Der Werkzeugkasten der Intervention

"Stoppt den Genozid in Libyen" - Demonstranten in Dublin, März 2011. Quelle: informatique/Flickr, Creative Commons: BY-SA 2.0)

Was das völkerrechtliche Prinzip der Schutzverantwortung in Krisenfällen und bei Bürgerkriegen leisten kann

17. April 2012
Stefan Schaaf

Bei zwei Konflikten in den neunziger Jahren musste sich die Weltgemeinschaft schweres Versagen vorwerfen: 1994 beim Völkermord in Ruanda und auf dem Balkan, insbesondere dem vor genau 20 Jahre begonnenen Krieg in Bosnien. Beide Male griff die Weltgemeinschaft nicht oder erst sehr spät ein, beide Male verloren Zivilisten in großer Zahl ihr Leben. 2005 dann verständigten sich fast alle Staaten beim World Summit der Vereinten Nationen auf das Prinzip der „Responsibility to Protect“, kurz R2P, der Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung. Ein Staat, der seine eigene Bevölkerung mit Kriegsverbrechen, mit Völkermord, ethnischer Säuberung oder Verbrechen gegen die Menschlchkeit bedroht, kann sich demzufolge nicht länger auf das Prinzip der nationalen Souveränität berufen. R2P setzt aber, was leicht übersehen wird, schon bei der Pflicht von Staaten an, frühzeitig auf Krisen im Inneren zu reagieren und Konflikte zu lösen.

Was wie die zwingende Konsequenz aus den Kriegen in Ruanda und auf dem Balkan klingt, erweist sich in der Realität als schwierige politische Gratwanderung: siehe Libyen im vergangenen Jahr, siehe aktuell Syrien. R2P gilt als „sich herausbildendes Völkerrecht“, als Absicht und Wunsch, aber nicht als verbindliche Regel. Wann es zur Geltung kommt, bestimmt allein der UN-Sicherheitsrat. Dass darüber großer Diskussionsbedarf besteht, zeigte der sehr gut besuchte Jour Fixe der Heinrich-Böll-Stiftung und der taz Anfang April, der unter dem Titel „Mit zweierlei Maß?“ stand. In Libyen griff die Nato auf der Seite der Rebellen ein und verhalf ihnen zum Sieg, doch in Syrien blockieren sich die wichtigen internationalen Akteure und lassen damit zu, dass Syriens Streitkräfte weiter gewaltsam gegen ihr Volk vorgehen.

Wolfgang S. Heinz vom Deutschen Institut für Menschenrechte verwies auf die noch früher gelegenen Konflikte, die die Diskussion um „humanitäre Interventionen“ angestoßen hatte: Die Gewaltherrschaft der Roten Khmer und Idi Amins, das Massensterben im Unabhängigkeitskrieg in Bangladesch. R2P sei nun zunächst eine Verpflichtung jedes Staates, innere Konflikte selbst frühzeitig zu lösen, erläuterte Michael von Ungern-Sternberg, der Abteilungsleiter Vereinte Nationen und globale Fragen im Auswärtigen Amt (AA). Erst wenn ein Staat ihr nicht nachkomme, könne die internationale Gemeinschaft zu Hilfe kommen. Und erst als letztes Element könne sie friedliche und schließlich militärische Mittel auch gegen den Willen des betroffenen Staates einsetzen, erläuterte der Diplomat des AA. Auf die ersten beiden Stufen müsse man durchaus Gewicht legen, sagte er. Es gibt mit dem US-Diplomaten Edward Luck einen Sonderberater des UN-Generalsekretärs für die Verhütung von Völkermord, der frühzeitig verstand, dass nur mit Verweis auf die ersten beiden Säulen auch die dritte international Akzeptanz findet. Zu groß war auch im Falle Libyens die Befürchtung, dass mit der Schutzverantwortung nur eine neue Rechtfertigung für ausländische Interventionen geschaffen werden solle. Neben Russland und China machte sie auch Brasilien geltend, mit dem Hinweis, R2P sei kein Freibrief zum regime change.

Deutschland, die Nato und Libyen

Die Bundesregierung hatte sich im März 2011 als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates bei der Abstimmung über die Libyen-Resolution enthalten und sich dafür viel Kritik eingehandelt. Von Ungern-Sternberg erläuterte die Motivation dieser Enthaltung: Die Bundesregierung habe damals nicht geglaubt, dass sie der Resolution zustimmen könne, ohne sich dann als wichtiges Nato-Mitglied auch militärisch an ihrer Umsetzung zu beteiligen – „das wäre politisch unhaltbar“ gewesen, meinte von Ungern-Sternberg. Doch eine klare Mehrheit aus allen Fraktion des Bundestags habe damals eine deutsche Beteiligung an einer solchen Intervention abgelehnt. Auch die US-Außenministerin Hillary Clinton sei noch eine Woche vor dem UN-Votum dagegen gewesen, habe dann sehr kurzfristig eine Kehrtwende gemacht.

