Kürzlich zitierte eine englische Zeitung einen Beamten des Berliner Finanzministeriums mit den Worten, am Umgang mit der griechischen Krise könne Amerika von Deutschland noch einiges in Sachen "Regime Change" lernen. Dieses selbstbewusste Statement fängt die gegenwärtige Stimmung in den Berliner Regierungskorridoren recht gut ein. Es wirft aber – neben dem Verstoß gegen die political correctness - auch wichtige Fragen auf: Welche Rolle will Deutschland in Europa spielen und welche Rolle kann es spielen? Und: Brauchen wir zur Bewältigung der Krise eine engere europäische Integration in einem Kerneuropa? Beide Fragen sind eng verbunden. Es gibt Anzeichen, dass in Berlin das Augenmaß für die Balance zwischen eigenen Interessen und eigenen Möglichkeiten abhandengekommen sein könnte.
Ein Blick auf die harten Fakten führt schnell zur Ernüchterung: Seit der Zuspitzung der Krise ab Anfang 2010 hat Deutschland – über seine Beteiligung an den europäischen Rettungsfonds und, wichtiger noch, als Anteilseigner der EZB – Forderungen an Euro-Staaten erworben, die den privaten Anlegern zu unsicher waren. Die so übernommenen Risiken belaufen sich auf rund 15% seines BSP – und dies, bevor große Länder wie Spanien überhaupt formell unter den Rettungsschirm geschlüpft sind.
„Regime Change“ findet derweil weniger in Griechenland statt, sondern in der EU: die mit dem "Bailout" Griechenlands begonnene Umgehung des EU-Vertrages findet in der Ankündigung der EZB des gezielten Ankaufs von Staatsschulden ihren vorläufigen Höhepunkt. Selbst in der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission, die als kleiner Bruder des IWF über Jahrzehnte gegen sozialistische Reminiszenzen in der EU kämpfte, wird der Diskurs heute von der Suche nach "gerechten" Zinsen für Südeuropa geprägt. Zum Problem des unbegrenzten Liquiditätszugangs der Krisenländer über das "TARGET"-System [1] der EZB, das eine Risikoverschiebung gigantischen Ausmaßes zwischen den Mitgliedstaaten zulässt, hört man dagegen nichts; zur Insolvenzordnung für Staaten wenig.
Die Krise ist keine „Euro“-Krise
Diese Einseitigkeit hat viel mit der Wahrnehmung der Krise als "Euro-" Krise zu tun. Diese Interpretation hat dazu geführt, dass der Europäische Rat das Krisenmanagement am 11. Februar 2010 auf die Eurozone übertrug. Durch diese Logik, die auch die Eurogruppe beschlossenen Rettungsschirme prägt, hat sich eine rein stabilitätspolitische Logik gegenüber einer verteilungspolitischen durchgesetzt. Eine Beschreibung der Krise als "Schulden-" oder "Bankenkrise" hätte London und andere Mitgliedstaaten nicht so leicht aus der Verantwortung entlassen.
Derweil baut sich ein gefährliches interkulturelles Missverständnis zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone auf. Denn in Südeuropa werden die ESM- und EZB-Darlehen verbreitet als Ablass für deutsche Exportüberschüsse gesehen und damit als Vorschuss auf eine noch zu beschließende Transferunion, die im Norden natürlich abgelehnt wird. Hier hängt der soziale Frieden nämlich von der Rückzahlung der Darlehen so ab, wie er im Süden dadurch gefährdet wird. Diese unterschiedlichen Wirklichkeiten gilt es bei der Krisenbewältigung zu berücksichtigen: Nicht diejenigen sind die größten Europäer/innen, die anderen das eigene Rechtsverständnis unterstellen, sondern die, die diese Unterschiede akzeptieren und daraus resultierende Abhängigkeiten begrenzen.
