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Werkeln an der Allianz: Zum EU-Lateinamerika Gipfel in Santiago

Am kommenden Wochenende findet in Santiago de Chile der VII. EU-Lateinamerika-Gipfel der Staats- und Regierungschefs statt. Die Frage ist, ob die vielbeschworene biregionale Partnerschaft neben Handelsinteressen auch mit einer politischen Vision angereichert werden kann.

Eigentlich hätte er bereits im Juni vergangenen Jahres, kurz vor der Rio+20 Konferenz stattfinden sollen, doch der siebte EU-Lateinamerika-Gipfel wurde dann relativ kurzfristig auf den 26. und 27. Januar 2013 vertagt – zum einen, wie offiziell bekanntgegeben wurde, aufgrund terminlicher Abstimmungsschwierigkeiten mit den Staats- und Regierungschefs vor Rio, zum anderen, wie einige Beobachter vermuteten, weil die gastgebende chilenische Regierung mit dieser Zusammenkunft politisch nicht wirklich etwas anfangen konnte, erst recht nicht in einem Jahr andauernder politischer Mobilisierungen auf den Straße.

Dieser siebte ist zugleich der erste biregionale Gipfel, der von lateinamerikanischer Seite im neuen regionalen Zusammenschluss der CELAC (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños, Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten) organisiert wird, nachdem sich dieser Verbund 2010 in der Nachfolge der CALC (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños) und Rio-Gruppe in Mexiko unter anderem auch als Antwort auf die anhaltende weltweite Finanzkrise konstituiert hat. Daher stehen neben politischer, kultureller und wirtschaftlicher Einheit und Integration vor allem auch Wachstums- und Entwicklungsperspektiven ganz oben auf der Zielagenda dieses neuen regionalen Verbundes, der zugleich der neuen ökonomischen und politischen Bedeutung Lateinamerikas eine regionale politische Struktur geben soll.

Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass auch der Santiago-Gipfel vornehmlich im Zeichen von Investitionen, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Lateinamerika absolviert wird. Dennoch sieht der zu beschließende Aktionsplan zwischen beiden Regionen ein durchaus differenziertes Spektrum an Politikfeldern vor, zu dem Instrumente und Aktivitäten entwickelt werden sollen, und die neben den 2010 auf dem Madrider Gipfel beschlossenen Themenachsen um zusätzliche erweitert werden sollen:

Neben „Wissenschaft, Forschung und Innovation“ stehen weiterhin auch „Nachhaltige Entwicklung, Umwelt, Energie, Klimawandel“, „Integration, Inklusion und soziale Kohäsion“, Migration, „Bildung und Beschäftigung“ oder auch Drogenpolitik auf dem Papier. Neu aufgenommen werden, unter anderem auf Wunsch der CELAC-Präsidentschaft der chilenischen Regierung, vier neue Themenachsen: „Öffentliche Sicherheit“, „Ernährungssicherheit“, „Gender“ und „Investitionen“.

Insbesondere der originäre Vorschlag der chilenischen Regierung, eine allgemeine Sicherheitsachse unter dem Schlagwort „Menschliche Sicherheit“ (Seguridad Humana) zu etablieren und darunter dann öffentliche Sicherheit sowie Ernährungs-, Umwelt- und Arbeitssicherheit zu subsumieren, stieß auch bei einigen anderen Staaten der Region auf Ablehnung. 

Europa als ein Player unter vielen

Kontinuierlich und deutlich haben sich in den letzten Jahren die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen verändert, unter denen die Gipfeltreffen und Bemühungen für eine strategische Partnerschaft zwischen den beiden Großregionen stattfinden. Waren zur Jahrtausendwende, als die ersten biregionalen Gipfel organisiert wurden, noch die unterschiedlichen Konkurrenzen zwischen den Freihandelsbestrebungen der USA und dem Angebot einer vermeintlich anderen, breiter angelegten Partnerschaft mit der Europäischen Union prägend, hat aufgrund der politischen Gewichtsverschiebungen in Lateinamerika hin zu linkeren Regierungen unterschiedlichster Ausprägungen mittlerweile das ALCA-Vorhaben (Área de Libre Comercio de las Ámericas – Gesamtamerikanische Freihandelszone) der USA auf absehbare Zeit keine Aussicht auf Erfolg mehr. Parallel dazu und aufgrund der Fokussierung der USA auf andere Regionen in der Welt hat sich auch der politische Einfluss  Washingtons in der Region verringert.

