Innenpolitische Entwicklungen in Georgien
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Korruption, die zunehmende Kriminalität innerhalb der Rechtsschutzorgane, massiver Vertrauensverlust in politische Institutionen von Seiten der Bevölkerung wie von Seiten der internationalen Gemeinschaft, der Zusammenbruch technischer und sozialer Infrastruktur – nach Jahren der andauernden Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Situation reichte eine nach postsowjetischen Verhältnissen nur durchschnittlich gefälschte Parlamentswahl im November 2003 aus, um das Fass in den Augen der meisten Georgier endgültig zum Überlaufen zu bringen.
Nachdem sich die von dem zunehmend orientierungslosen Präsidenten Schewardnadze kaum mehr kontrollierte Regierung weigerte, trotz massiver internationaler Kritik an den Parlamentswahlen und gegenteiligen Ergebnissen unabhängiger Zählungen die Niederlage des Schewardnadze-Blocks einzuräumen, kam es zu wochenlangen Massendemonstrationen in Tbilisi, die von den Führern der nationaldemokratischen Opposition angeführt wurden und vom unabhängigen Fernsehsender „Rustavi 2“ in permanenter Liveschaltung übertragen wurden.
Die Erstürmung des Parlaments durch Demonstranten am 22.11. während dessen konstituierender Sitzung führte zum Rücktritt von Präsident Schewardnadze und zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen, aus denen der populäre Oppositionsführer Micheil Saakaschwili am 4.01.2004 mit nahezu 97 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent als Sieger hervorging. Entscheidendes Resultat der Ereignisse ist ein nahezu kompletter Austausch der politischen Elite in den staatlichen Spitzenpositionen.
An die Stelle älterer und weitgehend diskreditierter Funktionsträger, deren politische Karriere zu Zeiten des georgischen KP-Generalsekretärs Schewardnadze begann und seither mit dessen Namen und Patronage verbunden blieb, sind teilweise sehr junge, ambitionierte Leute getreten, deren Qualifikationen auf ihre Mitarbeit in Nichtregierungsorganisationen, auf Ausbildungszeiten im Westen und auf internationale Trainingsprogramme zurückgehen. Ihre politische Reifezeit im Umgang mit den gravierenden Problemen des Landes und der Widersprüchlichkeit von Interessen liegt aber noch vor ihnen.
Der Regierungswechsel in Georgien hat Chancen für die Entwicklung des Landes zu einem demokratischen Rechtsstaat eröffnet: An die Stelle einer in Abwehrkämpfe verstrickten, korrupten und weitgehend handlungs- und entschlussunfähigen Regierung trat nun eine entscheidungsfreudige Regierung mit einem starken Präsidenten, der über einen großen Vertrauensvorschuss und ein klares politisches Mandat verfügt. Reformwillen kann der Regierung nicht abgesprochen werden. Von ihren Bemühungen um Erneuerung des Steuersystems, dem Kampf gegen Korruption, die Reorganisation der Rechtschutzorgane, (v.a. Zoll und Polizei) können durchaus positive Wirkungen auf die Gesamtregion und darüber hinaus auf andere GUS-Staaten ausgehen.
Der größte Erfolg Saakaschwilis in seiner bisherigen Regierungszeit war zweifellos die unblutige Vertreibung des charismatischen Autokraten Aslan Abaschidse aus seinem de-facto unabhängigen „Fürstentum“ Adscharien Anfang Mai 2004. Abaschidze, der sich nach außen als der unversöhnlichste Opponent Schewardnadzes gebärdete, war zugleich einer der größten Profiteure der Schewardnadze-Ära: Einem stillschweigenden Gentlemen-Agreement folgend, ließ Schewardnadze ihm in seiner mehrheitlich von muslimischen Georgiern bewohnten Autonomen Republik gegen die Zusicherung formaler Loyalität freie Hand beim Aufbau eines quasifeudalen Staatswesens und duldete auch, dass Abaschidze die alleinige finanzielle Kontrolle über die türkisch-georgische Grenze und den größten Hafen des Landes in Batumi übernahm.
Damit wurde Adscharien neben der abgespaltenen Region Südossetien zum wichtigsten Tor für Schmuggelware und zugleich zum Schauplatz einer nahezu unbegrenzten Bereicherung eines Familienclans. Seine Herrschaft sicherte sich Abaschidze durch die Garantie einer sozialen Grundversorgung für die Bevölkerung nach sowjetischem Muster (niedrige, aber regelmäßig ausgezahlte Löhne und Renten), enge persönliche Verbindungen in Moskauer Führungszirkeln, Personenkult und einen umfangreichen Sicherheitsapparat. Einige Monate schien es, als könne Abaschidze dem von der Tbiliser Novemberrevolution und ihrem strahlenden Helden Saakaschwili ausgehenden Druck widerstehen. Angesichts der kompromisslosen Forderung Saakaschwilis nach bedingungsloser Unterordnung unter seine Präsidentschaft war eine gewaltsame Konfrontation ein mögliches Szenario.
