Von Walter Kaufmann
» Laden Sie den vollständigen Bericht als PDF herunter
Zusammenfassung
Im Falle der Sezessionskonflikte um Südossetien und Abchasien erkennen sich die Konfliktparteien gegenseitig nicht einmal als solche an. Georgien präsentiert Friedenspläne, die sich vor allem an die internationale Gemeinschaft richten und spielt vor dem eigenen Volk und den sezessionistischen Republiken mit militärischen Optionen. Im Wesentlichen hofft Georgien jedoch darauf, dass wachsender, von den USA auf Russland ausgeübter Druck die Bevölkerung endlich dazu bringt, ihre Unterstützung der Separatisten aufzugeben. In Abchasien würde man gerne eigene Kontakte zur EU und zu den Nachbarn am Schwarzen Meer aufbauen, um den Würgegriff des russischen Patronats zu lockern, lehnt aber entschieden jedes Angebot ab, das den Weg nach Europa nur über die Reintegration mit Georgien ermöglicht. Die südossetische Führung verzichtet auf eine eigenständige Politik und wirft sich Russland in die Arme.
In Georgien verhindert die Konzentration der politischen Elite auf den eskalierenden Gegensatz mit Russland die Nutzung der Chancen für eine langfristig angelegte, pragmatische Annäherung gegenüber den abgespaltenen Republiken. Innenpolitisch begründet die georgische Regierung von Präsident Saakaschwili ihre zunehmend autoritäre Interpretation demokratischer Prozeduren (z.B. die Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz) mit der Notwendigkeit, das „knapp vor dem Ruin gerettete“ Land den Klauen der organisierten Kriminalität und „feindlicher Agenten“ zu entreißen und durch „revolutionäre Maßnahmen“ endgültig im modernen Westen und der NATO zu verankern. Es wächst die Gefahr, dass die polarisierende Politik des Präsidenten und Rückschritte bei Menschenrechten und Demokratie eher zur weiteren Destabilisierung des Landes führen. Allerdings hat die Regierung wichtige Erfolge bei der Konsolidierung des Staatshaushaltes vorzuweisen und konnte ihren finanziellen Handlungsspielraum für dringend benötigte Infrastrukturinvestitionen erweitern. Dank dieser hat sich die Versorgung mit Gas, Wasser und Strom erstmals seit vielen Jahren auch in den Regionen verbessert.
Konflikte in der Region
Südossetien: Verschlechterung trotz Friedensplänen
Im Dezember 2005 sah es kurze Zeit so aus, als hätten politische Vernunft und internationales Drängen eine Bresche für eine grundlegende, etappenweise Annäherung im georgisch-südossetischen Verhältnis geschaffen. Mehrfach hatte der georgische Präsident Saakaschwili seinen „Friedensplan“ in modifizierter Form präsentiert, der in Etappen die Demilitarisierung der Konfliktzone, ökonomische Rehabilitierung und schließlich Maßnahmen zum Vertrauensaufbau vorsah, mit denen man auf dem Weg zu einer abschließenden Regelung der Statusfragen „innerhalb der territorialen Integrität Georgiens“ gelangen könnte. Als Antwort stellte der südossetische De-facto-Präsident Kokoity seinerseits einen Friedensplan vor, der im wesentlichen die von Saakaschwili vorgeschlagenen Etappen bestätigte und passagenweise wie vom georgischen Plan abgeschrieben erschien, allerdings mit dem Unterschied, seinerseits die Unabhängigkeitsentscheidung Südossetiens zu betonen. Eigentlich hätte man nun intensive Verhandlungen im Rahmen der von der OSZE geleiteten „Gemeinsamen Kontrollkommission“ (Joint Control Commission, JCC) erwarten können, an der neben Georgien und Südossetien auch Vertreter Nordossetiens (zu Russland gehörende Autonome Republik) und Russlands beteiligt sind. Doch statt die Gemeinsamkeiten der beiden Pläne herauszuarbeiten und konkrete Maßnahmen zu ihrer Umsetzung zu verabreden, haben sich die Konfliktparteien im ersten Halbjahr 2006 wieder deutlich voneinander entfernt.
