Brasilien: Regierung der Widersprüche

Der Staat soll größter ökonomischer Akteur sein. Dazu dient die "Zweitauflage" des Programs Beschleunigtes Wachstum (PAC). Bis 2014 soll das Dreifache der ersten Phase des PAC zwischen 2007 und 2010 ausgegeben werden: 959 Mrd. R$. Hier: Präsidentin Dilma Rousseff besucht die Baustelle des Integrationsprojektes am São-Francisco-Fluss (8. Februar 2012).  Foto: Blog do Planalto, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

29. Februar 2012
Dawid Danilo Bartelt

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist ein gutes Jahr im Amt. Im Konfliktfall haben der Schutz der Umwelt und der Menschenrechte verletzlicher Bevölkerungsgruppen das Nachsehen.

Gut vierzehn Monate ist Dilma Rousseff jetzt im Amt, und alle, die sie nur als blasse Widergängerin eines im Hintergrund die Fäden ziehenden Lula da Silva sahen, sind eines Besseren belehrt. Zwar hat sich Lula anfangs in politische, vor allem personalpolitische Entscheidungen einzumischen versucht, und dies umso direkter, je heftiger er beteuerte, dies nicht zu tun. Doch nun hat der Expräsident mit seiner Krebserkrankung zu kämpfen. Und die Präsidentin hat bereits sehr deutlich gemacht, dass sie ihren eigenen Kopf und ihren eigenen politischen Stil hat und etwa gegen Korruption selbst auf Ministerebene durchgreift. Einsichtsvoller sind die Hinweise auf den „technokratischen“ Regierungsstil der Präsidentin. Die Ausrichtung auf das Machbare führt dazu, dass Entscheidungen in kleinem Kreis und auf möglichst hoher Ebene getroffen werden, ohne Abstimmung mit mittleren Ebenen des Apparats. Zum anderen befürchten politische Beobachter, dass angesichts einer konservativen Mehrheit in der Regierungskoalition (der insgesamt 14 Parteien angehören) ein „technisches“ Regierungsverständnis unternehmerische Interessen weiter bevorzugt und die Regierung sich vom politischen Projekt der Präsidentinnenpartei PT weiter entferne.


Widersprüche prägen die Regierungspolitik

Diese Kritik übersieht allerdings, dass die Politik der PT von heute gerade beides verbindet: einen starken, ökonomisch dirigierenden Staat und eine orthodox-monetäre Wirtschaftspolitik; expansive Sozialausgaben und die massive, im Finanzvolumen deutlich höhere Unterstützung großer Unternehmen durch Steuervorteile, günstige Kredite und Infrastruktur. Unübersehbar ist auch, dass die Wachstumspolitik im Konfliktfall stets Vorrang vor dem Umweltschutz hat. Und diese Konflikte sind zahlreich in Brasilien.

Im ersten Jahr der Rousseff-Regierung blieb die PT  von den Schwierigkeiten und Widersprüchen geprägt, die die „Arbeiterpartei“ als Regierungspartei schon seit Jahren plagen. Sie muss sich mit zahlreichen politisch sehr divergenten Koalitionären und mit einem Kongress auseinandersetzen, in dem die (Agrar-)Wirtschafts- und die konservativ-religiösen Lobbies bei den Wahlen Ende 2010 weiter erstarkt sind. Gleichzeitig ist die PT selbst endgültig in der klientelistischen Realität des politischen Systems angekommen. Als Partei, die dem gewerkschaftlichen Milieu der Modernitätsregion um Sao Paulo und sozialen Bewegungen entstammt, lebt die PT das Konfliktpotential zwischen maximaler Ressourcennutzung für Wachstum und Vollbeschäftigung einerseits, dem Schutz von Ressourcen, Umwelt und den Rechten betroffener Minderheiten jenseits der verfassten Arbeiterschaft andererseits, zwischen Kapitalismuskritik und der einnehmenden Nähe zu den Unternehmen voll aus. Beispiele aus verschiedenen Politikbereichen werden dies im Folgenden verdeutlichen.