Mit einer für ihn typischen Kombination aus Einschüchterung, Organisation von Massenprotesten, Sicherung internationaler Unterstützung und instinktsicher unternommenen riskanten populistischen Aktionen, bei denen er bislang immer Glück hatte, gelang es Saakaschwili jedoch bis Ende Mai, das Regime Abaschidze in die Falle zu treiben. Als Abaschidze durch Sprengung der Brücken zu Georgien und gewaltsame Auflösung von Demonstrationen sich jeden Rückweg verbaute, setzten sich Angehörige seiner Regierung reihenweise von ihm ab. Was blieb, war seine „Entsorgung“ durch den „politischen Beerdigungsunternehmer“ Igor Ivanov, früherer russischer Außenminister und jetzt Vorsitzender des nationalen Sicherheitsrates, der wie schon im Falle Schewardnadze eingeflogen wurde, um den Widerspenstigen zur Aufgabe zu überreden und ihn mit in sein Flugzeug nach Moskau zu nehmen. Offensichtlich hatte es dazu eine Absprache zwischen der russischen und der amerikanischen Regierung gegeben.
Doch auch der Erfolg in Adscharien trägt deutliche Spuren der Risiken, die von der Regierung Saakaschwili schon nach wenigen Monaten für eine nachhaltige Transformation des Landes in Richtung Demokratie und Rechtsstaat ausgehen: Der Präsident neigt zu Populismus und Aktionismus, und er vernachlässigt transparente politische Entscheidungsprozesse.Im Stile der „permanenten Revolution“ (Leo Trotzki) wurden gleich nach den Präsidentschafts- und noch vor den Parlamentswahlen nahezu ohne jede öffentliche und parlamentarische Debatte im Hauruck-Verfahren Verfassungsänderungen durchgesetzt, die den Staatsaufbau in Georgien massiv in Richtung eines autoritären Präsidialsystems verändert haben. (…)
Ungelöste ethnopolitische Konflikte
Zehn Jahre nach dem Ende großangelegter Kampfhandlungen und der Unterzeichnung von Waffenstillstandsvereinbarungen sind die drei „großen“ ethnopolitischen Konflikte des Südkaukasus noch immer weit von einer friedlichen Beilegung entfernt. Zur Erinnerung: Anfang der 90er Jahre versuchte das im Innern selbst in bürgerkriegsähnliche Zustände verstrickte Georgien mit einer offen proklamierten „Georgien den Georgiern“-Politik die Sezessionsbestrebungen in den zu Georgien gehörenden Autonomen Republiken Abchasien und Südossetien gewaltsam zu unterdrücken, was nach brutalen Kriegen mit tatkräftiger militärischer Einmischung regulärer und irregulärer russischer Verbände auf Seite der Sezessionisten zur de-facto Abspaltung dieser Landesteile und zu Waffenstillständen führte, die von russisch dominierten Friedenstruppen überwacht werden.
Zwischen Armenien und Aserbaidschan führte der seit langem schwelende Konflikt um die überwiegend armenisch besiedelte Enklave Berg-Karabach in Aserbaidschan von 1992–1994 zu einem grausamen Krieg, der zur Besetzung von ca. 14% aserbaidschanischen Territoriums durch Armenien und zur Vertreibung von bis zu 1,2 Mio Flüchtlingen auf beiden Seiten der Auseinandersetzung führte. Seit nahezu zehn Jahren wird international über die Beilegung der Konflikte verhandelt, im Falle Süd-Ossetiens und Karabachs unter der Ägide der OSZE, im Falle Abchasiens durch die UN.
Südossetien
Nach der erfolgreichen „Kopie“ der georgischen „Rosenrevolution“ in Adscharien, mit der Präsident Saakaschwili seinen ersten großen Erfolg auf seinem Weg zur versprochenen „Wiedervereinigung“ des Landes feiern konnte, war allgemein erwartet worden, dass sich der Präsident nun als nächstes der nur 90 km von Tbilisi entfernten „Republik Südossetien“ zuwenden würde. Auch wenn in Georgien den meisten klar ist, dass sich das adscharische Szenario in Südossetien nicht wiederholen lässt, da anders als dort ein gewaltsamer ethnopolitischer Konflikt mit schweren Traumatisierungen v.a. auf südossetischer Seite zu bewältigen ist, wird das „Austrocknen“ des „Schmugglerparadieses Südossetien“ und die Absetzung des „kriminellen Marionettenregimes“ des südossetischen Präsidenten Kokoity in Georgien als Aufgabe der allernächsten Monate angesehen.
