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Fluch der Könige – Literaten und ihre öffentliche Rolle

Lesedauer: 5 Minuten

Was politische Literatur jetzt sein könnte

9. Oktober 2008

Von Burkhard Spinnen

Eine wichtige Anmerkung vorweg: Das Folgende ist kein Manifest, geschweige denn das einer wie auch immer verfassten Gruppe; es ist lediglich eine Kurzfassung meiner Überzeugung.

Erstens: Schluss mit der Schizographie! Es gab einmal eine Art weißer Magie. Schriftsteller verwandelten die Reputation, die sie mit ihren Texten erworben hatten, in politische Kompetenz. Die Texte oftmals: Beiträge zum Projekt der Moderne, fixiert aufs Sprachliche, oftmals ohne kommunikative Oberfläche, manchmal hermetisch. Die politische Tendenz meistens: in Richtung Massen, in Richtung Revolution. Das war Schizographie: anders schreiben als reden als agitieren.

So etwas funktionierte - allerdings nur solange, wie Schriftsteller noch an die Menschen- und Gesellschaftsbilder politischer Gruppen andocken konnten. Man stand, ein stets widerständiger Zwerg, auf den Schultern des Parteiprogramms, schrie den Funktionären in die Ohren, biss auch habituell die Hand, die einen füttern und natürlich auch führen wollte. Tatsächlich galt einmal: "Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen."

Diese Zeiten sind vorbei

Man kann den Untergang der Ideologien begrüßen, den Verlust der Utopien wohl weniger. Die Parteien waren einmal die Buchhalter der Utopie; es war ein schönes und ertragreiches Spiel für Schriftsteller, den Funktionären ihre Gegenstände lauthals streitig zu machen. Jetzt sind mit den Ideologien auch die Utopien zerbrochen. Keine Podeste mehr, auf die Schriftsteller steigen und hoffen können, dass man ihre zarten Stimmen von hier oben besser hört.

An die Stelle der dauernden (und lähmenden!) Grundsatzdebatten ist eine Talk- und Umfragekultur getreten, die noch den kommunikativ alertesten Schriftsteller abhängt. Lange bevor er im Tagesgeschäft des Politischen mit ein paar leidlich zusammenpassenden Scherben älterer Menschenbilder aufwarten kann, ist bereits das übernächste Thema in der Mache. Jeder politisch ambitionierte Schriftsteller erscheint heute als eine Utopien-Ich-AG mit bestürzend langen Produktions- und Lieferzeiten; sind die Zurüstteile endlich fertig, hat das Großunternehmen "Sachfragen Inc." längst das Produkt gewechselt.

Darauf ist zu reagieren: mit einer klaren Absage an die Schizographie. Politische Kompetenz darf im postideologischen Zeitalter ausschließlich mit den Gebilden und innerhalb der Gebilde erworben werden, die Schriftstellern ganz eigen sind: mit und in literarischen Texten. Ich muss als Autor in Kauf nehmen, mich der Tagesdiskussion zu entziehen und nicht aufs Umfragekarussell zu steigen. Ich argumentiere nicht auf dem Fundament einer abstrakt literarischen Reputation, sondern aus dem Kontext meines Werkes!

Woraus zweitens folgt: Ich bin ein politischer Autor nach Maßgabe meiner Fähigkeit und Bereitschaft, mich auf die Diskussion der politisch-utopischen Elemente meines eigenen Werks einzulassen. Wer sich kommentiert, geht unter sein Niveau. - Ja, sicher. Aber wenn ich (und wer tut das nicht?) meinem Schreiben eine Intention unterlege, die über Unterhaltung und Konsum hinausgeht, dann sollte ich bereit sein, alles zu tun, diese Intention auch im politischen Diskurs sichtbar zu machen. Man kann und darf, ja man sollte "Schlagworte prägen, ohne die Idee zu verraten".