Programmatisch gilt: Kontinuität zur Politik von Rousseffs Mentor Lula da Silva. Abweichungen, in Nuancen zumindest, sind allenfalls in der Außen- und Menschenrechtspolitik zu erkennen. In der Region hat Rousseff besondere Beziehungen zu Argentiniens Cristina Kirchner demonstriert, nicht aber zu Hugo Chávez, Evo Morales oder Rafael Correa. In der UNO stimmte Brasilien erstmals einer Resolution zu, die eine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen im Iran fordert. Im Falle Syriens verhinderte Brasilien eine formelle Resolution des UN-Sicherheitsrats, stimmte aber einer abgemilderten Erklärung zu, die Syrien aufforderte, die Menschenrechte zu respektieren. In der Frage, ob Sanktionen gegen das Land zu verhängen seien, enthielt sich Brasilien und lehnte eine militärische Intervention ab. Auch der Intervention in Libyen stimmte Brasilien nicht zu und enthielt sich wie Deutschland. Und jüngst bei einem Staatsbesuch in Kuba zog sich Rousseff auf die Formel zurück, wonach Menschenrechte nicht als ideologische Waffe missbraucht werden dürften. Eine Werteorientierung bleibt in der Außenpolitik allenfalls schwach erkennbar. In der G20 setzt sich Brasilien für Ernährungssouveränität und die Förderung von Kleinbauern ein, widersetzt sich aber emphatisch Preisbindungen auf den Rohstoffmärkten, obwohl die Schwankungen dort die Ernährungssicherheit gerade der Kleinbauern bedrohen.

In der brasilianischen Menschenrechtspolitik agiert die Regierung ähnlich widersprüchlich. Die ehemalige Guerillakämpferin schweigt, wenn hochrangige Militärs wieder einmal den Militärputsch von 1964 rühmen, hat aber zügig und gegen den offenen Widerstand der Armee das Gesetz über die Bildung einer Wahrheitskommission für die Zeit der Militärdiktatur durchgebracht. Die Kommission soll zwei Jahre lang Informationen sammeln und Dokumente analysieren und dann einen Bericht vorlegen. Der Untersuchungszeitraum umfasst die gut zwanzig Jahre der Militärdiktatur ab 1964, ebenso aber die 18 Jahre davor. Kritiker befürchten, dass damit der Fokus von der Diktatur abgelenkt werden soll. Widerstand leisteten die Militärs vor allem gegen ein zeitgleich verabschiedetes Gesetz, nach dem auch als streng geheim eingestufte Dokumente nach maximal 50 Jahren zugänglich gemacht werden müssen.

Entscheidende politische Konflikte stehen noch aus. So gilt das Amnestiegesetz von 1979 fort. Die Menschenrechtskommissarin der UNO Navi Pillay forderte bereits, es nun aufzuheben. Ein problematisches Signal nach innen setzte die Regierung, als sie dem Programm für öffentliche Sicherheit und Bürgerschaft PRONASCI kurzfristig 50 Prozent des Jahreshaushaltes strich, immerhin 660 Millionen Euro. Dass PRONASCI seit Beginn im Jahr 2007 zu viel Geld in Gehaltsaufbesserungen für Polizisten und zu wenig etwa in die Erarbeitung gender- und rassismusspezifischer Antigewaltstrategien investiere, haben zivilgesellschaftliche Organisationen wie die hbs-Partner INESC und CFEMEA mehrfach kritisiert. Gleichzeitig betonen sie, dass PRONASCI als erstes Bundesprogramm für öffentliche Sicherheit mit nichtrepressivem Ansatz für die Menschenrechtspolitik in Brasilien enorm wichtig ist.


