Zielgruppe ist ein Publikum , das sonst wenig Zugang zu Kultur und Menschenrechtsdebatten hat – Flüchtlinge, Bewohner von Kleinstädten und Dörfern. Für unser Festivalteam ist kein Weg zu weit: Ausgestattet mit einem VW-Bus, der kompletten Filmtechnik, Leinwand und einem Stromgenerator, sind wir in der Lage, unser Festival in den entlegensten Dörfern durchzuführen.
Trotz angespannter Lage positive Stimmung
Als unser Festival vor einem Monat in Südossetien begann, war die Lage zwar angespannt, doch keiner rechnete mit einer derartigen Eskalation innerhalb weniger Wochen. Die Einreise war unkompliziert, wir arbeiteten gut mit der georgischen und ossetischen Regierung zusammen. Das ossetische de-facto-Außenministerium war in Kenntnis gesetzt über unsere Festivalroute und garantierte uns freie Fahrt zu allen Orten (einschließlich der georgischen Dörfer im Südwesten, wo einige Kontrollpunkte zu passieren sind). Das ossetische de-facto-Außenministerium versicherte uns seine Verbundenheit und seine Kooperation auch für das nächste Jahr.
Unsere größte Hilfe war Lira Zchowrebowa, die Mitglied unserer Festivaljury ist. Sie hat Zugang zu NGOs bis hin zu Regierungskreisen in Südossetien und hat auch zu Georgien einen sehr guten Kontakt. Neben einem Rehabilitierungszentrum für Alkohol- und Drogenabhängige leitet sie eine Vielzahl von nichtkommerziellen Projekten, wobei sie sehr intensiv mit georgischen Partnern zusammenarbeitet. Unter anderem hat sie georgisch-ossetische Frauenbegegnungen ins Leben gerufen, bei denen regelmäßig Georgierinnen nach Südossetien kommen und Ossetinnen nach Georgien reisen.
Unser Festival wurde überall sehr positiv aufgenommen, die Stimmung war meist offen und tolerant, besonders in den entlegenen Dörfern, wo es bis zu dem Zeitpunkt selten Kampfhandlungen gegeben hat. In Dschawa, einem kleinen Ort im Norden, der sich seit dem Erdbeben im Jahr 1991 bis heute nicht erholt hat, wurde unser Festival aufs herzlichste empfangen. Im Publikum saßen Menschen aller Altersklassen, die aktiv an den Diskussionen teilnahmen. Es war keine Feindseligkeit gegenüber Georgien zu spüren, im Gegenteil: Das Publikum diskutierte ohne Tabus über eigene begangene Fehler, die Rolle Russlands im Konflikt und mögliche Ansätze zu einer Versöhnung.
In Znaur, einem kleinen Dorf etwa 2 Stunden von Zchinvali entfernt, hatten wir ebenfalls ein sehr gelungenes Festival. Der schöne Saal des Kulturzentrums, das seit Jahren nicht mehr in Betrieb ist und dringend saniert werden müsste, war voll bis auf den letzten Platz.
Ein ossetisch-georgisches Festival in einem georgischen Dorf auf ossetischem Gebiet
Am beeindruckensten war aber das Festival in Eredvi. Unsere Ko-Organisatorin war Juza Tadtajeva, eine siebzigjährige Dame, die höchste Anerkennung unter Georgiern und Osseten genießt. Sie ist selbst Ossetin, die in Zchinvali lebt, ihr Mann war Georgier. Im Krieg im Jahr 1992 wurde er durchs Fenster seines Wohnhauses von ossetischen Milizen erschossen, die Einschusslöcher sind immer noch zu sehen. Juzas Sohn gilt ethnisch als Georgier (in der Sowjetunion war es üblich, die Nationalität nach dem Vater zu bestimmen, und leider hat dieses Verfahren auch heute noch Einfluss auf viele Schicksale), er möchte aber gerne bei seiner Mutter und in seiner Geburtsstadt Zchinvali leben. Geheiratet hat er nicht – seit dem Krieg ist es für Georgier in Ossetien schwer geworden, eine Partnerin zu finden.