Für die Annahme, dass es sich bei den „Friedensplänen“ letztlich auf beiden Seiten eher um propagandistische Schachzüge als um Ansätze einer konsistenten Strategie zur Konfliktbeilegung handelte, sprechen verschiedene Faktoren: Die unsinnige Fristsetzung des Saakaschwili-Plans auf ein Jahr entsprach dem ungeduldigen, auf schnelle und dramatische Erfolge orientierten Politikstils Saakaschwilis und zog damit zugleich seine Bereitschaft in Zweifel, tatsächlich an einer friedlichen, nur über einen längeren Zeitraum und in Etappen erreichbaren Konfliktlösung arbeiten zu wollen.
Einige positive Schritte, die vom georgischen Staatsminister für Konfliktregulierung und Vertreter in der JCC, Khaindrava, auf georgischer Seite vorangebracht wurden, so vor allem die Verabschiedung eines Restitutionsgesetzes für die Opfer der in der Eskalationsphase des Konfliktes 1991/2 Vertriebenen (vor allem Südosseten aus verschiedenen Landesteilen Georgiens), wurden umgehend von abenteuerlichen Gewaltaktionen aus den in der Südossetien-Frage ganz eigenständig agierenden „Machtministerien“ für Innere Angelegenheiten und Verteidigung konterkariert.
Zuletzt wurden im Mai 2006, nachdem man sich in der JCC gerade auf einige Demilitarisierungsschritte und neue Verhandlungsrunden geeinigt hatte, 40 Südosseten von georgischen Polizisten verhaftet und auf der Polizeistation von Gori massiv verprügelt. Zur Freipressung dieser Gefangenen wurden auf südossetischer Seite wiederum mehrere Männer aus einem georgischen Dorf Südossetiens verhaftet und misshandelt. Zwar wurden alle Gefangenen bald freigelassen, doch die Ergebnisse der Verhandlungen der letzten drei Monate waren wieder zunichte gemacht. Der für die Verhandlungen mit Südosseten zuständige Minister Khaindrava bezeichnete diese Verhaftungsaktion bei einer Diskussion im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung als eine „antigeorgische Aktion“, ausgeführt von Kräften des georgischen Innenministeriums „im Sinne Russlands“.
Eine politische Aufarbeitung der georgischen Verantwortung für die Eskalation des Ossetien-Konflikts unter dem ersten Präsidenten Gamsachurdia und seiner radikal nationalistischen und ethnozentristischen Politik findet bis heute nicht statt. Stattdessen dämonisiert die georgische Seite Südossetien als Einfallstor für Drogen und Waffen und sicheren Hafen Krimineller und Söldner, von dem Gefahr für die Sicherheit der ganzen Region ausgehe. Wie zur Ankündigung einer anstehenden Militäraktion spricht schließlich der mächtige georgische Verteidigungsminister Okruaschwili seit Monaten davon, er werde „entweder das Neue Jahr in der (südossetischen Hauptstadt) Zchinwali feiern oder zurücktreten“. Die südossetische Seite wiederum verfügt trotz vereinzelter gegenteiliger Verlautbarungen über keinerlei politische Autonomie von Russland. Die Regierung des Präsidenten Kokoity besteht zum Großteil aus von Russland geschickten Statthaltern, die weder über eine ethnische noch eine biographische Verbindung zu Südossetien verfügen, sondern (wie im Falle des Premierministers, eines früheren
sibirischen Ölindustriellen) nur dorthin delegiert wurden. Der südossetische “Präsident” Eduard Kokoity sammelt politisches Kapital im Vorfeld der für Herbst 2006 angesetzten Präsidentschaftswahlen, indem er sich als Beschützer der südossetischen Unabhängigkeit gegenüber einer anstehenden georgischen Militärinvasion porträtiert.