Rechte sexueller Minderheiten, Strafverfolgung von Homophobie, Schwangerschaftsabbruch

Widerstreitende Zeichen lassen sich auch bei den bürgerlichen Rechte sexueller Minderheiten sowie den sexuellen und reproduktiven Rechten beobachten. Der Oberste Bundesgerichtshof ebnete mit Entscheidungen vom Mai und Oktober 2011 der rechtlichen Gleichstelllung homosexueller Paare den Weg. Die Zivilehe ist nun möglich, im Steuer- und Erbrecht und bei der Krankenversicherung gelten entsprechende Bestimmungen. Wenig tun die Behörden gegen die weiterhin hohe Zahl von gezielten Morden aus Hass an Transsexuellen und Transvestiten. Ein vom Bundeserziehungsministerium erarbeitetes Informationsmaterial, das über Sexualität und Genderdiversität aufklären sollte, wurde auf Druck konservativ-religiöser Verbände und Parlamentarier zurückgezogen. Und auch beim seit sechs Jahren anhängigen Gesetzesentwurf zur Strafbarkeit von Homophobie feierte die Religiöse Parlamentariergruppe  einen Erfolg. Sie handelte eine Änderung des Gesetzesentwurfes aus, nach der Pastoren und Priester von Strafverfolgung ausgenommen sind, wenn sie Schwule und Lesben zwar lautstark als Verfehlte und Todsünder brandmarken, dies aber innerhalb eines Kirchengebäudes tun.
Wie einflussreich diese Gruppe ist, zeigte sich besonders beim Thema Schwangerschaftsabbruch. Bereits in der Stichwahl für das Präsidentenamt Ende 2010 war die Kandidatin Rousseff aus Angst vor Wählerverlusten eingeknickt und bekannte sich öffentlich zum “Schutz ungeborenen Lebens“. Bis dahin hatte sie Abtreibung, an der jährlich 1000 Frauen in Brasilien sterben, stets als Problem der öffentlichen Gesundheitspolitik bezeichnet. Nun bevölkerte sie ihre Wahlwerbespots mit glücklich lächelnden Schwangeren und strich das Thema aus ihrem Programm. Offiziell gilt nun, über den Schwangerschaftsabbruch müsse – irgendwann – das Parlament entscheiden. Dieser Linie unterwarf sich auch die neue Frauenministerin Eleonora Menicucci im Februar 2012, die bislang öffentlich für eine Entkriminalisierung der Abtreibung eingetreten war. Priorität der neuen Ministerin ist, das Gesetz über Gewalt gegen Frauen fortzuschreiben und besser umzusetzen. So sollen Vergewaltiger auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn das Opfer sie nicht angezeigt hat.


Armutsbekämpfung

Mit dem Programm „Brasilien ohne Elend“ setzt Rousseff die erfolgreiche Armutsbekämpfungs- und Sozialpolitik der letzten Jahre fort. Es integriert und erweitert die konditionierten Einkommenstransfer- und Infrastrukturprogramme (v.a. Wohnungsbau, Elektrifizierung, Zisternenbau) und ist mittlerweile auch von den meisten Bundesstaaten übernommen worden. Seit Juni 2011 seien nach Regierungsangaben bereits 407.000 Familien mit einem monatlichen Prokopfeinkommen von unter 30 Euro aufgenommen, die bislang nicht erfasst worden waren. Nach offiziellen Angaben leben in Brasilien noch immer 16 Millionen Familien in solch extremer Armut. Zum 1. Januar 2012 hob die Regierung zudem den Mindestlohn um 14,13 (inflationsbereinigt 7,16) Prozent auf 622 R$ (etwa 276 Euro) an.

Armutsbekämpfung in Brasilien ist, wie Kritiker/innen oft monieren, weniger Strukturpolitik als staatlich gesteuerte und finanzierte Steigerung von Realeinkommen, das durch sofortigen Konsum wieder in den Wirtschaftskreis zurückgespeist werden soll. Gepaart mit einer guten gesamtwirtschaftlichen Konjunktur und Beschäftigungslage hat das nach offizieller Wahrnehmung 32 Millionen von Brasilianer/innen in den letzten 10 Jahren „den Sprung aus der Armut in die Mittelklasse“ ermöglicht. Diese „neue Mittelklasse“ ist definiert als Gruppe, die monatlich zwischen etwa 670 und 2.220 Euro Familieneinkommen zur Verfügung hat und sich dadurch dem Konsumverhalten der traditionellen Mittelklasse – Symbole sind der Flachbildfernseher und das Auto – annähert. Das funktioniert allerdings zu oft über teure Privatkredite. Die brasilianische Zentralbank warnte kürzlich vor einer drohenden Überschuldung privater Haushalte genau in diesem Einkommenssegment. Innerhalb der G20 weist Brasilien immer noch die zweitungleichste Einkommensverteilung auf. Im UNO-Index für menschliche Entwicklung, der nicht das Bruttosozialprodukt, sondern u.a. Bildungschancen, Einkommensungleichheit oder Geschlechtergerechtigkeit zugrunde legt, verharrt Brasilien auf Platz 84 in der Liste von 187 Staaten.