Was drittens sofort bedeutet: Dafür brauche ich Freunde

Keine Parteifreunde, von Amigos und Seilschaften ganz zu schweigen; sondern Literaturvermittler aller Art, die sich trauen, Kritik nicht als eine Stiftung Warentest zu verstehen, sondern (notfalls auch mit etwas gröberem Apparat) die politischen und gesellschaftlichen Themen aus den Werken zu destillieren. "Kritik ist eine moralische Sache." Das fehlt oft. Mein trauriges Lieblingsbeispiel aus den vergangenen Monaten: Viel zu wenig, wenn überhaupt, ist der großartige Roman "Gottesdiener" von Petra Morsbach als eine Studie über den Zustand der Resttranszendenz im christlichen Abendland gelesen worden. Die anrührende Biografie eines Landpfarrers - ja; aber auch ein exzellenter Beitrag zur ansonsten oft etwas materialarm geführten Debatte über unsere innere Position gegen- über dem islamischen Fundamentalismus.

So wie ich mir also von Autoren eine Bereitschaft wünschte, auch als Pamphletisten der eigenen Werke aufzutreten, so sehr, ja noch mehr wünschte ich mir eine Literaturvermittlung, die hier Beziehungen herstellt, Netze flicht, Kontexte aufbaut, ohne (ich betone: ohne) sich dabei der gegenwärtigen Kurzzeit-Talkkultur zu unterwerfen. Also nicht: Das Buch zum Skandal. Wesentliche Debatten bekommt man nicht, man muss sie machen, man muss, in allen Positionen, "Stratege im Literaturkampf" sein. Quote darf hier nicht gedacht werden. "Das Publikum muss stets Unrecht erhalten und sich doch immer vom Kritiker vertreten fühlen."

Viertens, und das ist das Wichtigste: Zentral bleibt immer die Sprache

Literatur ist nicht der Ort, an dem die Probleme der Staatssekretäre gelöst werden; hier wird vielmehr die Probe auf den Stand ihrer Sagbarkeit gemacht. Ich wage ein Beispiel: Solange von einer Reform des so genannten Gesundheitswesens gesprochen wird, kann nichts Wesentliches gelingen. Würde irgendwo (und der Ort kann nur die Literatur sein) erkennbar gemacht, dass wir uns eigentlich um eine Neudefinition des Todes in Zeiten der Intensivmedizin zu bemühen haben, bestünde vielleicht eine Chance auf Gesetze, die mehr bewirken als einen vorläufigen Interessensausgleich von Lobbys.

Gute Literatur macht Proben auf die Sagbarkeit dessen, was sich, weil es so verschreckend neu ist, bislang nur in alten und verbrauchten Formeln fassen lässt. Im Wesentlichen ist politische Kritik Sprachkritik.

Ich schließe, die Abkehr von der Schizographie noch einmal erinnernd: Nach wie vor ist die ästhetische Anstrengung weder das Andere zur politischen noch eine bloße Beigabe dazu. Sie ist vielmehr notwendige Voraussetzung des Gelingens auch politischer Literatur. Denn Literatur gibt keine konkreten Anweisungen und stellt keine abstrakten Systeme auf, sondern liefert konkrete Beispiele - indem sie von ihnen erzählt. Und damit sind diese Beispiele nicht die eines gelingenden Lebens, sondern eines gelingenden Sprechens. In solch gelingendem Sprechen findet sich, was Welt und Mensch sein könnte, nicht auf Formeln mit kurzer Halbwertszeit reduziert. Es wird dort vielmehr erzählend vorgeführt, wie es sein könnte, wenn einen (glücklichen) Augenblick lang ein Mensch, ein Umstand oder eine Idee vom großen Ganzen als sagbar erscheinen.

Alle Zitate aus: Walter Benjamin: "Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen" (1927).

Artikel erschienen am 31.10.2006 in „Die Welt“. © Burkhard Spinnen