8. Kiewer Gespräche: Fremd bin ich eingezogen

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Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung Foto: Ludwig Rauch

28. Februar 2012
Ralf Fücks

Meine Damen und Herren, verehrte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde,

herzlich willkommen im Namen der Heinrich-Böll-Stiftung. Ich freue mich, dass wir nach 2010 nun zum zweiten Mal Gastgeber der Kiewer Gespräche sind. Der Dialog zwischen der Ukraine, Polen und Deutschland zur Stärkung der Zivilgesellschaft ist uns ein großes Anliegen.

Gleich zu Beginn möchte ich allen Kooperationspartnern, insbesondere Stefanie Schiffer und dem Europäischen Austausch für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.

Die politische Großwetterlage, in der dieser Dialog sich bewegt, ist wenig ermutigend. Umso wichtiger ist, dass er stattfindet. Zu Zeiten der „orangenen Revolution“ galt die Ukraine vielen als Hoffnungsträger im Osten – ein Modell demokratischer Modernisierung, das auch auf ihre Nachbarschaft ausstrahlen würde. Inzwischen sind diese Hoffnungen verblasst.

Das Bild der heutigen Ukraine ist geprägt durch steckengebliebene Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft, schlimmer noch durch Rückschritte in Richtung einer autoritären Fassadendemokratie. Der Prozess gegen Julia Timoschenko und das gestrige Urteil gegen Juri Luzenko, der wegen läppischer Vorwürfe zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, passen in dieses Bild. Selbst die Staatsanwaltschaft konnte Luzenko keine persönliche Bereicherung unterstellen. Stattdessen wurde er wegen Begünstigung seines Fahrers weggesperrt, mit der er den Staat um 4000 Euro geschädigt haben soll. Wie soll man das anders interpretieren denn als Versuch, einen potentiellen Anführer der Opposition auszuschalten?

Dazu kommen die auf beiden Seiten enttäuschten Erwartungen an eine schnelle Annäherung an die EU. Wir teilen die Auffassung, dass die Union ihre demokratischen und rechtsstaatlichen Standards nicht aus geopolitischen Gründen außer Kraft setzen kann, wenn es um eine neue Stufe der Zusammenarbeit mit der Ukraine geht.

Umgekehrt scheint für die derzeitige politische Führung der Ukraine die Befestigung der eigenen Machtposition wichtiger als eine engere Verbindung zur Europäischen Union. Umso wichtiger ist es, die Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu vertiefen und die Gemeinsamkeiten zu stärken, um die gemeinsame europäische Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren. Hinter den politischen Enttäuschungen verblasst das Bild der Ukraine als einem großen, vielfältigen und kulturell reichen europäischen Land. Wir wollen dazu beitragen, dieses Bild wieder aufzufrischen und neue Impulse für die Beziehungen zwischen unseren Ländern zu geben.

Migration, das Zentralthema dieser Konferenz, bezeichnet in Deutschland noch immer eher ein Angstthema. Wir leben in einem Land, das sich jahrelang der schlichten Wahrheit verweigert hat, ein Einwanderungsland zu sein - und nun erst langsam ein neues Selbstverständnis entwickelt als Gesellschaft, die auf Zuwanderung angewiesen ist, wenn sie ihren Lebensstandard halten will.

Dabei tut sich die Mehrheitsgesellschaft nach wie vor schwer, Immigranten als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger zu akzeptieren und Integration nicht als bloße Anpassung zu verstehen, sondern als einen offenen Aushandlungsprozess zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Deutschland verändert sich mit der Einwanderung von Millionen Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen, und Veränderung des Gewohnten erzeugt bei vielen Abwehr.

So wird auch die Arbeitsmigration aus der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern vielfach als Bedrohung für Arbeitsplätze und Löhne der Einheimischen wahrgenommen – gegen alle empirischen Befunde. Tatsächlich füllen die Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa die Lücken unseres Arbeitsmarkts – von den vielen Putzhilfen bis zu Ingenieuren.

Ein verdrängtes Kapitel, das Deutsche und Ukrainer im Zusammenhang der Migrationspolitik verbindet, ist die Abschiebung von Asylbewerbern aus der EU in sogenannte „sichere Drittstaaten“. Wer also über die Ukraine in die EU einreist in der Hoffnung auf Bleiberecht, muss damit rechnen, in die Ukraine zurückgeschickt zu werden – in unsichere, vielfach prekäre Bedingungen. Das ist es zumindest, was wir hören – und es wird wichtig sein hier zu erfahren, wie die Situation von zurückgewiesenen Flüchtlingen in der Ukraine heute tatsächlich aussieht.

Aufgabe dieser Tagung sollte aus unserer Sicht sein, die mit Migration verbundenen Chancen ebenso zu reflektieren wie die durch sie hervorgerufenen Probleme. Es geht darum, Ziele und Kriterien für einen produktiven, an elementaren Menschenrechten ausgerichteten Umgang mit Migration und Migranten zu formulieren. Das Programm dieser Tagung bildet diesen Zugang sehr gut ab. Diskutiert wird zum einen die Situation der Herkunftsregionen. Für sie ist die Migrationsbilanz zwiespältig. Die Abwanderung der Jungen und Energischen schmerzt, zugleich eröffnet sie auch Vorteile, etwa durch den Wissenstransfer zurückgekehrter Arbeitsmigranten oder die Rückflüsse von Geldern.

Ein zweites Großthema sind die mit der Arbeitsmigration verbundenen Entwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, z.B. der Druck auf die Löhne und die Schwarzarbeit im Dienstleistungssektor. Dem stehen die Vorteile geregelter Arbeitsmigration gegenüber. Sie verkleinert die Lücke zwischen Arbeitsnachfrage und –angebot und führt zu einer höheren Wertschöpfung in Deutschland. Die Erörterung der Chancen und Risiken zirkulärer, befristeter Arbeitsmigration soll ausloten, ob dieses Instrument möglicherweise zu einer win-win-Situation für die Herkunftsländer wie für die Bundesrepublik führen kann.

Ein dritter Themenbereich ist der Kampf gegen illegale Migration und Menschenhandel sowie die Hilfeleistung für die Opfer. Er darf nicht auf Grenzüberwachung und polizeiliche Maßnahmen verkürzt werden, sondern erfordert eine positive Einstellung zur legalen Migration, eine Liberalisierung des Visaregimes und der hiesigen Zugangsregeln zum Arbeitsmarkt. Insbesondere die Lage der Heerscharen von Frauen aus Osteuropa, die im Westen zur Prostitution genötigt werden, schreit nach humanitärer, sozialer und rechtlicher Verbesserung. Genug Stoff also für ein intensives Gespräch, aus dem hoffentlich konstruktive Vorschläge hervorgehen.

Meine Damen und Herren,
ich wünsche Ihnen allen eine interessante, produktive Tagung hier in der Heinrich-Böll-Stiftung und morgen in der Europäischen Akademie. 

8. Kiewer Gespräche: Fremd bin ich eingezogen (28.-29.2.2012)

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.