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Julius Malema und der "Lumpenradikalismus"

Julius-Malema-Poster auf Hauswand eines Armenvirtels.
Quelle: amhuxam/Flickr, Bildrechte: CC BY-NC-SA 2.0

23. Mai 2012
Achille Mbembe

In Armut geboren und aufgewachsen, ist Julius Malema ein eher atypischer und dennoch repräsentativer Vertreter seiner Zeit. Er verkörpert sowohl die Leidenschaften und die Widersprüche der Politik in der Zeit nach dem Kampf gegen die Apartheid als auch die dunklen und beunruhigenden Unterströmungen des „Lumpenradikalismus“, der in Südafrika eine lange Tradition hat.

Lumpenradikalismus bezeichnet eine politische Tradition des Ungehorsams - und zeitweise auch des Widerstands - bei der Fantasien von männlicher Allmacht, Kontrolle und Begierde eng mit einem gewissen "Kriegsneid" und einem fast unstillbaren Hunger nach Geld, Luxus und Frauen verwoben sind.

Er ist ein unmittelbares Produkt des Systems der Zuzugskontrolle, der Vertreibung bzw.  Umsiedlung einer Vielzahl von Menschen und der gnadenlosen, alles durchdringenden sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit, die die urbane Erfahrung der Schwarzen unter der Apartheid bestimmte.

Es handelt sich um eine Tradition, bei der pseudo-revolutionäre Wut mit verschiedenen Formen von Fürsorge gepaart erscheint. Der ANC hat diesen hybriden kulturellen und politischen Stil während des langen Kampfes für sich zu nutzen gewusst, gleichzeitig aber darauf geachtet, dass er dem Kernethos der Befreiungsbewegung nicht zu nahe kam.

Innerhalb dieser Tradition wird die Macht zuallererst auf der Straße errungen, bevor sie im privaten Bereich und in öffentlichen Institutionen umgesetzt wird. Mit auffälligem Auftreten und Verschwendungssucht versucht man die Erbärmlichkeit eines Lebens in Schimpf und Schande und sozialer Demütigung vergessen zu machen.

In der Politik geht es weniger um den beharrlichen, disziplinierten Aufbau einer staatsbürgerlichen Haltung als vielmehr um die Machtdemonstrationen des Mobs, wobei hier zunächst die eigenen Kohorten, Cliquen, Banden oder, schließlich, die Ansammlung von Menschen für „das Volk“ beziehungsweise „die Massen“ stehen.

Seit Gründung des ANC im Jahr 1912 war das wiederholte Auftreten der Jugend als einer Triebkraft innerhalb der sozialen und politischen Verhältnisse ein herausragendes Merkmal des Lumpenradikalismus in der südafrikanischen Politik. Der Aufstieg der Jugend, ihr Bestreben, der älteren Generation die Macht abzuringen und das Kommando zu übernehmen, fiel in der Regel mit Perioden eines intensiven Bruchs in der schwarzen Lebenserfahrung und der damit verbundenen Orientierungskrise zusammen.   

Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts lassen sich vor allem drei solcher Phasen ausmachen: Die erste in den frühen 50er Jahren, als der ANC unter dem Druck der Youth League zunehmend radikale Positionen einnahm, die letztendlich die Wende zum bewaffneten Kampf herbeiführten. Die zweite war der Aufstand der Schülerinnen und Schüler in Soweto im Jahre 1976. In der dritten Phase, in den achtziger Jahren, schwächten die comrades den Einfluss des Apartheidstaats auf die Townships. Weite städtische Gebiete wurden für "unregierbar" erklärt. In vielen Townships wurde die Staatsgewalt durch volksnahe eigene Strukturen ersetzt, in einer dramatischen Gegenbewegung zur Apartheidstadtplanung wurden in alle Richtungen informelle Siedlungen und shacks (Baracken) errichtet.  

Heute lässt sich eine der Apartheid vergleichbare Phantasielosigkeit innerhalb der Partei, der Gesellschaft und der Kultur beobachten. Eine der größten Spannungsfelder in der derzeitigen südafrikanischen Politik liegt in dem Bewusstsein, dass die durch die neue Verfassung eingeführte demokratische Ordnung etwas Ungelöstes enthält: Sie hat zwar 1994 die "Revolution" abgewendet, die Apartheid aber nicht ein für alle Mal aus der sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Landschaft verbannt.

Für die historischen Protagonisten in dem südafrikanischen Drama war diese Regelung weder ein endgültiger Sieg noch eine vernichtende Niederlage. Auch siebzehn Jahre danach ist das Land noch immer zwischen einer schwer zu bewältigenden Gegenwart und einer unwiederbringlichen Vergangenheit gefangen, zwischen Dingen, die nicht mehr, und Dingen, die noch nicht sind.

Diese Patt-Situation bezeichnet paradoxerweise genau das, was allseits als „das Wunder von Südafrika“ gefeiert wurde. Es ist diese anhaltende Unentschiedenheit, die Malema zerreißen möchte. Im Versagen der südafrikanischen Regierung und Gesellschaft, kreativ auf dem außerordentlichen Bruch beziehungsweise dem Versprechen von 1994 aufzubauen und der schwarzen Armut radikal entgegenzutreten, sieht Malema seine politische Chance.