Monetäre Wirtschaftspolitik, aber starker Staat

Diese Politik und ihre armutsmindernden Effekte bleiben das internationale Aushänge- und zugleich das rhetorische Schutzschild gegenüber der Kritik an der forcierten Wachstumspolitik. Zum Jahresende 2011 feierten die brasilianischen Medien Zahlen, nach denen Brasilien an Großbritannien vorbeigezogen und nun sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt sei. Finanzminister Mantega verkündete, bis 2015 werde Brasilien auch Frankreich überholt haben, „und vielleicht kriegen wir sogar Deutschland“.

Die Wirtschaft, die da wächst, ist zunehmend „reprimarisiert“. Das heißt, die Außenbilanzerlöse werden mit Primärprodukten – Rohstoffen und Agrarerzeugnissen – erzielt, die Anteile der Industrieprodukte gehen zurück, die Produktivität in der Industrie ist immer noch gering. Makroökonomisch dominiert weiterhin eine orthodoxe monetäre Politik: Hauptziele sind die Inflationskontrolle durch hohe Leitzinsen und eine überbewertete Währung sowie ein Staatshaushaltsüberschuss in Höhe von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit strich Rousseff daher 22 Mrd. Euro im Haushalt. Einschnitte erlitten vor allem die Bildungs- und Gesundheitspolitik. Gleichzeitig stiegen die Personalausgaben für Bundesbeamte um 4,4 Mrd. Euro im Vergleich zum Vorjahr. Die Kürzungen hatten also das Ziel, die expansive Wirtschaftspolitik aufrechtzuerhalten, den überdimensionierten Staatsapparat zu bezahlen und nicht zuletzt die enorme Binnenschuld von rund 81 Billionen Euro zu bedienen. Dies wiederum bedeutet einen enormen Transfer an die schmale und unproduktive Schicht der Schuldtitelinhaber. Diese Wenigen erhalten ein Vielfaches mehr als die Vielen über die Sozialleistungsprogramme.

Die „anti-neoliberale Politik“ ( Rousseff über die Regierungslinie) bedeutet vor allem, dass der Staat als größter ökonomischer Akteur auftritt und die wertintensivsten Prozesse der Volkswirtschaft nicht nur steuert, sondern an ihnen direkt beteiligt ist. Schon die Regierung Lulas – in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung – war eng mit dem Programm Beschleunigtes Wachstum (PAC) verknüpft. Anker von Rousseffs Politik ist die zweite Auflage dieses Programms. Bis 2014 sollen 959 Mrd. R$ ausgegeben werden, das wäre mehr als das Dreifache dessen, was das erste PAC zwischen 2007 und 2010 umgesetzt hatte. Finanziert werden diese gigantischen Programme von der nationalen Entwicklungsbank BNDES. Deren Kreditvergabevolumen lag 2010 bei 85 Mrd. US-Dollar und war damit, wie in Vorjahren, höher als das Budget der Weltbank. Schwerpunkt des PAC sind sozialer Wohnungsbau, Energie (Großwasserkraft, Atomkraft, Erdöl und Gasraffinerien), Straßenbau und andere Infrastrukturprojekte, insbesondere für die Energiedistribution.