Juzas Idee war ein gemischtes ossetisch-georgisches Festival in einem georgischen Dorf auf ossetischem Gebiet. Die Resonanz war erstaunlich. Der Saal war alle drei Tage voll, es kamen georgische und ossetische Besucher. Unter vielen Tränen wurde diskutiert – und gefeiert: Im Rahmen eines kulinarischen Wettbewerbs wurden georgische und ossetische Spezialitäten gekostet, die die stolzen Köchinnen selbst präsentierten. Ein besonderer Gast des Festivals war eine georgische Frau und gute Freundin von Juza, die 1992 ihren Sohn im Krieg verloren hat und sich seitdem für die georgisch-ossetische Versöhnung einsetzt. Juza ihrerseits wurde bereits im Mai zu einem unserer georgischen Festivals eingeladen. In Achalsopeli, einem kleinen multiethnischen Dorf in der ostgeorgischen Region Kachetien, leben Osseten, Dagestaner, Lesghier, Tschetschenen und andere friedlich mit Georgiern zusammen. Auf dem Festival traten u.a. ossetische Tanz- und Gesangsgruppen auf, es waren zahlreiche Osseten im Publikum, die seit Jahrzehnten in Kachetien leben. Alle beteuerten, dass das Zusammenleben mit den Nachbarn sehr harmonisch sei und dass alle von den Konflikten zwischen der Zentralregierung und den nach Unabhängigkeit strebenden Regionen genug hätten. Dabei waren die georgischen Gäste häufig sehr selbstkritisch. Sie waren sich einig, dass man den abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien mehr bieten muss als militärische Gewalt. Man müsse ihnen vielmehr zeigen, dass man ein demokratisches und tolerantes Land ist, in dem es angenehm ist, zu leben. Man müsse auch die ossetische bzw. abchasische Sprache erlernen, um mit den Nachbarn gut zusammen leben zu können.
Zunahme der Provokationen – Absage aus Sicherheitsgründen
In Zchinvali und der nächsten Umgebung der ossetischen Hauptstadt war die Stimmung Anfang Juli bereits gedämpft. In Zunar, wo wir unser Festival ursprünglich direkt an der Front in einem Soldatenlager durchführen sollten, erhielten wir eine Absage – aus Sicherheitsgründen. In Zchinvali, unserer letzten Station in Südossetien, war die Situation dann bereits sehr angespannt. Die Provokationen von beiden Seiten haben zugenommen, es waren immer mehr Explosionen und Schüsse zu hören. Es reisten zahlreiche ausländische Journalisten an, was viele als schlechtes Zeichen deuteten. Die Menschen begannen, ihre Wertsachen zusammenzupacken, um im Notfall sofort alles beisammen zu haben. Notare verzeichneten ein erhöhtes Interesse an Testamenten. Lira organisierte eine Ausreisegenehmigung für ihre Enkel nach Nordossetien, damit sie notfalls auch ohne Begleitung von Erwachsenen ausreisen könnten. Sie beklagte sich, dass sie bisher keinen Fluchtkeller unter ihrem Haus anlegen konnte, da die Erde vom Grundwasser zu feucht sei. Es war keine panische, sondern eher eine hilflose und pessimistische Atmosphäre in der Stadt. Wir mussten leider einsehen, dass unter solchen Umständen die Menschen nicht in der Stimmung waren, ins Kino zu gehen, und schon gar nicht, wenn die Filme von Konflikten und Menschenrechtsverletzungen handeln. Wir brachen das Festival am 2. Tag ab und verließen Südossetien vorzeitig.
Die darauf folgenden Wochen waren ruhiger, die Situation schien sich wieder etwas positiver zu entwickeln. Juza und Lira klangen am Telefon schon optimistischer. Alle hofften, dass es zu keinen weiteren Schießereien kommen würde. Dann wurden der Angriff georgischer Truppen auf Zchinvali und der anschließende Einmarsch der russischen Armee gemeldet. Mit einer derartigen Katastrophe hatte keiner gerechnet. Lira und Juza wollten Zchinvali dennoch nicht verlassen. Sie verbrachten die meiste Zeit in Kellern von Freunden. „Wohin soll ich gehen?“, fragte mich Lira. „Mein Platz ist hier, in meiner Heimatstadt.“
Hintergrundinfos: Südkaukasisches Dokumentarfilmfestival 2008
Im Jahr 2007 hat das Regionalbüro Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit der „Open Society Foundation Georgia “ das „Südkaukasische Dokumentarfilmfestival über Frieden und Menschenrechte – Nationality: Human“ ins Leben gerufen, das nun zum zweiten Mal stattfindet. Es ist das erste Filmfestival, das die in komplizierte Beziehungen verstrickten Länder und Regionen des Südkaukasus – Armenien, Aserbaidschan, Georgien, sowie die nach Unabhängigkeit strebenden Republiken Berg Karabach, Abchasien und Südossetien – verbindet.Die komplizierten Konflikte und Kriege zwischen den Nachbarvölkern im Südkaukasus, haben friedliche Lösungen in weite Ferne gerückt.