Sein Aufstieg macht deutlich, in welcher akuten Gefahr Südafrika sich derzeit befindet: schwindende Perspektiven für viele Menschen, zunehmende Polarisierung im Rassengefüge, strukturelle Unentschlossenheit im eigentlichen Herzen der Politik und Re-Balkanisierung von Kultur und Gesellschaft. Diese Trends unterminieren eindeutig das zerbrechliche Konstrukt von Gemeinsamkeit, das in Südafrika über mehr als anderthalb Jahrzehnte sorgfältig aufgebaut worden war, und sie schwächen die Aussichten für eine nichtrassische Gesellschaft.

Die Anzeichen der Entropie lassen sich klar erkennen. Das zeigt sich besonders dramatisch in den Dilemmata der Arbeitslosigkeit und der Ausdehnung von Zonen der Verwundbarkeit auf allen Schauplätzen des täglichen Lebens. Zwar hat sich eine solide schwarze Mittelschicht herausgebildet, gleichzeitig wächst aber auch die Gruppe derer, die nicht benötigt werden, die auf Dauer gar keine Aussicht haben, jemals vom Kapital ausgebeutet zu werden. 

Gesellschaftliches Vakuum

Die meisten schwarzen Jugendlichen können sich kaum über Wasser halten. Sie werden wahrscheinlich niemals eine Festanstellung bekommen, noch in irgendeiner Form der Arbeiterschaft angehören. In einer Sphäre vereitelter Möglichkeiten verhaftet, schaffen sie es, gerade so zu überleben oder einfach nur durch den Tag zu kommen – in einer der nach Hautfarben ungleichsten Gesellschaften der Welt, in der selbst schlechte Jobs nur für wenige angeboten werden, in der es so viel Wut und fast keine Zukunft gibt.  

Für diejenigen, bei denen es um das nackte Überleben geht - und die nur zu gut wissen, was es heißt, gesellschaftliche Demütigungen hautnah zu erleben - füllt Julius Malema die Lücken, die Enttäuschung und Misserfolg hinterlassen haben. Und das in einer Zeit, in der das Versprechen der Befreiung privatisiert worden ist und in der die in der Verfassung verankerten Ideale von Gegenseitigkeit und Gemeinschaft nicht die Aufmerksamkeit und Beachtung finden, die ihnen zustehen.

Malemas Kurswert steigt in dieser Landschaft des Verfalls: dem ideologischen Bankrott der offiziellen Linken, dem auf Hautfarbe und Klasse basierenden Narzissmus der größten Oppositionspartei, einem ANC, der von Korruption und Habgier durchdrungen ist, innerlich zerrüttet durch brutale Machtkämpfe und einer tödlichen Kombination von räuberischem Instinkt und geistiger Leere.

Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, reichen technokratische Predigten über „Dienstleistungen“ und „menschenwürdige Arbeitsplätze“ nicht aus. Technische Management-Überlegungen werden durch die Rehabilitierung des Politischen ergänzt werden müssen, das heißt, die bewusste Auseinandersetzung mit den grundlegenden Entscheidungen, die das Wesen des südafrikanischen Experiments in der Demokratie maßgeblich bestimmen: Fragen zur Wiedergutmachung des historischen Unrechts, zum Verhältnis zwischen persönlicher oder kollektiver Versehrtheit und zu den weiter reichenden Fragen von Gleichheit und Würde, zum Privateigentum und dem Recht auf einen fairen Anteil am Reichtum der Nation, zur Abkehr von Orientierung an der Haufarbe und Freiheit von Rassismus.

Das weitverbreitete Versäumnis, diese grundlegenden Dilemmata anzusprechen, hat eine moralische Leere geschaffen, in der sich Julius Malema wie ein Fisch im Wasser bewegt. Die Stoßtruppen, die er in Vorbereitung auf den Tag X um sich geschart hat, sind voller Gefangener der Elendsviertel, anfällige Subjekte, die von unserer ungleichen sozialen Ordnung ausgespuckt werden, dazu verurteilt, die soziale Trauerarbeit der Gesellschaft inmitten erdrückender Armut zu leisten.

Ihnen allen gaukelt er ein nicht umsetzbares Trugbild vor: Verstaatlichung der Minen, Land-Enteignung ohne Entschädigungszahlungen, wirtschaftliche Emanzipation und Kontrolle über Ressourcen, die ihnen nicht gehören.

Wenn das demokratische Projekt in Südafrika überhaupt eine Zukunft haben soll, muss die Politik mit dem depressiven Realismus brechen, der so bezeichnend ist für das Leben nach der Apartheid.

Sie sollte nicht einfach nur das weit verbreitete Gefühl der Niederlage aufnehmen. Sie muss allen wieder eine Zukunft eröffnen. Radikaler gesprochen, geht es um die bewusste Anstrengung, nach einer langen Geschichte verschwendeter Möglichkeiten das Leben und das Menschliche zurückzugewinnen.

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Der in Kamerun geborene Philosoph und Politikwissenschaftler Achille Mbembe lehrt und lebt seit einiger Zeit in Südafrika. Er hat dieses Vorwort für das Buch "An Inconvenient Youth" von Fiona Forde am 28. Juli 2011 abgeschlossen.