Ossetische Bevölkerung zwischen Furcht und Perspektivlosigkeit
Die häufigen Verletzungen der JCC-Vereinbarungen durch Georgien nützen ihm und seinen russischen Unterstützern zur Untermauerung seiner Argumente. Dabei gibt Kokoity „Unabhängigkeit“ nur als ein Etappenziel an, auf dem Weg zur „Wiedervereinigung mit den nordossetischen Brüdern“ und damit dem Anschluss Südossetiens an Russland. Im Frühjahr 2006 beantragte Kokoity beim Russischen Föderationsrat die Aufnahme Südossetiens, dessen ossetischer Bevölkerungsteil mittlerweile mit überwiegender Mehrheit die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, in die russische Föderation – zunächst nur ein Schritt provokativer Propaganda, der vom Föderationsrat an die Ausschüsse verwiesen wurde, aber zukünftige mögliche Eskalationsstufen andeutet. Die Bevölkerung Südossetiens, die bis heute zu gleichen Teilen georgisch und südossetisch ist, wird als Geisel gehalten zwischen der Furcht vor einer militärischen Revanche Georgiens und der aussichtslosen Perspektive eines Anschlusses an Russland.
Eine kürzlich in Brüssel veranstaltete internationale Geber-Konferenz erbrachte 7,9 Mio. Euro an Spendenzusagen für die ökonomische Rehabilitierung der Konfliktregion. Doch offenbar können auch solche Bemühungen der OSZE und anderer internationaler Akteure, durch wirtschaftliche Rehabilitation und politische Anreize Spannungen abzubauen, bislang nicht verhindern, dass dieser Konflikt um eine von einigen 10.000 Menschen bewohnte Bergregion in den Augen der Verantwortlichen offenbar als politisch-militärisches Kräftemessen zwischen dem in die NATO strebenden und von den USA unterstützten Georgien und dem ein Drittel seiner Militärkraft im Nordkaukasus konzentrierenden Russland zu interpretieren und zu entscheiden ist.
Abchasien: ein Schritt vor, zwei zurück Der größte Unterschied zwischen dem Abchasien- und dem Südossetien-Konflikt besteht darin, dass in Abchasien die politische Elite im Einklang mit großen Teilen der Bevölkerung bestrebt ist, einen tatsächlich unabhängigen abchasischen Staat aufzubauen. Zwar pflegen die Abchasen enge Beziehungen in den Nordkaukasus (auch über bestehende ethnisch-kulturelle Bindungen hinaus), doch wird die politische, wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit von Russland eher als ein notwendiges Übel betrachtet, dass angesichts der einhelligen Unterstützung der westlichen Welt für das „viel größere Übel“ Georgien einstweilen alternativlos sei.
Nachdem bei den Präsidentenwahlen im Winter 2004/2005 die erfolglosen russischen Erpressungsversuche zur Durchsetzung des „Kreml-Kandidaten“ für massive interne Konflikte an der Schwelle zum Bürgerkrieg und für eine starke Ernüchterung auf abchasischer Seite über die russischen „Freunde“ gesorgt hatten, konsolidierte sich die Situation in Abchasien unter der Regierung des neu gewählten Präsidenten Bagapsch politisch und wirtschaftlich auf niedrigem Niveau. Dies betrifft die energische Bekämpfung grassierender Kriminalität durch Premierminister Ankvab, wirtschaftliche Belebungsmaßnahmen für die Landwirtschaft und einige Produktionsbetriebe sowie die Vereinfachung und Effektivierung des Steuersystems und die Stabilisierung des Haushalts.
