, das sollte man ihm auch posthum nicht antun. Seine Werke sind Bestandteil der Weltliteratur, und seine  Essays, Artikel, Reden und Briefe reichen über die Zeitgebundenheit hinaus. In seinen Romanen, Kurzgeschichten und öffentlichen Interventionen wird eine Haltung sichtbar, die nichts an Aktualität verloren hat. Man kann sie mit Stichworten wie intellektuelle Redlichkeit, Zivilcourage, Empathie für die an den Rand Gedrückten, Skepsis gegenüber der Macht, unbedingtes Eintreten für Bürgerrechte und künstlerische Freiheit umschreiben. Diesem Erbe fühlen wir uns als Stiftung verpflichtet.
Nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln am 3. März 2009 wird die Aufarbeitung des umfangreichen Schaffens Heinrich Bölls und seines enormen Wirkungskreises umso wichtiger. Bei diesem Unglück gingen auch große Teile seines Nachlasses verloren oder sind noch nicht identifiziert worden. Andere Teile blieben erhalten, weil sie sich zum Zeitpunkt des Einsturzes glücklicherweise zur Auswertung für die Edition der Werkausgabe und des vorliegenden Briefwechsels im Heinrich-Böll-Archiv der Stadtbibliothek Köln befanden.

Heinrich Böll war ein großer Korrespondent, der diesbezügliche Nachlass ist sehr umfangreich. Vieles davon ist Spiegel der Zeitgeschichte, ein bisher weitgehend unerschlossener Schatz. Herausgeber der letzten großen Briefedition – Briefe aus dem Krieg 1939-1945, erschienen 2001 bei Kiepenheuer & Witsch – war Jochen Schubert, Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung im Kölner Böll-Archiv. Nach dem Briefwechsel mit dem Jugendfreund Ernst-Adolf Kunz ist die mit Lew Kopelew die umfangreichste überlieferte Einzelkorrespondenz. Sie ist eine bedeutende zeitgeschichtliche Fundgrube, insbesondere durch den Blick auf die Andersdenkenden in der Sowjetunion der 1960-er und 1970-er Jahre.

Lew Kopelew war in vielem ein Geistesverwandter Heinrich Bölls, und es ist kein Zufall, dass bis heute eine große Nähe zwischen dem Freundeskreis des einen und des anderen besteht. Wem Böll etwas bedeutet, der (oder die) schätzt in der Regel auch Kopelew und umgekehrt. So wirkt der intensive Austausch zwischen beiden bis heute fort.
 
Angeregt wurde die vorliegende Briefedition durch Viktor Böll, bis zu seinem viel zu frühen Tod im Jahr 2009 Leiter des Heinrich-Böll-Archivs. Die Sicherung und Aufbereitung des Nachlasses seines Onkels war sein Lebenswerk.

Wir bedanken uns bei den Erben der beiden Schriftsteller, namentlich bei Marija Orlowa und René Böll, für die Förderung dieses Vorhabens. Unser Dank gilt auch dem Verleger Gerhard Steidl für sein spontanes und anhaltendes Interesse an dieser Veröffentlichung. Zu guter Letzt möchte ich Elsbeth Zylla für die Hingabe und Ausdauer danken, mit der sie sich diesem Projekt gewidmet hat. Es setzt in vieler Hinsicht ihr langjähriges Engagement für den Dialog zwischen Künstlern und Bürgerrechtlern aus Ost und West fort.

Berlin, im April 2011
Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung