Armenien nach der Präsidentschaftswahl

4. März 2008
Von Walter Kaufmann

Zur Verhängung des Ausnahmezustands in Armenien

Von Walter Kaufmann
Leiter des Büros Südlicher Kaukausus der Heinrich-Böll-Stiftung

In Armenien sind die Proteste gegen die offiziellen Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 19. Februar eskaliert. Im Südkaukasus wurden damit, nach den Ereignissen in Georgien vom November 2007, innerhalb weniger Monate ein zweites Mal Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und ein Ausnahmezustand verhängt.

Noch vor einem halben Jahr hätte in Armenien kaum jemand eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Politischen Beobachtern schien ausgemacht, dass sich das System der Machtsicherung, das sich unter Präsident Robert Kotscharjan in den letzten zehn Jahren entwickelt hat, auch durch den von der Verfassung vorgeschriebenen Abgang Kotscharjans nach zwei Wahlperioden nicht in Gefahr befinde. Spätestens seit den Parlamentswahlen von 2007, die die Republikanische Partei Armeniens mit haushohem Vorsprung gewonnen hatte, erschien die Übergabe der Macht von Kotscharjan an den Premierminister Sergej Sarksian nur noch Formsache zu sein.

Dann aber kündigte im September 2007 der vor zehn Jahren von Kotscharjan zum Rücktritt gezwungene Ex-Präsident Lewon Ter-Petrosjan seine Kandidatur an. Dies war eine Überraschung, hatte sich doch Ter-Petrosjan seit seinem Rücktritt völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und sich wieder seinem Spezialgebiet, der Mediävistik, zugewandt. Mit Ter-Petrosjan kehrte ein Mythos in die armenische Politik zurück, und die gesellschaftlich stark verankerte,  politisch aber schwach organisierte Opposition gegen Kotscharjan und Sarksian erhielt plötzlich einen charismatischen Führer und begnadeten Redner.

Ter-Petrosjans Kampagne konzentrierte sich auf stundenlange Kundgebungen in der Hauptstadt Eriwan. In ausgefeilten Reden nahm er dabei das „sich selbst bereichernde Regime“ seiner Nachfolger auseinander und erinnerte an die mit seinem Namen verbundene Zeit des „demokratischen Aufbruchs in die Unabhängigkeit“ Ende der 1980er Jahre. Er entschuldigte sich auch für eigene Fehler – allerdings nicht für die von ihm zu verantwortenden Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl 1996.
Die Regierung reagierte auf Ter-Petrosjans stark besuchte Kundgebungen mit wütenden Kampagnen in den staatlich kontrollierten Medien. Dabei wurde vor allem an die dramatische Energiekrise in Armenien 1992/1993 erinnert. Erst einen Monat vor der Präsidentschaftswahl erhielten auch Ter-Petrosjan und andere Oppositionskandidaten die ihnen nach dem Wahlgesetz zustehende Sendezeit in den Medien.

Mit den Erfolgen Ter-Petrosjans in der Hauptstadt Eriwan – hier lebt über ein Drittel der Bevölkerung Armeniens –  wurde aus der Präsidentschaftswahl plötzlich doch noch eine Konkurrenz mit ungewissem Ausgang. Sollte es tatsächlich zu fairen Wahlen mit offenem Ausgang kommen, deren Ergebnis von Siegern und Verlieren gleichermaßen akzeptiert würde?

Leider kam es –  wie in einigen postsowjetischen Staaten mittlerweile zur Regel geworden – anders: Wahlfälschung, Einsatz aller staatlichen Mittel, Druck auf die Medien, Repression auf der einen Seite – populistische Radikalopposition, Massendemonstrationen, Boykottaufrufe auf der anderen. In der Kunst, genehme Wahlergebnisse zu organisieren, sind die Autoritäten in Armenien, ähnlich wie ihre Nachbarn in Aserbaidschan und Georgien, sehr erfahren. Längst greift man dabei nicht mehr auf plumpe Verfahren wie den Raub von Wahlurnen, gefälschte Stimmzettel oder die Einschüchterung von Wählern im Wahllokal zurück. Wirksamer und weniger sichtbar sind der Kauf von Stimmen und indirekte Einschüchterungen. Für den Stimmenkauf reichen auf dem Lande die Lieferung von Nahrungsmitteln oder kleinere Geldbeträge, in den Städten werden auch größere Summen verteilt. Zudem wird häufig mit dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht, sollte „falsch“ abgestimmt werden.

Da in weiten Teilen der Gesellschaft das Vertrauen in Wahlen gering ist, ist auch die Opposition in keiner Weise darauf eingestellt, das Ergebnis einer Wahl zu akzeptieren. Entsprechend waren die Auseinandersetzungen unvermeidlich, nachdem der Wahlsieg von Sergej Sarksian (mit 52 Prozent der Stimmen) verkündet wurde. Zwar erklärten die Beobachter der OSZE die Wahlen als „weitgehend demokratisch“, doch wurde dies von der Opposition als „Kniefall des Westens“ vor einem autoritären Regime gedeutet. Ter-Petrosjan und Zehntausende seiner Anhänger versammelten sich zu Dauerdemonstrationen und bauten Zeltstädte am Freiheitsplatz im Zentrum von Eriwan, um so die Wiederholung der Wahlen zu erzwingen. Zehn Tage lang verhielt sich die Regierung abwartend, und im Fernsehen riefen Kotscharjan und Sarksian zu Ruhe auf. Am frühen Morgen des 1. März jedoch griffen Truppen des Innenministeriums die Demonstranten an, räumten die Zeltstadt und stellten Ter-Petrosjan unter Hausarrest. Bei diesen Aktionen wurden etwa 30 Demonstranten verletzt. Im Laufe des Tages kam es dann zu einer großen Spontandemonstration mit über 100.000 Teilnehmern vor dem Rathaus von Eriwan. Einige Demonstranten errichteten Straßensperren. Diese Demonstration wurde von Polizei, Soldaten und Truppen des Innenministeriums mit massiver Gewalt  angegriffen, konnte aber nicht aufgelöst werden. Acht Menschen kamen ums Leben und über hundert wurden verletzt.

Am Abend des 1. März rief Ter-Petrosjan die Demonstranten dazu auf, nach Hause zu gehen, um Opfer zu vermeiden. Er erklärte, er werde weiter für die Wiederherstellung von Demokratie und Recht in seinem Land kämpfen. Die Protestierenden folgten dem Aufruf, und gegen 3 Uhr früh löste sich die Demonstration auf.

Nun herrscht in Armenien bis zum 20. März der Ausnahmezustand. Ob sich in dieser Zeit eine autoritäre Herrschaft unter Präsident Sarksian herausbildet, oder es zu einem Kompromiss zwischen Opposition und Regierung –  gar zu Neuwahlen – kommt, lässt sich derzeit nicht absehen.

2. März 2008