Insgesamt bleibt Abchasien aber in ausschließlicher Abhängigkeit von Russland – als Zielmarkt seiner landwirtschaftlichen Produkte, als Herkunftsland der dringend benötigten Touristen, und vor allem als militärische Schutzmacht und politischer Patron in allen strategischen und sicherheitsrelevanten Fragen. Außerdem verfügen ca. 80% der Einwohner Abchasiens mittlerweile über einen russischen Pass, da nur dieser angesichts der internationalen Isolation Abchasiens ihnen die Möglichkeit zu Auslandsreisen gibt. Auch wenn Abchasien insgesamt viel mehr Aufbauleistungen im Sinne tatsächlicher Eigenstaatlichkeit (funktionierende Institutionen, Ansätze tatsächlicher Gewaltenteilung, recht dynamische Zivilgesellschaft) vorzuweisen hat als Südossetien, kann von einer De-facto-Unabhängigkeit nur in Bezug auf Georgien, nicht aber in Bezug auf Russland gesprochen werden - im übrigen eine Feststellung, der man in Abchasien gewöhnlich mit dem Verweis auf die „US-hörige Regierung Georgiens“ begegnet. Bemühungen zur Überwindung des georgisch-abchasischen Gegensatzes sind leider in den letzten Monaten nicht wirklich vorangekommen. Im Gegenteil scheint derzeit die Enttäuschung zwischenzeitlich gehegter Hoffnungen auf beiden Seiten zu einer Verhärtung der Positionen zu führen.
Auf georgischer Seite erwartete man sich von Präsident Bagapsch, der ja zunächst gegen den Widerstand des Kreml an die Macht gekommen war, eine Politik, die auf zu georgischen Bedingungen unterbreitete Kooperationsangebote eingehen und in sicherheitsrelevanten Punkten Flexibilität zeigen würde. Die mögliche Kooperation betrifft vor allem die Wiedereröffnung der durch Abchasien führenden Schwarzmeer-Eisenbahntrasse von Sotschi (Russland) nach Tbilisi, eine Verbindung, an der vor allem das nach Ost und West blockierte Armenien wegen seiner wirtschaftlichen Kooperation mit Russland stark interessiert ist.
Dieses Projekt wurde zwar von einer russisch-abchasischgeorgischen Vorbereitungskommission geprüft, und im Mai 2006 wurde in Moskau ein Konsortium der russischen, georgischen, armenischen und abchasischen „Staatsbahnen“ zur Wiederherstellung der Eisenbahnverbindung gegründet. Doch noch scheint es wegen zahlreicher politischer Probleme offen, ob das Projekt in absehbarer Zeit realisiert werden kann. In Abchasien kritisiert die Opposition das Projekt als „pro-georgisch“, und in Georgien will man jede eventuelle Status-Aufwertung für die Abchasen vermeiden. Besonders strittig dürfte die Frage der Zollkontrollen werden, fordern doch die Georgier, an der international als georgischrussisch ausgewiesenen, de facto abchasisch-russischen Grenzlinie eigene Zollstationen aufzubauen.
Andere Zugeständnisse von den Abchasen fordern die Georgier vor allem in Bezug auf die Internationalisierung der von Russland gestellten „GUS-Friedenstruppen“ an der Waffenstillstandslinie und auf eine internationale Überwachung des Gali-Distrikts, dem überwiegend von zurückgekehrten Georgiern bewohnten südlichen Bezirk Abchasiens. Nachdem die von abchasischer Seite zunächst in den georgischen Präsidenten Saakaschwili gesetzten verhalten positiven Erwartungen durch dessen aggressiv-populistische Rhetorik von der unmittelbar bevorstehenden „Rückkehr nach Suchumi“ und dem Ausbleiben jeglicher politischer Initiative enttäuscht wurden, wuchs im Zusammenhang mit der Ernennung Irakli Alasanias zum verantwortlichen Abchasien-Berater des Präsidenten der Optimismus.