Dennoch muss sich Europa seit Beginn des 21. Jahrhundert nur als ein Player unter vielen auf dem Kontinent verorten lassen. Vor allem der Handel mit Asien und insbesondere China hat der Region nicht nur beträchtliche Wachstumsraten, sondern auch neue strategische Optionen im internationalen Konzert eröffnet, die viele Regierungen zu nutzen suchen. So unterschiedlich die tatsächlichen politischen Orientierungen der verschiedenen gemeinhin als links zusammengefassten Regierungen sind, so unterschiedlich sind mittlerweile auch die Interessenslagen und Positionierungen sowohl innerhalb der Region als auch in den internationalen Prozessen. 

Dies musste die EU mit ihrem Drängen auf Freihandelsvereinbarungen zur Kenntnis nehmen, denn sowohl geriet der erste in der Region begonnene Verhandlungsprozess mit dem MERCOSUR ins Stocken wie auch der Versuch scheiterte, mit der Andengemeinschaft CAN ein Abkommen zu schließen. In diesem Fall lag es vor allem an der Weigerung Boliviens und Ecuadors, die mit einer Reihe von Öffnungsklauseln nicht einverstanden waren. Daraufhin wurden die Verhandlungen zu einem reinen Handelsabkommen mit Peru und Kolumbien sowie zu einem Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika, separat weitergeführt, in Madrid 2010 unterzeichnet und schließlich erst im vergangenen Dezember nach heftigen Diskussionen vom EU-Parlament ratifiziert. 

Tür und Tor für Geldwäsche?

Deutliche Kritik formulierte auch die grüne EP-Fraktion sowohl an fehlenden Menschenrechtskonditionierungen als auch an Öffnungs- und Deregulierungsklauseln für den Rohstoffsektor oder Beschaffungspolitiken der öffentlichen Hand in den jeweiligen Ländern oder an der Deregulierung der Finanzdienstleistungen – in einem Moment, in dem Europa mehr denn je unter der Deregulierung des Sektor zu leiden hat. Die Deregulierung würde nun auch noch möglichen Transaktionen und Geldwäsche von Drogengeldern Tür und Tor weit öffnen und auch das so genannte firmeninterne „mispricing“  (Angabe falscher Transferpreise bei firmeninternen  (Verrechnungsvorgängen)  fördern, um somit Gewinne zu kaschieren und Steuern zu umgehen.  

In der Tat stellt sich aus der Perspektive einiger südamerikanischer Länder durchaus die Frage, warum stattdessen und angesichts des durchaus verbesserungswürdigen eigenen Krisenmanagements Europa nicht ein intensiverer Blick auf die verschiedenen finanz- und wirtschaftspolitischen Strategien von Ländern wie Brasilien, und, zumindest in Teilen, auch Argentinien geworfen wurde: Beide Länder konnten trotz erheblicher Unterschiede und einiger ungelöster Probleme immerhin durch Finanzmarktkontrollen und Regulierungen sowie einer aktiven Wachstums- und Sozialpolitik einen großen Teil der Krisenwellen seit 2008 abbremsen und politische Ziele wie soziale Kohäsion mit entsprechenden Maßnahmen unterfüttern.  

Nachfragen provozierte der ebenfalls in Madrid vereinbarte Fonds für Infrastrukturprojekte im Bereich Energie und Transport in Zentralamerika, denn auch hier sind die Bedingungen und Konditionen für die Verwendung der 125 Millionen Euro an nicht rückzahlbaren Hilfen nicht klar.

An den strukturellen Details dieser Abkommen wird deutlich, dass womöglich künftig auch in den Verhandlungen zwischen beiden Regionen mit der Wiederkehr der schon in Rio auf der Agenda stehenden Versuche zu rechnen ist, unter dem Schlagwort einer „green economy“ zentrale, neue Bereiche wie die Vermarktung von Ökosystemdienstleistungen und private Investitionen in Wasser-, Forst-, Landwirtschaft, Energie etc. zum Verhandlungsgegenstand zu machen.

Fehlende Visionen für eine strategische Partnerschaft

Ebenfalls in Madrid wurde die EU-LAC-Stiftung gegründet, deren eher allgemeines Mandat zur Förderung der Partnerschaft zwischen den Regionen in zahlreichen Bereichen wie Handel, Nachhaltigkeit, Bildung, Kultur und Klimawandel und vielem mehr noch der konkreten Definition von Aktionsprofilen und Finanzierungsquellen bedarf. Zwar ist die Einbeziehung von Zivilgesellschaft und sozialen Akteuren auf beiden Seiten Teil des Stiftungsauftrages, doch wird – neben der Ernennung der ehemaligen österreichischen Außenministerin Benita Ferrero-Waldner zur Präsidentin – die konkrete Besetzung verschiedener Schlüsselpositionen der Stiftung mehr Aufschluss über den tatsächlichen Erfolg dieser Einbeziehung bieten. Von einigen peruanischen Organisationen wurde jedenfalls die Ernennung des peruanischen Ex-Botschafters Jose Luis Valdez Carrillo zum Exekutiv-Direktor wegen seines Ministeramtes unter der Diktatur Fujimoris kritisiert.