Großstaudämme für den Energiehunger

Kein anderes Projekt der brasilianischen Regierung symbolisiert national wie international den Konflikt zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit so prominent wie der Großstaudamm Belo Monte am Xingufluss. Die Auseinandersetzungen haben sich im Verlauf des ersten Regierungsjahres verschärft, nicht zuletzt, weil die Präsidentin selbst alle Zweifel mit harten Worten vom Tisch fegt. Immer wieder stoppten Gerichtsurteile die Bauarbeiten, und immer sorgte eine Intervention aus Brasília umgehend für die Aufhebung der Aufhebung. Aber Belo Monte ist nur eines – wenn auch das größte – von insgesamt mehr als 20 Wasserkraftwerken, die in den nächsten Jahrzehnten in Amazonien gebaut werden sollen oder schon im Bau sind.

Fortgeschritten sind die Arbeiten an den Großkraftwerken Santo Antonio und Jirau am Madeirafluss. Auf beiden Baustellen kam es im März zu Streiks und Ausschreitungen. Offensichtlich spontan protestierten Zehntausende Arbeiter, zumeist Wanderarbeiter aus dem Norden und Nordosten, gegen unwürdige Arbeitsbedingungen, mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen und niedrige Löhne. Einige Wochen lang erlebte Brasilien die größte selbstorganisierte Demonstration für wirtschaftliche und soziale Menschenrechte seiner Geschichte. Längst hat sich in Brasilien eine sehr aktive Bewegung gebildet, die auf Verletzung eben dieser wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte durch Großprojekte hinweist. Die Staudämme in Amazonien bedrohen Lebensweise und Existenz von Fischern, Indigenen und anderen Waldbewohner/innen. Doch der Energiebedarf ist groß. Mit Mitteln der Entwicklungsbank BNDES plant der staatliche Stromkonzern Eletrobrás in Peru und weiteren 10 lateinamerikanischen Ländern binationale Wasserkraftwerke. Einige sind bereits im Bau. 70 bis 80 Prozent der Produktion soll nach Brasilien exportiert werden. Vorwürfe, Brasilien importiere damit billigen Strom, exportiere aber Umweltschäden und –konflikte weist Brasília strikt zurück. Doch die BNDES agiert längst international, und in Peru, Bolivien oder Argentinien ist schon die Rede vom neuen Hegemon, ja von einem brasilianischen Kolonialismus aufgekommen. Die geplante Straße durch das Indigenenschutzgebiet TIPNIS in Bolivien lieferte 2011 dazu den emblematischen Konflikt. Finanziert von BNDES, ausgeführt vom brasilianischen Bauriesen OAS, sollte die Straße den Zugang zum Pazifik erschließen – nicht zuletzt für die Agrarprodukte und Rohstoffe aus Brasilien, für die die Chinesen gut bezahlen und die bislang teuer von Brasiliens Atlantikhäfen verschifft werden müssen.

Doch die Großprojektepolitik ist auch in den Städten von Menschenrechtsverletzungen begleitet. In den Austragungsorten der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 werden ständig Armenviertel zwangsgeräumt, in der Regel gegen geltendes lokales oder internationales Recht. Dies sieht eine rechtzeitige Information und Beteiligung der Betroffenen sowie angemessene und gleichwertige Entschädigungen vor. Einem von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebenen Dossier der Bundesuniversität Rio de Janeiro zufolge laufen 150-170.000 Brasilianer/innen Gefahr, im Zuges des Baus neuer Sportstätten, Verkehrsstraßen oder Hotels auf diese Weise ihre Wohnung – und oft zugleich ihre Lebensgrundlage – zu verlieren.


