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Widerstreitende Identitäten in der nationalen Befreiungsbewegung und die „Sünden der Amtsinhaber/innen"

(…) Was in Südafrika nicht genügend berücksichtigt wird, ist, dass die Programme für sozialen Wandel in eine fortschrittliche kapitalistisch geprägte Gesellschaft – und in eine kleine offene Volkswirtschaft –, unter den Bedingungen der Globalisierung implementiert werden müssen. Deshalb sollten wir bei der Einführung und Handhabung des sozio-ökonomischen Systems und den Programmen für sozialen Wandel in hohem Maße dieser Realität Rechnung tragen.

Diese Programme müssen in einer Gesellschaft bewerkstelligt werden, die sich bisher durch einen spezifische Form von Kolonialismus auszeichnete, bei dem die Kolonisatoren, respektive die Metropolen, und die Kolonialisierten, anders als bei anderen ehemaligen afrikanischen Kolonien, ein- und denselben geografische Raum einnehmen. Als Ergebnis müssen wir mit der Lebensweise in den einstigen Metropolen – in erster Linie mit dem Lebensstil der Weißen –, die ungemein tief verwurzelt und allgegenwärtig ist, mithalten. Diese Daseinsform beruht auf einem Lebensstandard, der im Vergleich mit der globalen modernen „Mittelklasse“, künstlich hochgehalten wird, was sich beispielsweise in Vermögenswerten, Anzahl der Autos pro Haushalt, Hausangestellten, Ausstattung an Schwimmbecken, dem Nacheifern des europäischen „Adel“ usw. äußert.

In ihrem Streben nach Gleichheit orientiert sich die schwarze Mittel- und Oberschicht an dem Lebensstandard der Weißen in den Großstädten, wobei viele versuchen, diesen auf einen Streich zu erreichen. Die weltweit verbreitete Kultur der Kurzfristigkeit in der Geschäftsabwicklung und beim eigenen materiellen Aufstieg kommt dabei noch erschwerend hinzu.

Die Kombination dieser Faktoren hat zum Teil zu dem hohen Grad an Ungleichheit in der heutigen südafrikanischen Gesellschaft beigetragen. Das Maß der Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient) in Südafrika liegt bei 0,67; dies ist nach einigen Einschätzungen die zweithöchste Rate der Welt. In der Tat verdienen die 20% der ärmsten Südafrikaner 2,3% des nationalen Einkommens, während die reichsten 20% etwa 70% des Volkseinkommens erwirtschaften.

Diese Dynamik der Ungleichheit schließt die Tatsache mit ein, dass sich die Klassenstrukturen in der südafrikanischen Gesellschaft seit 18 Jahren Demokratie massiv verschoben haben. Einer Studie über die südafrikanische „Mittelklasse“ zufolge [1] sowie an Einkommen- und Wohlstandindikatoren gemessen, ist die südafrikanische Mittelschicht von einem Bevölkerungsanteil von etwa 10% im Jahr 1994 auf etwa 20 % bis 2011 angestiegen.

Dies ist vor allem auf den Zugang der schwarzen Mehrheit zu Bildung und qualifizierter Beschäftigung, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und wirtschaftliche Stärkung insgesamt zurückzuführen – Entwicklungen, auf die wir stolz sein können. Diese wurden desweiteren durch die Prämien, die die Gesellschaft aufgrund des Fachkräftemangels ausgesetzt hat, beschleunigt. Das größte Anwachsen der Mittelschicht wurde unter den Afrikanern verzeichnet, deren absolute Zahl sich seit 1994 mehr als verdoppelt hat.

Die neue Mittelschicht als Quelle für "Sünden"

Derartiger Fortschritt – und die Tatsache, dass die schwarze Mittelschicht nachweislich die Begünstigten des Projekts des sozialen Wandels sind, sollte natürlich gefeiert werden. Was aber hat das für eine Relevanz für die „Sünden der Amtsinhaber“?