Wie für das noch unklare Profil der EU-LAC-Stiftung, gilt auch allgemein für die seit nun über einem Jahrzehnt angestrebte „strategische Partnerschaft“ zwischen beiden Regionen, dass es über konkrete Handelsinteressen hinaus an einer klareren oder fassbareren Ausgestaltung der Partnerschaftsinhalte fehlt. Zwar werden allgemein Demokratie und Menschenrechte sowie soziale Kohäsion und Nachhaltigkeit als Schlüsselbegriffe immer wieder genannt, doch mit welchen Strategien und Politikinstrumenten angesichts der auch innerhalb Lateinamerikas sehr unterschiedlichen sozialen Realitäten diese Ziele tatsächlich erreicht werden können, wird in der Regel nicht präzisiert. Insbesondere Ecuador und Bolivien haben mit ihren Verfassungsprozessen und neuen gesellschaftlichen Reform-Konzepten wie dem „Buen Vivir“ den eigenen historischen Defiziten und kulturellen Realitäten in einer Form Rechnung getragen, die auch im Blick von außen Differenzierung erfordert – und die bieten zumindest die bisher auf den Tisch gelegten Vorschläge zur Ausgestaltung von Abkommen seitens der EU eher nicht.

Der Fokus in Santiago liegt auf Handel und Wirtschaft

Der am Wochenende in Santiago beginnende Gipfel steht, trotz der relativen Ausdifferenzierung der Themenachsen im Entwurf zum Aktionsplan, insbesondere auf Drängen der Gastgeber unter dem Titel „Allianz für eine nachhaltige Entwicklung: Förderung von sozial und ökologisch hochwertigen Investitionen“ (“Alianza para un Desarrollo Sustentable: Promoviendo Inversiones de Calidad Social y Ambiental”). Somit ist – von den üblichen Floskeln abgesehen – relativ klar, worauf der Fokus auch in Santiago liegen wird: Auf dem Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. 

Dies entspricht durchaus der Logik insbesondere, aber nicht nur, der gastgebenden chilenischen Regierung, die außen- und regionalpolitische Verortung und Orientierung des Landes auf die Entwicklung von Handelsbeziehungen zu reduzieren. Seit gut 25 Jahren fährt das Land in dieser Hinsicht einen eigenständigen und eigensinnigen Kurs der Priorisierung von bilateralen Handelsabkommen, das es auch im regionalen Kontext lange hat abseits stehen lassen. Erst unter der Regierung Bachelet bewegte sich die chilenische Außenpolitik auch in anderen, politischeren Kategorien innerhalb der Region, insbesondere anlässlich der Krisen in Bolivien oder zwischen Kolumbien und Ecuador. Auch wenn die konservative Piñera-Regierung, zum Beispiel in der Paraguay-Krise um die Absetzung Präsident Lugos, relativ klar Position im Verbund mit den anderen Staaten der Region bezog, scheint die langfristige Staatsräson des Landes nun in der Vorbereitung des Januar-Gipfels wieder durchzubrechen.

Dass die Fragen von Entwicklung und Investitionen grundsätzlich auch von zentralem Interesse politisch anders orientierter Regierungen der Region sind, steht dabei außer Frage: Sowohl Brasilien als auch Argentinien oder Paraguay mit seiner Agroexportindustrie, aber auch Länder wie Bolivien mit seinen Gas- und Bergbauvorkommen priorisieren Wachstum als Entwicklungs- und Inklusionsinstrument mittlerweile mehr oder weniger ungehemmt, mit zunehmenden Konflikten um diese Projekte in den Territorien, wie die weitverbreitete Debatte um den sogenannten „Neoextraktivismus“ zeigt. 