Berlins „historische Fehlentscheidung“

Die Bundestagsabgeordnete Kerstin Müller von Bündnis 90/Die Grünen widersprach da: Die Bundesregierung habe sich aus „außen- und innenpolitischem Opportunismus“ enthalten – eine „historische Fehlentscheidung“. Eine automatische Beteiligung wäre aus einem Ja ihrer Ansicht nach nicht gefolgt. Aber ein deutscher Beitrag wie die Überwachung des Waffenembargos von Schiffen im Mittelmeer aus hätte wohl auch im Bundestag eine Mehrheit gefunden, meinte sie. Angesichts der Drohung Gaddhafis, die Rebellen in ihrer Hochburg Benghazi „wie Kakerlaken zu beseitigen“ und ein Blutbad anzurichten, gab es starken Druck zum Eingreifen. In Benghazi hätten die Menschen zu Tausenden auf der Straße vor den Fernsehgeräten mit Hochspannung das Votum des Weltsicherheitsrates verfolgt. Erstmals mit explizitem Verweis auf das Prinzip der Schutzverantwortung hatte der Sicherheitsrat mit der Resolution 1973 den Einsatz aller nötigen Mittel gegen Gaddhafis Regime erlaubt.

Von Ungern-Sternberg riet zu Behutsamkeit im Umgang mit dem Prinzip R2P. Die Einwände eines in der Menschenrechtsdebatte so wichtigen Landes wie Brasilien dürfe man kenesfalls ignorieren. Deutschland und Brasilien seien sich einig, das Konzept R2P stärken und nicht schwächen zu wollen. Der taz-Redakteur Bernd Pickert, der den Jour Fixe moderierte, verwies auf Brasiliens Standpunkt, es gebe auch eine „Verantwortung während der Schutzmaßnahmen“ (dargelegt im November 2011 in einem Brief Brasiliens an den Uno-Generalsekretär). „Do not harm“ – verschlimmere die Lage nicht noch – heißt eine andere Maxime in der heutigen Debatte über internationale Interventionsstrategien.

Die UN ist der Schlüssel

Die Diskussion machte deutlich, dass Krisen vor allem frühzeitig erkannt werden müssen. Nur mit einer guten Faktengrundlage und einer präzisen Begrifflichkeit gelingt es, sie auf die internationale Agenda zu setzen. Die UN und ihr Menschenrechtsrat haben unter Kofi Annan mit dem System der Sonderberichterstatter und Sonderbeauftragten eine wichtige Voraussetzung geschaffen. Sie erlauben zu beurteilen, wie es Heinz formulierte „ob ein Regime Teil der Lösung sein kann oder Teil des Problems ist“. Auch Nichtregierungsorganisationen wie die International Crisis Group leisten wertvolle Arbeit, indem ihre Experten Konflikte analysieren und Handlungsempfehlungen geben.

Kerstin Müller merkte an, dass dennoch das Handeln aufgrund all dieser Erkenntnisse das Entscheidende sei – also ob der Weltsicherheitsrat das Thema auf die Tagesordnung setze und was er beschließe. „Was hat man für Strukturen, damit die Informationen an die Entscheidungsträger herankommen?“ Diese Frage, so Müller, müsse man sich auch in der Bundesrepublik stellen, wo es zwar einen Aktionsplan zivile Krisenprävention gebe, auch einen Beirat, aber es sei unklar, wann dies zu politischem Handeln führe. Die Grünen-Bundestagsfraktion hat daher einen Antrag im Bundestag eingebracht, der darauf zielt, die „Schutzveranwortung weiter zu entwickeln und wirksam umzusetzen“.

Von Ungern-Sternberg plädierte für einen „sehr vorsichtigen und sehr bewussten“ Umgang mit den militärischen Instrumenten. Ihr Einsatz müsse in der betreffenden Region auf Zustimmung treffen. „Je vorsichtiger wir sie handhaben, desto hoffähiger werden sie in der internationalen Gemeinschaft.“

Im Falle Syriens wird von vielen der Sturz des Diktators Baschar al-Assad herbeigesehnt und politisch für unabdingbar gehalten. Das aber sei nicht unter R2P abgesegnet, warnte Müller: „Regime change ist nicht Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, da müssen wir trennen!“. Die Frage sei hier: „Wie können wir die Zivilbevölkerung schützen?“ Bisher habe sich bedauerlicherweise Russland im Sicherheitsrat dagegen gestemmt, die Gewalt in Syrien auch nur in einer Resolution zu verurteilen, trotz acht- bis neuntausend Todesopfern und 100.000 Flüchtlingen. Sie befürwortete als nächsten Schritt die Einrichtung entmilitarisierter Schutzzonen an den syrischen Grenzen zur Türkei und zu Jordanien und ein Drängen auf adäquate Versorgung und medizinische Hilfe für jene Syrer, die nicht fliehen können. Deren grundlegende Menschenrechte würden vom syrischen Regime verletzt, wenn es nicht einmal eine zweistündige Feuerpause pro Tag gebe. Das sei mit der Schutzverantwortung nicht vereinbar.

Stefan Schaaf

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