Dass es aber – trotz vergleichbar schwierigen Situationen – in anderen Teilen der Welt durchaus viel versprechende Ansätze der Verständigung und Versöhnung gibt, zeigen die Filme des Südkaukasischen Dokumentarfilmfestivals. In dem Glauben, dass die Sprache des Films keine Grenzen kennt, möchten wir dem südkaukasischen Publikum die Gelegenheit geben, Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Krieg und Versöhnung, die es selbst aus jüngster Erfahrung kennt, zu diskutieren. Wir verzichten bewusst auf Filme mit regionalem Bezug, damit unsere Zuschauer mehr über ferne Länder und Konflikte erfahren und selbst Parallelen oder Ideen für ihre eigene Situation finden.
Unser Filmfestival soll ein Publikum ansprechen, das sonst wenig Zugang zu Kultur und Menschenrechtsdebatten hat – Flüchtlinge, Bewohner von Kleinstädten und Dörfern. Für unser Festivalteam ist kein Weg zu weit: Ausgestattet mit einem VW-Bus, der kompletten Filmtechnik, Leinwand und einem Stromgenerator, sind wir in der Lage, unser Festival in den entlegensten Dörfern durchzuführen. An welchen Orten das Festival stattfindet, hängt von den Menschen im Südkaukasus selbst ab. Jeder kann das Festival zu sich einladen: lokale NGOs, Bürgerinitiativen, Schulen oder einfach engagierte Einzelpersonen sind aufgefordert, aktiv zu werden und das Filmfestival in ihrem Ort selbst zu gestalten sowie ein Rahmenprogramm (Kulturveranstaltungen, Aktionen, Diskussionen, Expertenvorträge) zum Thema vorzuschlagen. Somit soll gewährleistet werden, dass sich die Bewohner für ihr eigenes Festival engagieren und die Idee des Festivals nicht nur für ein paar Tage von Außen in die Regionen „eingepflanzt“ wird.
Wer von den Bewerbern den Zuschlag erhält, entscheidet eine internationale Festivaljury. Sie setzt sich aus Filmexperten und Menschenrechtlern aus allen sechs Südkaukasusregionen und unserem Partnerfestival „One World“ in Prag zusammen. In diesem Jahr wählte die Jury aus fast 100 Bewerbungen 27 lokale Partner aus, mit denen wir gemeinsam ein jeweils dreitägiges Filmfestival veranstalten.
Es gibt keine Quote, nach der die Festivalpartner ausgewählt werden, es werden auch keine speziell strategisch wichtigen Orte bestimmt. Was zählt, ist die Motivation des Bewerbers und die Idee und Realisierbarkeit seines Festivalprojekts.
Seit Mitte April hat unser Festivalteam bereits 5 Festivals in Georgien, 3 in Abchasien, 4 in Aserbaidschan und 6 in Südossetien abgehalten. Nach einer kurzen Sommerpause geht unsere „Tournee“ im September weiter in Armenien (5 Festivals) und Berg Karabach (4 Festivals).
Es war für alle eine große Überraschung, dass in diesem Jahr in Südossetien, der kleinsten aller südkaukasischen Regionen, die meisten Festivals stattfanden. Vom 21. Juni bis zum 9. Juli waren wir in Südossetien unterwegs, wo wir mit sehr engagierten Menschen großartige Festivals sowohl in ossetischen wie georgischen Dörfern veranstalten konnten. Daher ist es für uns umso schmerzhafter, mit ansehen zu müssen, wie all die Bemühungen unserer Freunde und die winzigen Ansätze von Frieden, die unser Festival vielleicht hier oder da ausgelöst hat, mit dem Krieg zunichte gemacht worden sind.
Mehr Informationen zum Festival, Philosophie, Tourdaten, Kooperationspartner u.a. finden Sie auf der offiziellen Hompage:
» „South Caucasus Documentary Film Festival of Peace and Human Rights - Nationality: human“