In der Tat ist das an der wichtigsten georgisch-russischen Straßenverbindung (Roki-Tunnel) gelegene Südossetien neben Adscharien seit Jahren das wichtigste Einfallstor für unverzollte Waren nach Georgien. Der direkt an der Demarkationslinie zwischen Georgien und der auf georgisch nur als „Region Tskhinvali“ bezeichneten ehemals Autonomen Republik Südossetien gelegene Ergneti-Markt war ein Riesen-Basar, auf dem über viele Jahre Georgier, Osseten, Russen, Armenier u.a. von Mandarinen über Haushaltsgegenstände, Benzin bis zu Waffen und Drogen so ziemlich alles verschoben.
Der Markt war zugleich die wichtigste Einnahmequelle des Regimes des als kriminelle Autorität bekannten Edward Kokoity, der sich 2002 zum Präsidenten Südossetiens wählen ließ und seither den schnellstmöglichen Anschluss der Region an Russland und die nordossetischen „Brüder“ jenseits der Grenze propagiert. Immerhin haben die Mehrheit der Südosseten mittlerweile die russische Staatsbürgerschaft erworben, womit u.a. die russische Duma „ihre Pflicht zur Einmischung im Interesse der eigenen Bürger“ begründet.
Mit ihrer im Mai 2004 gefällten Entscheidung, den Ergneti-Markt zu schließen, zerriss die neue georgische Regierung daher über Nacht ein auf stillschweigendem Gentlemen-Agreement gründendes Netzwerk profitabler Geschäftsbeziehungen, an dem georgische wie südossetische Staatsbedienstete und nicht zuletzt Angehörige der russischen Friedenstruppe maßgeblichen Anteil hatten. Sie zerstörte damit zugleich einen jahrelang stabilen Status quo, der den unkontrollierten Austausch von Menschen und Waren über die Konfliktgrenze hinweg zu den Bedingungen des Schwarzmarktes ermöglicht hatte.
Zugleich verfolgt die georgische Regierung die Errichtung einer gemeinsamen russisch-georgischen Zollstation am Roki-Tunnel; auch dies ein Anliegen, das natürlich den südossetischen Interessen fundamental widerspricht. Während Saakaschwili auf pragmatische Vereinbarungen mit seinem neuen „Männerfreund“ Putin auf höchster Ebene setzt, reagieren Regierung und Bevölkerung in Südossetien extrem nervös. Die Stationierung zusätzlicher georgischer Polizeieinheiten in den georgisch kontrollierten Teilen Südossetiens, die gegeneinander gerichtete inflationäre Errichtung von Straßenkontrollpunkten, die georgische Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ (Lieferungen von Lebensmitteln, Schulbüchern, Dünger) an Einwohner Südossetiens bei gleichzeitiger Verschärfung der Rhetorik gegenüber dem südossetischen Regime haben seit Mitte Juni 2004 die Ängste vor einem Wiederaufflammen militärischer Auseinandersetzung massiv geschürt.
Die Festnahme von 50 georgischen Polizisten durch südossetische Einheiten in der zweiten Juliwoche auf südossetischem Territorium und ihr erniedrigendes Vorführen im russischen Fernsehen, das sich wie fast alle russische Medien und wie die Duma eindeutig auf die Seite der Südosseten stellt, war bisher der Höhepunkt der Eskalation. Zwar wurden die meisten nach 2 Tagen wieder freigelassen, doch sorgte die Festsetzung eines russischen Konvois mit hochgefährlichen Raketen, die angeblich für die russischen Friedenstruppen bestimmt waren, durch georgische Einheiten für das Anhalten der Spannungen.
Georgien beschuldigt die südossetische Regierung im Verbund mit einem kriminellen Netzwerk aus Mitgliedern der russischen Generalität und der Geheimdienste, einen neuen Krieg vom Zaun brechen zu wollen, um die eigene Existenz zu retten. Saakaschwili und seine Regierung versichern, sich auf keinen Fall zu einer neuen bewaffneten Auseinandersetzung provozieren zu lassen; zugleich verspricht man dem einheimischen Publikum die Lösung des Problems und die Wiedereingliederung der Region „innerhalb weniger Monate“. Auf welchem Weg diese kurzfristige Lösung friedlich erreicht werden soll, bleibt nach den Erfahrungen der letzten Wochen allerdings völlig unklar.