Europas Interesse: Zugang zu Rostoffen 

Das Kernproblem bleibt trotz aller beeindruckenden makroökonomischen Zuwachsraten und sozialpolitischen Maßnahmen zur Armutsreduktion jedoch in den meisten Ländern der Region gleich: Die wirtschaftliche Matrix der Staaten basiert im Wesentlichen – vielleicht mit Ausnahme Brasiliens und Mexikos – auf Rohstoffexporten: entweder im Bergbau oder Agrosektor. Selbst das 2010 in die OECD aufgenommene Chile fußt seinen wirtschaftlichen Erfolg und seine Stabilität vor allem auf die Preise für den Kupfer- und Agrarexport sowie einem von diesen Sektoren stark abhängigen Dienstleistungssektor.

Insofern ist nicht verwunderlich, dass sich auch auf der Seite Europas das wachsende Interesse an der Region, neben dem Export von industriellen Gütern, vornehmlich auf den Zugang zu diesen Rohstoffen konzentriert. Dies vor allem vor dem Hintergrund der zunehmend auch politisch fassbaren Konkurrenz zu anderen Ländern wie China. In der Region selbst jedenfalls wird dieser Zusammenhang hergestellt und die aus EU-Sicht schwieriger verlaufenden Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen mit dem MERCOSUR lassen sich auf die stärkeren Verhandlungspositionen der Mitglieds-Länder aufgrund dieser Konkurrenz zurückführen. Europa wird seine Interessen und Positionen keinesfalls mehr in der Dominanz durchsetzen können, wie es vor einigen Jahren noch möglich gewesen wäre. 

Die neue Stärke der lateinamerikanischen Staaten

Doch bei aller Kritik an dieser Dominanz, am undemokratischen und intransparenten Prozedere oder an bestimmten Verhandlungsinhalten bietet diese Situation neuer Stärke lateinamerikanischer Länder aus grüner Perspektive nicht unbedingt Anlass zur Hoffnung: Zwar bestehen beispielsweise einige der MERCOSUR-Länder noch im Streit um Patentvereinbarungen auf offeneren Regelungen und somit progressiveren Positionen, doch andererseits ist dies zugleich auch dem handfesten Interesse des Agrosektors geschuldet, keine zusätzlichen Kosten im Geschäft mit genetisch modifiziertem Saatgut tragen zu müssen. Vor allem im Vorfeld des Rio-Gipfels vertrat auch die argentinische Regierung eine aggressive Position gegen jegliche „grüne“ oder „Umweltkriterien“, die – aus ihrer Sicht – nichts weiter als zusätzliche nicht-tarifäre Handelshemmnisse darstellen würden; vor allem erdacht, um die Handelsinteressen des Nordens zu sichern. 

Wenngleich ein Teil dieser Rhetorik der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Konflikte in der Bergbau- und Sojaproduktion geschuldet war, etabliert sich hiermit dennoch eine paradoxe und kompliziertere Gemengelage an Interessen, die keine eindeutigen Zuschreibungen mehr zulässt und zugleich in vielen Ländern der Region zu innenpolitischen Spannungen führt zwischen den Gemeinden und Gemeinschaften, die von Rohstoffprojekten betroffen sind, und den Regierungen, die diesen Boom wirtschaftlich und sozialpolitisch weiterhin nutzen wollen. 

Die Herausforderungen des Rohstoffbooms meistern

So bleiben die möglichen politischen und Werte-Gemeinsamkeiten der europäisch-lateinamerikanischen Partnerschaft weiterhin eher diffus und es scheint, sowohl auf europäischer wie – trotz aller Unterschiede – auf lateinamerikanischer Seite, das Geschäft "Rohstoffe gegen industrielle Güter" ganz oben auf der unausgesprochenen Agenda beider Regionen zu stehen. 

Es wird also darauf ankommen, sehr genau und im Einzelnen zu verfolgen, wie sich diese neue Allianz zwischen Europa und Lateinamerika und ihre diskursiv auf Nachhaltigkeit und soziale Inklusion orientierte Zielsetzung tatsächlich in konkreten Vereinbarungen für eine andere Art von Investitionen niederschlägt. Die große Frage bleibt, ob und wie dies in den verschiedenen Sektoren der globalen Rohstoffwirtschaft möglich sein wird und wie eine neue, demokratische und transparente Governance die Herausforderungen dieses Rohstoffbooms meistern kann. Dies sind auch die zentralen Leitfragen eines Seminars des Cono-Sur-Büros in Santiago, das parallel zum Gipfel Akteuren aus Zivilgesellschaft und Politik aus der Region einen Raum für Reflektion und Debatte bietet.

Auf den folgenden Seiten bietet die hbs Analysen und Berichte von dem Gipfel in Santiago sowie Hintergrundinformationen zur Rohstoff-Debatte.