Alasania, ein junger, im Westen ausgebildeter Jurist, dessen Vater im Abchasien-Krieg als General ums Leben gekommen war, hatte sich durch seine sehr ernsthafte und differenzierte Art der Auseinandersetzung mit den Ursachen des Konfliktes und mit der georgischen Verantwortung für dessen Eskalation schon zuvor Respekt bei informellen Treffen mit abchasischen Gesprächspartnern verschafft. Nur zwei Tage nach seiner Ernennung wurde er in Abchasien Abchasien zum Antrittsbesuch empfangen, und gleich beim ersten Besuch einigte man sich auf die Wiederbelebung eines seit 2001 stillgelegten Verhandlungsformates, nämlich des so genannten „Koordinationsrates“ unter UN-Ägide, bei dem paritätisch besetzte Arbeitsgruppen zu Sicherheitsfragen, ökonomischer Zusammenarbeit und Flüchtlingsrückkehr beraten.
Im Mai reiste der abchasische De-facto-Außenminister Schamba nach Tbilisi zur ersten Sitzung dieses Gremiums. Bei dieser Gelegenheit präsentierte er den als „Schlüssel zur Zukunft“ titulierten Friedensplan von Präsident Bagapsch, der neben bekannten Elementen (Vertrauensaufbau, wirtschaftliche Rehabilitierung, Festhalten an russischen Friedenstruppen, Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen Georgien und Abchasien als unabhängige Staaten) das ausdrückliche Interesse der abchasischen Führung an einer Einbeziehung in die Europäische Nachbarschaftspolitik bekundete.
Obwohl die georgische Seite nach eigenem Bekunden „seit zwei Jahren“ an einem eigenen Friedensplan arbeitete, dauerte es mehrere Wochen, bis die Georgier ihre „Roadmap“ zum Frieden vorlegten – wiederum im wesentlichen die Bekräftigung georgischer Standpunkte, die als Endpunkt den Abchasen eine „weitgehende Autonomie“ in einem gemeinsamen Staatswesen einzuräumen bereit sind, allerdings erst nach Rückkehr aller georgischen Flüchtlinge nach Abchasien (und der damit verbundenen Wiederherstellung der alten Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Georgier).
Anstatt nach konstruktiven Elementen in den Vorschlägen der jeweiligen Gegenseite zu suchen, wurden beide Dokumente jeweils als „komplett unakzeptabel“ zurückgewiesen. In dieser Situation gelang es wegen der aktuellen Auseinandersetzungen um die russischen Friedenstruppen nicht einmal, ein für den Vertrauensaufbau wichtiges Gewaltverzichts-Dokument zu unterzeichnen (zu dieser Auseinandersetzung siehe auch der folgende Abschnitt des Berichts zum georgisch-russischen Gegensatz). Entmutigend ist jedoch vor allem die jüngste Personalentscheidung Präsident Saakaschwilis, den gerade erst etablierten Sonderberater Irakli Alasania, als UN-Botschafter nach New York zu „verbannen“ und damit aus dem direkten Verhandlungsprozess zu entfernen.
Alasania hatte erklärt, gemeinsam mit den Abchasen eine „gemeinsame und offene Bewertung der Ereignisse von 1992/93“ finden zu wollen und sich damit der Diskussion um die georgische Verantwortung offen zu stellen. Verbunden mit dem seit über einem Jahr andauernden Boykott der informell geführten georgisch-abchasischen Dialogtreffen durch Mitglieder der georgischen Führung legt dies den Schluss nahe, dass Saakaschwili nicht wirklich an einem kontinuierlichen, gleichberechtigten Dialogprozess mit der abchasischen Gegenseite interessiert ist, für den Alasania stand. Nach Überzeugung Saakaschwilis – und der Mehrheit der Georgier – handelt es sich beim Abchasien-Konflikt nicht um einen Konflikt zwischen Georgiern und Abchasen, sondern zwischen Georgiern und Russen, der daher nur auf dieser Ebene (und mit entsprechender amerikanischer Unterstützung für Georgien) gelöst werden sollte.
