Pakistans politische Szene ist immer für eine Überraschung gut. Noch vor wenigen Wochen war Tahir ul-Qadri ein mehr oder weniger bekannter Prediger, der seinen Lebensmittelpunkt in Kanada hat. Heute sitzen er und seine Anhänger vor dem Parlament in Islamabad und fordern den Rücktritt der demokratisch gewählten Regierung – und ganz Pakistan zittert. Wie ist es möglich, dass ein Mann der scheinbar aus dem Nichts kommt, sich innerhalb einer Woche anschicken kann, das politische System des krisengeschüttelten Landes aus den Angeln zu heben.
Die Antwort ist komplex. Das Phänomen Qadri beruht auf einer Mischung aus berechtigter Kritik an der Regierung, sinistrer Strippenzieherei und einer Psychologie der Angst.
Beginnen wir mit der Angst. Sie ist das Brennglas, das aus einer nicht einmal besonders großen Demonstration den Beginn einer potenziellen Revolution macht. Wir wissen nicht, ob es 30.000 oder 100.000 Menschen sind, die derzeit auf den Straßen Islamabads demonstrieren. Die Stadt ist in weiten Teilen ruhig. Obwohl unter den Demonstranten sicher auch viele Anhänger Qadris sind, für die der Mann mit der getönten Brille ein spiritueller Führer ist, weiß doch jeder in Pakistan, dass es nicht allzu schwer ist, mit dem nötigen Geld diese Zahl an Menschen auf die Straßen zu bringen. Ein Ausflug in die Stadt, eine warme Mahlzeit und ein paar Hundert Rupien sind Anreiz genug für arme Landbewohner.
Das Militär will nicht mehr regieren
Und hier beginnt die Angst: Wo hat Qadri das Geld her, um diese Demonstranten nach Islamabad zu verfrachten und tagelang zu verpflegen? Wie kommt es, dass auf allen Fernsehsendern in den vergangenen Tagen große Werbespots für den "Langen Marsch" liefen, die Millionen von Rupien kosten?
Mehr als einmal haben die Menschen in Pakistan in den vergangenen Jahrzehnten gesehen, wie demokratisch gewählte Regierungen aus dem Amt geputscht wurden. Mehr als einmal tauchten plötzlich neue Führer auf und die Bilder wiederholten sich: Massendemonstrationen, Schüsse, eine Politikerin stirbt, die Fernsehbildschirme werden schwarz und wenig später hält ein General eine Rede. Ende der Demokratie.
Ist Tahir ul-Qadri eine Marionette des Militärs? Wir wissen es nicht. Aber das, was wir wissen, liefert einige Anhaltspunkte. Das pakistanische Militär unter Oberbefehlshaber General Ashfaq Kayani hat nicht die Absicht, die Führung des Landes direkt zu übernehmen. Dies ist eine Lehre, die Kayani aus dem unrühmlichen Ende seines Vorgängers, General Pervez Musharraf gezogen hat.
Unpolitisch ist das Militär dennoch nicht geworden. Es hat in den vergangenen Jahren die nicht gerade überzeugende Performance der Regierung der Pakistan People‘s Party (PPP) unter Führung von Präsident Asif Ali Zardari mit wachsendem Grauen beobachtet. Doch die politischen Alternativen scheinen dem Militär noch schlimmer: Nawaz Sharif und seine PML-N wurde bereits einmal durch einen Militärputsch aus dem Amt gejagt und steht daher der Armee noch kritischer gegenüber als die PPP. Der viel-gehypte Ex-Cricket-Star Imran Khan und seine Bewegung haben in den vergangenen Monaten an Popularität verloren und niemand glaubt mehr daran, dass Khan die Wahlen gewinnen könnte.
Eine neue frische Kraft, zudem mit moderat-religiösem Hintergrund wie Qadri, wäre daher ein Traumkandidat für das Militär als Regierungschef. Anders als die "weltlichen" Politiker könnte er – so möglicherweise das Kalkül – auch den Taliban die Stirn bieten, denn er ist Koran-fest und kann nicht ohne Weiteres als dekadente Marionette des Westens abgestempelt werden.
Doch auf normalem, demokratischem Weg hätte Qadri derzeit keine Chance. Wie schwer es für eine kleine Partei in dem von Feudalstrukturen geprägten pakistanischen Wahlsystem ist, gegen die großen etablierten Parteien zu konkurrieren, hat Imran Khan gerade erlebt. Und vor ihm bereits diverse islamistische Parteien, die nie mehr als ein paar Prozent der Stimmen einfahren konnten. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass Qadri quasi mit dem Fallschirm in Islamabad abgeworfen wurde, um einen Wahlsieg der PPP oder der PML-N zu verhindern.
Qadris Urteil über die Regierung ist richtig
Es scheint auch kaum ein Zufall, dass just zur selben Zeit das Oberste Gericht unter Iftikhar Chaudhury anordnet, den Premierminister wegen Korruptionsvorwürfen zu verhaften. Zwar lässt sich Chaudhury nicht ohne Weiteres als Marionette des Militärs bezeichnen wie viele Oberste Richter vor ihm. Doch sein politischer Ehrgeiz ist bekannt und durch das zur rechten Zeit platzierte Urteil stellt er sicher, dass er ein wichtiger Spieler auf dem Platz bleibt.
Es sagt überhaupt recht viel über das politische Fingerspitzengefühl der PPP-Regierung, dass sie Raja Perveiz Ashraf im vergangenen Jahr erst zum Nachfolger des ebenfalls über Korruptionsvorwürfe gestolperten Premierministers Yousuf Raza Gilani gemacht hat. Denn es stand bereits der Vorwurf im Raum, dass dieser als Energieminister an einigen angemieteten Kraftwerken gut verdient hat. Angesichts der Tatsache, dass in Pakistan fast noch jeder Regierungschef wegen Korruption aus dem Amt gejagt wurde, war Ashraf sicher keine gute Wahl.
Und hier sind wir beim rationalen Kern des Phänomens Qadri. Was immer er über die Regierung sagt: Er hat Recht und jeder weiß, dass er Recht hat. Die Regierung hat abgewirtschaftet. Und seine Forderung nach "sauberen" Politikern, die anständig und ehrlich sind und gute Muslims, ist die Stimme des Volkes. Es wäre tragisch, wenn die Menschen deswegen auch den Glauben an das demokratische System als Ganzes verloren hätten.
Der Beitrag wurde am 16.01.2013 in ZEIT ONLINE erstveröffentlicht.