Die Pfründelogik

Vermutlich rekordverdächtig: Acht Bundesminister mussten im Verlauf der ersten 12 Monate der neuen Regierung zurücktreten. Sieben davon, alle männlich, verloren ihr Amt, weil ihnen Korruption – zumeist persönliche Bereicherung durch Amtsmissbrauch – nachgewiesen wurde. Nur wenige Wochen nach Amtsantritt Rousseffs traf es den erfahrenen PT-Politiker und Lula-Freund Antonio Palocci, der als Präsidialamtsminister erklärtermaßen als rechte Hand der neuen Präsidentin bestallt worden war. Nacheinander fielen die Minister für Transport, Landwirtschaft, Tourismus, Sport, Arbeit und Städtewesen. Zur Jahreswende 2011/2012 wackelte dann der Stuhl von Industrie- und Handelsminister Fernando Pimentel. Ganz ähnlich wie Palocci hatte Pimentel in der kurzen Spanne zwischen seinem vorherigen Amt als Bürgermeister von Belo Horizonte und seinem Antritt als Minister sehr viel Geld als politischer Berater verdient. Hauptkunden waren der Industrieverband des Bundesstaates Minas Gerais und eine große Baufirma aus demselben Bundesstaat, dessen Hauptstadt Belo Horizonte ist. Beobachter vermuten, dass Pimentel bei der angekündigten Kabinettsreform weichen wird.

Neben den Ministern wurden eine Reihe nachgeordneter Beamter und Angestellter der betroffenen Ministerien entlassen. Die gute Nachricht ist: Dilma zögert nicht, selbst Minister zu entlassen, wenn sie ihr Amt zur persönlichen Bereicherung missbrauchen. Die schlechte Nachricht lautet: Die Mehrheit der zahlreichen Beamten sieht hierin keinen Missbrauch, sondern eine Art ungeschriebenes Recht. Die Pfründelogik ist System und hat seine Ursache in der langen klientelistischen Tradition eines Staates, der von den fünf Jahrhunderten seiner Existenz gut drei Jahrhunderte eine Kolonie war und fast vier eine Sklavenhaltergesellschaft organisierte. Dass die Politik ihre Staatstätigkeit patrimonial auffasst, zeigte sich sofort nach den Entlassungen der sechs Minister. Die Parteien des jeweils Geschassten meldeten sofort massiv und erfolgreich ihren Anspruch auf das Ministeramt an. Sie betrachten das jeweilige Ministerium als Lehen in Erbpacht, in deren Pfründe ihnen niemand hineinzugreifen hat. In diesem festen Allparteienkonsens hat die energische Korruptionsbekämpfung der Präsidentin ihre systemische Grenze gefunden.


Neues Waldgesetz und die Inwertsetzung der Natur

Im Mai 2011 nahm das Unterhaus des brasilianischen Kongresses eine veränderte Fassung des brasilianischen Waldgesetzes an. Es war die größte parlamentarische Niederlage Rousseffs. Der Lobby des Agrobusiness gelang es, zahlreiche Abgeordnete aus dem Regierungslager auf ihre Seite zu ziehen, obwohl die Präsidentin die Neufassung, vor allem die darin enthaltene Amnestie für illegale Entwaldung, ausdrücklich abgelehnt hatte. Im Dezember stimmte der Senat mit kleinen Änderungen zu. Voraussichtlich im März wird über den Gesetzentwurf dann erneut im Abgeordnetenhaus abgestimmt.

Neben der Amnestie ist besonders umstritten, dass die von Rodung und Ackerbau ausgenommenen Schutzzonen verkleinert wurden. Im Ergebnis legalisiert das Gesetz illegal gerodete Flächen und ermöglicht weitere Entwaldung, ja, es ermutigt geradezu dazu, nicht zuletzt im Regenwald. Hier liegt das Interesse der Agrarunternehmen, die – wie kürzlich bekannt wurde – 2010 den Wahlkampf agrobusinessfreundlicher Kongresskandidaten mit 6,5 Millionen Euro unterstützten. Internationale Umweltorganisationen beziffern den bedrohten Wald auf 50 bis knapp 80 Millionen Hektar. Das bedeutet bis zu 29 Gigatonnen zusätzlicher CO2-Emissionen. Die Emissionen aus Entwaldung sind hauptverantwortlich dafür, dass Brasilien trotz seines hohen Anteils regenerativer Energien bei der Stromerzeugung zu den großen Emittenten weltweit gehört. Nicht nur Umweltorganisationen und Wissenschaftler, auch eine Mehrheit der Brasilianer lehnt Umfragen zufolge das neue Waldgesetz ab. NGOs brachten deutlich über eine Million Unterschriften zusammen.