Dass diese Annahme irrtümlich ist und die Chancen auf eine Reintegration der abchasischen Gesellschaft in einen gemeinsamen georgisch-abchasischen Staat mit der Zeit immer geringer werden, wird für jeden deutlich, der sich über längere Zeit in Abchasien aufhält. Diesem Befund widerspricht auch nicht, dass derzeit einer internationalen Anerkennung eines unabhängigen Abchasien keinerlei Chancen eingeräumt werden können, so gerne und oft Abchasen in letzter Zeit auch auf den „Präzedenzfall Kosovo“ verweisen mögen.
Georgisch-russischer Gegensatz: billige Kugeln und gepanschter Wein
Direkt mit den Auseinandersetzungen um Südossetien und Abchasien verbunden, aber darüber noch hinausgehend haben sich die politischen Beziehungen zwischen Russland und Georgien in den letzten Monaten so verschlechtert, dass man sie als „offen feindselig“ bezeichnen kann. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Präsident Saakaschwili oder ein Mitglied seiner Umgebung Russland der offenen (Südossetien und Abchasien) oder verdeckten Aggression (Spionage, Blockade der Energiezufuhr, Unterstützung Krimineller etc.) bezichtigt. Die russische Rhetorik steht dem nicht nach – Kremlberater Gleb Pavlovskij wurde kürzlich mit einem von US-Präsident Bush auf Saddam Hussein gemünzten Zitat vernommen, demzufolge im Verhältnis auf Georgien und seinen Präsidenten „eine Kugel womöglich billiger sei als ein Krieg“. In russischen Meinungsumfragen nach den „Feinden Russlands" rangiert das kleine Georgien gleich nach den USA auf Platz 2, während man in Georgien eher davon ausgehen kann, dass die Regierung mit ihrer aggressiv antirussischen Rhetorik längst nicht bei allen im Land Anerkennung findet.
Begonnen hatte das Jahr mit der so genannten „Gaskrise“, dem durch drei gleichzeitige Sprengstoffexplosionen an den wichtigsten Versorgungsleitungen im Nordkaukasus hervorgerufenen Lieferstopp russischen Gases an Georgien und Armenien. Hinzu kamen zuvor Sabotageakte an wichtigen Überlandstromleitungen in Georgien, so dass in Tbilisi und vielen Landesteilen während der kältesten Wintertage des Jahres nicht geheizt werden konnte. Für die Explosionen im Nordkaukasus wies Präsident Saakaschwili in unzweideutigen Äußerungen der russischen Führung die Verantwortung zu. Während Armenien die Knappheit mit eigenen Gasvorräten überbrücken konnte, gelang es Georgien nur dank eilig abgeschlossener Gaskäufe in Aserbaidschan und Iran, nach zwei Wochen die Situation zu stabilisieren. Kern des georgisch-russischen Gegensatzes ist die strategische Westorientierung weiter Teile der georgischen politischen Elite und deren unbedingter Wille, noch in diesem Jahrzehnt der NATO beizutreten und sich damit irreversibel der von Russland traditionell im Südkaukasus beanspruchten Vorherrschaft zu entziehen.
Wichtigster Austragungsort des Streites sind die schon beschriebenen Sezessionskonflikte in Südossetien und Abchasien: Der Beschluss des georgischen Parlamentes, von der eigenen Regierung die Aufkündigung der Zustimmung zur Präsenz russischer Friedenstruppen in Südossetien zu verlangen, löste in Russland geradezu hysterische Reaktionen bei Dumafraktionen und Außenpolitikern aus und führte umgehend zur zeitweiligen Visasperre für alle Georgier (Georgien ist als einziges GUS-Land von Russland mit Visapflicht belegt worden, selbstverständlich mit Ausnahme Südossetiens und Abchasiens).