Abchasien
In Abchasien wurde im September 2003 feierlich das zehnjährige Jubiläum des „Sieges im Unabhängigkeitskrieg“ begangen. Gefeiert wurde ein von Georgien immer wieder auch durch Gewaltaktionen in Frage gestellter Status quo, der dem kleinen Land die faktische Unabhängigkeit von Georgien bei starker politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Russland sichert, ihm aber angesichts der internationalen Isolation keine dauerhaften Entwicklungsperspektiven bietet. Ungelöst bleibt die Frage der Rückkehr der aus Abchasien vertriebenen Georgier (ca. 200.000, vor dem Krieg stellten die Georgier die Mehrheit bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 350.000 E.). Die Rückkehr zehntausender georgischer Einwohner in die südliche Gali-Region erfolgte und erfolgt weiterhin unorganisiert und trotz insgesamt katastrophaler Sicherheitsbedingungen.
Immerhin hat sich in Abchasien – anders als in Südossetien – tatsächlich eine gewisse Eigenstaatlichkeit gebildet, mit relativ funktionierenden politischen Institutionen und einer kleinen, doch aktiven Community von Nichtregierungsorganisationen und oppositionellen Medien. Doch der Status quo wird nun von zwei Ereignissen in Frage gestellt, was ebenso Hoffnungen auf eine Belebung des Friedensprozesses ebenso nährt wir auch Befürchtungen vor einer neuen Eskalation nach südossetischem Muster: Das eine Ereignis war der schon erfolgte Macht- und Elitenwechsel in Georgien; das andere ist der Anfang Oktober 2004 anstehende Machtwechsel in Abchasien.
Bei den – international nicht anerkannten – Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober wird über die Nachfolge des schwer kranken „Vaters der Unabhängigkeit“ Ardzinba entschieden. Dies sorgt für sehr starke innenpolitische Spannungen, die bis hin zu politischen Morden reichen. Offenbar kämpft eine unter Adzinba reich gewordene Machtgruppe mit allen Mitteln um ihre Pfründe, die durch das Auftauchen aussichtsreicher Oppositionskandidaten in Gefahr geraten sind.
Misstrauen und Abwehr gegenüber Georgien
Die Aktionen Präsident Saakaschwilis in Adscharien und Südossetien sowie seine mehrfach gegebenen Versprechungen von einer Rückkehr Abchasiens in den georgischen Staat „während meiner ersten Amtszeit“ haben das Misstrauen und die allgemeine Abwehr gegenüber Georgien, die in Abchasien Bevölkerung und Regierende eint, nur noch verstärkt. Noch stärker setzt man nun – eher notgedrungen als aus freiem Willen – auf ein Bündnis mit Russland, das als einziger Partner für die Sicherheit und ökonomische Entwicklung des Landes gesehen wird. Um an international gültige Reisedokumente und an vom russischen Staat gezahlte Renten zu gelangen, hat mittlerweile auch die Mehrheit der Abchasen die russische Staatsbürgerschaft angenommen, was die Konfliktlage weiter verkompliziert.
Eine gewaltfreie Konfliktlösung wird mehr Zeit brauchen, als Präsident Saakaschwili seinen Wählern versprochen hat. Es wird v.a. darum gehen, die Dynamik der Entfremdung zwischen der abchasischen und der georgischen Gesellschaft, die durch die jahrelange Politik der Blockade, Isolation und Drohgebärden von georgischer Seite und der Selbstisolation auf abchasischer Seite vorangetrieben wurde, in eine Dynamik des Vertrauensaufbaus durch langsame, konsequente und nachprüfbare Schritte der Zusammenarbeit zu konkreten Sachfragen umzudrehen. Dafür müssen auf beiden Seiten v.a. innergesellschaftlich die Voraussetzungen geschaffen werden, um auf Ausgleich bedachten Positionen Bekanntheit und öffentliche Geltung zu verschaffen.
Sollte sich die georgische Regierung, deren wichtigste Ressource die internationale Unterstützung für die territoriale Integrität Georgiens ist, bis zum Herbst 2004 zu einem expliziten dauerhaften Gewaltverzicht und zu einer konkreten, berechenbaren Politik kleiner Schritte zum Abbau der Wirtschafts- und Verkehrsblockade gegen Abchasien durchringen, könnte sie die neue abchasische Regierung vor große Herausforderungen stellen. Der Ball läge dann eindeutig auf abchasischer Seite.