Weniger beachtet bei der heftigen Diskussion blieb ein ganzes Set geldwerter Maßnahmen, das Eingang in die neue Fassung fand. Es reicht von Steuerbefreiungen, Agrarkreditprogrammen, Zahlungen für Umweltdienstleistungen bis zur Umwidmung von Strafzahlungen für illegale Entwaldung in Infrastrukturmaßnahmen für landwirtschaftliche Produktion. Einer Analyse der hbs-Partnerorganisation INESC zufolge belegen diese Maßnahmen, dass das neue Waldgesetz  „weniger den Wald als die Landwirtschaft schützen soll, vor allem das exportorientierte Agrobusiness.“ Und, ebenso wichtig: Das neue Gesetz bringt die Wälder in Finanzmechanismen wie Zahlung für Umweltdienstleistungen, REDD (Reduzierung von Emissionen aus Entwaldung und Waldschädigung) oder TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) ein. Noch fehlen verbindliche internationale Regelungen, doch die brasilianische Regierung arbeitet an einem nationalen REDD- und TEEB-Regime. Dabei sind diese Mechanismen der „Finanzialisierung der Natur“ nicht nur in ihrer Logik, die Natur als stets beziffer- und handelsbares „Kapital“ zu begreifen, heftig umstritten. Viele befürchten, dass die Waldbevölkerung (Indigene, Fischer, Kleinbauern) erhebliche Nachteile erleiden werden. Auch bestreiten viele, dass diese Mechanismen tatsächlich Entwaldung verhindern und CO2-Emissionen in den Industrieländern reduzieren werden.

Brasilien 2011: Ein politisch recht leises Land. Die NGOs sind – noch – zahlreich, doch sie sind entweder den Regierungen durch Projekte verbandelt oder finanziell und personell geschwächt. Ihr Mobilisierungspotential ist ganz offensichtlich begrenzt. Die himmelschreiende Korruption brachte einige Tausend in den großen Städten auf die Straße, gegen das Waldgesetz oder Belo Monte zählten die Proteste eher nach Hunderten. Die sozialen Bewegungen verharren; die Landlosenbewegung MST, über Jahre die laustärkste und dynamischste soziale Bewegung, setzt auf Konsolidierung der bestehenden Siedlungen und hält weiter still, obwohl die Regierung Rousseff im ersten Jahr schlicht gar keine Neuansiedlungen vorgenommen hat.

Symptomatisch für den Stillstand der alten sozialen Bewegungen und NGOs war, dass die Erhebung der Arbeiter/innen in Santo Antonio und Jirau alle überraschte, die sozialen und Umweltorganisationen in Amazonien ebenso wie die Gewerkschaften. Die meisten Menschen brachte paradoxerweise der Streit um eine „gerechte“ Verteilung der Milliarden, die die enormen Erdölfunde versprechen, auf die Straße. Es waren die Regierungen in Gemeinden und Einzelstaaten selbst, die hier mobilisierten und dabei mit kostenlosem Transport und sogar kurzfristig ausgesprochenen Feiertagen für Massendemonstrationen sorgten. Vor der Küste zwischen den Bundesstaaten Espírito Santo und Santa Catarina lagern in fünf bis sieben Kilometer Tiefe Öl- und Gasvorkommen. Die staatliche Erdölgesellschaft Petrobras geht offiziell noch von 8 Mrd. Barrel Rohöl aus, doch viele Schätzungen beziffern die Vorkommen auf mehr als 100 Mrd. Barrel. Entsprechend groß sind die vermuteten Einnahmen. Alle wollen etwas abhaben. Wie viel, und ob die fünf Bundesstaaten, vor deren Küsten die Schatztruhe liegt, bevorzugt behandelt werden sollen - darum geht der Streit, für den Regierungen landesweit zu Demonstrationen aufriefen. Es ist diese Dynamik – und die damit verbundenen sozialen und ökologischen Kosten –, die das erste Jahr der Regierung Dilma Rousseff vor allem ausgemacht hat.


Dawid Danilo Bartelt ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.