Der Visasperre folgte der Bann georgischen Weins und georgischen Mineralwassers aus „sanitären Gründen“. In der Tat ist seit vielen Jahren bekannt, dass Millionen von Hektolitern gepanschten oder gefälschten Weins von Georgien nach Russland gelangen oder sogar dort unter georgischem Etikett hergestellt werden. Präsident Putins Versicherung, dass die plötzliche Bemühung der russischen Sanitätsbehörden zur Behebung dieses Problems natürlich nichts mit aktuellen politischen Entwicklungen zu tun habe, darf als offener Zynismus bezeichnet werden. Saakaschwili reagierte mit der Erstaunen hervorrufenden Ernennung seines als Falken bekannten Verteidigungsministers (sic!) Okruaschwili zum „Sonderbeauftragten“ für die Erschließung neuer Märkte für georgischen Wein – bislang waren mindestens 80% des Weinexports nach Russland gegangen.
Offenbar um im Vorfeld des im Juli 2006 in Petersburg ausgerichteten G8-Gipfels Dialogbereitschaft zu demonstrieren, empfing der russische Präsident Putin seinen georgischen Amtskollegen am 13. Juni zu einem mitternächtlichen Gespräch. Einziges Resultat: Die Wiederherstellung der direkten Kommunikation zwischen den Präsidenten – in keinem der bestehenden Streitpunkte hatte das Treffen irgendeine Annäherung gebracht. In Bezug auf die Sezessionskonflikte verwies Putin Saakaschwili (zu Recht) auf die Verantwortung der Georgier, sich ernsthaft für den Dialog mit Südosseten bzw. Abchasen zu engagieren; seinerseits verwahrte sich Saakaschwili (zu Recht) gegen die unmittelbare Einmischung Russlands in innere Angelegenheiten Georgiens zugunsten der Sezessionisten.
Im Schatten der beschriebenen Eskalationen einigten sich Georgien und Russland Ende März abschließend auf den Abzug der russischen Militärbasen aus Georgien bis Ende 2008. Direkt im Anschluss daran begann Russland mit dem Abzug schwerer Waffen aus der Basis in Akhalkalaki, an der Grenze zu Armenien. Material und Truppen der russischen Basen sollen zu einem Drittel nach Armenien und zu zwei Dritteln in den Nordkaukasus verbracht werden; eine Truppenverschiebung, die im komplexen Kräftegeflecht des Kaukasus wieder erhebliche Auswirkungen an anderen Stellen mit sich bringt.
In offensichtlichem Widerspruch zur Abgrenzung auf deklaratorischer Ebene gegenüber dem nördlichen Nachbarn betreibt die georgische Regierung seit Jahren eine Privatisierungspolitik, die dem Zustrom russischen Kapitals Tür und Tor öffnet. Die liberale Lesart vom „Geld, das nicht stinkt“, führt in diesem Fall in die Irre: Das Kapital, mit dem verschiedene, teilweise mit georgischen Strohmännern agierende, Konsortien georgische Häfen, Großbetriebe und vor allem die Energieinfrastruktur (Gas- und Stromnetzwerke) aufkaufen, gehört russischen Staatsbetrieben wie GASPROM und ist damit als politisches Instrument einsetzbar.
Schließlich haben etwa die letzten Monate im russischukrainischen Verhältnis gezeigt, dass tatsächlich russische Außenpolitik in wesentlichen Bereichen von GASPROM und nicht vom Außenministerium gemacht wird. Die Frage, ob hinter den georgischen Privatisierungsentscheidungen einfach nur ultraliberale Auffassungen und die Entschlossenheit stehen, Auslandsinvestitionen gleich welcher Couleur zu begrüßen, oder ob Verschwörungstheorien zutreffen, nach denen z.B. der für Wirtschaftsreformen zuständige Staatsminister Kacha Bendukidse (vor seiner Berufung einer der wichtigsten russischen „Oligarchen“) und Temur Alasania, der sagenumwobene Onkel Saakaschwilis, ein altgedienter KGB-Mitarbeiter, der noch unter Jelzin in der russischen UN-Vertretung arbeitete, als „graue Kardinäle“ die Fäden in eine ganz andere als in die offiziell deklarierte Richtung ziehen, entzieht sich angesichts der Intransparenz dieser Vorgänge einer ernsthaften Analyse.