Aufgrund dieser unterschiedlichen politischen und rechtlichen Traditionen ist es erheblich, dass mit der Interpretation der Krise als einer „Eurokrise“, die in Finanzfragen kompetenten und selbstbewussten Briten/innen, Pol/innen und Schwed/innen aus der finanziellen Verantwortung verabschiedet haben. Damit haben sich die Mehrheitsverhältnisse bei der Krisenlösung verschoben. Nun verhandelt Berlin allein mit Paris, Rom und Madrid, die alle ganz andere wirtschafts- und währungspolitische Traditionen aufweisen und ihre Interessen ganz anders formulieren. Wie leicht sich dabei selbst verfassungsähnliche Normen im Kuhandel kurzfristiger politischer Interessen auflösen, zeigt die – EU-vertragswidrige – Billigung der EZB-Ankündigung zum unbegrenzten Kauf von Staatsanleihen aus Krisenländern durch die Bundesregierung. Das Vertrauen der Bürger in Europa wird dabei beschädigt.
Nun mag man außerhalb der Eurozone aus eigenem Interesse für ein größeres deutsches Engagement in der Krise werben – an seinen langfristigen Erfolg mag man gleichwohl nicht glauben. Da wundert man sich in London, Stockholm und Warschau hinter vorgehaltener Hand, wie wenig ökonomische Sachkenntnis in der Regierung der größten EU-Wirtschaft vorhanden ist. Es sei schockierend, wie leichtfertig Deutschland im Rahmen der Rettungsschirme vitale fiskalische Interessen von der Zahlungswilligkeit fragwürdiger Gläubiger/innen abhängig mache, staunt ein schwedischer EU-Beamter, ein Bankenexperte. Es gibt viele Italiener/innen und Spanier/innen, die ebenso wenig Vertrauen in de Leistungsfähigkeit der politischen Systeme ihrer Heimatländer haben. Bei einigen mag die Ahnung eine Rolle spielen, dass eine Zahlungsunfähigkeit Südeuropas gegenüber einer haftungsbedingten Destabilisierung Deutschlands das geringere Übel sein könnte.
Isolationsgefahr für Deutschland
Deutschland ist somit in der Krise gleich mehrfach isoliert: Einmal als das Land, ohne dass sich private Gläubiger/innen keine effektive Bürgschaft für ihren südeuropäischen Anleihen erhoffen können. Daraus ergibt sich die Haltung der Nicht-Euro-Länder. Zum Zweiten innerhalb der Eurozone, weil hier die - gegenwärtigen oder potentiellen – Empfänger finanzieller Solidarität in der Mehrheit sind und somit den politischen Diskurs dominieren. Je mehr die Übertragung haushaltspolitischer Kompetenzen auf Europa nationale Eliten nicht nur in Griechenland von ihrer Verantwortung für ungeliebte Sparzwänge entlastet, wird Deutschland als Hauptgläubiger hierfür verantwortlich gemacht. Somit droht sich deutsche Isolation immer mehr zu verfestigen und sich in dauerhaften anti-deutschen Ressentiments niederzuschlagen; dies umso mehr, als die Übernahme der Schulden durch die Länder der Eurozone für die Schuldner eine viel unerbittlichere Rückzahlungsverpflichtung bedeuten muss als gegenüber privaten Gläubigern – denn mit der Bereitstellung öffentlicher Darlehen steht gleichzeitig immer mehr Europa auf dem Spiel.
Frankreich fällt aufgrund seiner eigenen ungelösten Probleme als Verbündeter dauerhaft aus. Schlimmer noch: auch hier entfernt sich die öffentliche Debatte von den vertraglichen Grundlagen der Währungsunion. Nicht nur, dass Präsident Sarkozy im Mai 2010 weitgehend unkommentiert mit dem Ausstieg aus der Währungsunion drohen konnte, um eine deutsche Zustimmung zu den Rettungsschirmen zu erzwingen; in der französischen Linken sieht man die Krise vor allem als durch deutsche Exportüberschüsse verursacht. Jacques Delors ging gar so weit, Deutschland vorzuwerfen, es verabschiede sich durch seine zögernde Krisenpolitik von seiner demokratischen Nachkriegstradition.
Die Gefahr besteht, dass sich die Bundesregierung, gefangen in der „Eurokrisen-“ Logik, auf eine umfassendere Umgestaltung der EU einlässt, die das Vereinigte Königreich – entgegen dem strategischen Interesse – letztlich abdrängt. Der Streit um den mehrjährigen EU-Finanzrahmen ist hierfür ein Beispiel: EU-Föderalist/innen und Nettoempfänger/innen neigen zu einer strategischen Isolation des integrationsskeptischen Inselreiches. Aber auch wenn die britische Haltung zur Höhe des künftigen EU-Haushaltes von provinziellen oder gar nationalistischen Atavismen geprägt wird, sollte man den Brit/innen ihre kritische Haltung dennoch nicht verübeln, solange 40% des EU-Haushaltes für - letztlich - sozialpolitische Zwecke in der Landwirtschaft aufgewendet werden, einen Sektor, der nicht einmal 2% der Wirtschaftskraft ausmacht; und solange weitere 40% in weitgehend unreformierte Strukturfonds fließen, die während der letzten Dekade keinen merklichen Einfluss auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit nachweisen konnten. Für Deutschland ist die britische Rolle im Haushalt – wie auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet –Überlebensbedingung für eigene, meist zwischen französischem Etatismus und britischem Liberalismus vermittelnde Traditionen und Interessen. Sollte sich die Bundesregierung in eine Konfrontation mit dem VK hereinziehen lassen, würfe dies Fragen nach der grundsätzlichen deutschen Vision für die EU auf.
Die Ausformung einer Kern-EU um einen Euro-Haushalt kann sachlich in keiner Weise aus der Krise motiviert werden, von der ja zu hoffen ist, dass sie in einigen Jahren überstanden ist. Sie wurde ja nicht durch zu geringe Transfers ausgelöst, sondern gerade durch billiges Geld, das nicht zugunsten nachhaltigen Wachstums eingesetzt wurde. Die politische Gewichtsverteilung in einer - vermutlich romanisch geprägten - Kern-EU müsste deutsche Interessen strukturell marginalisieren. Berlins strategisches Kalkül bleibt in dieser Hinsicht weiter obskur. Aber die Vorstellung, Deutschland könnte seine Interessen in einer Euro-Kern-EU, oder auch nur in einer EU ohne Großbritannien so zur Geltung bringen wie in der EU-27, knüpft an jene fatale deutsche Selbstüberschätzung an, auf die Europa ja gerade eine Antwort sein sollte. Nur wenn es gelingt, Großbritannien einen zentralen Platz in der EU zuzuweisen, kann das europäische Gleichgewicht – einschließlich des Ausgleichs zwischen Interessen und Verantwortung - dauerhaft gesichert werden. Das Paradigma von der „Eurokrise“ hingegen ist der ideelle Überbau einer verirrten Politik, die allenfalls gut organisierten privaten Gläubigern dient, aber weder im deutschen noch im langfristigen europäischen Interesse liegt.
Rainer Emschermann ist Ökonom und Publizist.
Fußnote:
[1] Das TARGET-System ermöglicht automatische Liquiditätshilfen zwischen den (nationalen) Armen der EZB. Leiht z.B. eine griechische Bank dem griechischen Staat oder griechischen Bürgern Geld, kann sie den erworbenen Schuldtitel bei der griechischen Zentralbank gegen Liquidität eintauschen. Die griechische Zentralbank beschafft sich ihre eigene Liquidität auf dieselbe Weise, indem auch sie die Schuldtitel hinterlegt, typischerweise bei der Deutschen Bundesbank. Bei dieser kumulieren sich nun fragwürdige Risiken – gegenwärtig in Höhe von rund 30% des deutschen BSP. Das EZB-System verfügt somit über keine automatische Liquiditätsbremse, die eine unkontrollierte Kreditexpansion einschränken würde.