Die fundamentale Bedeutung dieser sozialen Dynamik besteht darin, dass die sich verändernden Klassenstrukturen innerhalb der schwarzen Gemeinschaft, das Aufkeimen einer schwarzen Mittel- und Oberschicht, eine direkte oder indirekte Folge des politischen Projekts selbst sind, beziehungsweise erst dadurch möglich wurden, dass durch die politische und öffentliche Sphäre überhaupt die Gelegenheit dazu geschaffen wurde.

Diese Mittel- und Oberschicht, die überwiegend aus Mitgliedern der ersten Generation besteht, strebt zu Recht den artifiziell hohen Lebensstandard der Metropolen an und will ihn fortführen. Dies ist ein legitimes Bestreben, weil es seinen Teil zum Plan des gesellschaftlichen Wandels und der Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß beiträgt. Doch anders als ihre weißen Pendants können sich die Mitglieder dieser aufstrebenden Mittelschicht nicht auf historisch gewachsenes Vermögen berufen und müssen große Nuklearfamilien und eine ausgedehnte Verwandtschaft unterstützen.

Als Folge davon sind sie oftmals hoch verschuldet und/oder auf Gönner angewiesen. Nachdem sie ihre Zehenspitzen in diese Lebensweise des Überflusses gestreckt haben, jedoch ohne den historisch gewachsenen Besitz der weißen Mittel- und Oberschicht, versuchen einige auf Biegen und Brechen an diese Quellen zu gelangen.

Der Aufstieg zu den höher gelegenen Sprossen der sozialen Leiter geschieht durch eine Vielzahl von Kanälen, darunter:

• Vorstandsposten im öffentlichen Dienst;
• gewiefte, mit allen Wassern gewaschene Arbeitslose, die in politischen Führungspositionen auf kommunaler Ebene unterkommen und durch einen Federstrich zum Stadtrat werden, wodurch sie in die Mittelschicht aufsteigen (natürlich wollen dann wiederum andere gewiefte Ihresgleichen, sie durch „phuma singene“, in etwa „Weg da, jetzt sind wir dran!“-Methoden ablösen);
• der Studentenrat der Universitäten, wo neben den Vergünstigungen der SRC (Student Representative Council)-Posten, nun auch von einigen Studentenführern ein Sitz in der universitären Ausschreibungskommission eingefordert wird, um Schmiergelder einstreichen zu können, und
• Gewerkschaftsführer, die für die Rentenfonds in Milliardenhöhe von Rand verantwortlich sind, und sogar auf Betriebsebene, wo gewerkschaftliche Vertrauensmänner bei Catering und anderen Service-Angeboten mitmischen.

Zwar ist eine neue Generation von jungen schwarzen Fachkräften und Unternehmer/innen herangewachsen, die allein aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihres Unternehmergeistes auf der sozialen Leiter aufsteigen und dabei keinerlei Bevorzugung aufgrund ihres Benachteiligten-Status einfordern; sie sind aber immer noch eher die Ausnahme als die Regel.

Fehler im System

Die Position des aufstrebenden Mittel- und Oberschicht ist in erster Linie schwach und unsicher. Die Folge davon ist, dass im Gegensatz zu der Mittelschicht gewachsener „reifer“ Klassengesellschaften, die Daseinsberechtigung dieser aufstrebenden Schichten weniger in der Berufsehre, dem Engagement im Diskurs um eine nationale Vision oder in der Gestaltung eines positiven Wertesystems für die Gesellschaft zutage tritt, sondern vielmehr von Überlebenskampf und dem Erklimmen der steilen sozialen Aufstiegsleiter motiviert ist.

Daraus rühren auch weitestgehend die „Sünden der Amtsinhaber/innen“. Bei den Parteien gedeihen innerparteilicher Klientelismus und Korruption. Der politischen Mitte gelingt es nicht, die lokalen Unterhändler zu Wählermassen auszuweiten und das Fußvolk, das sie bräuchte, um genug Stimmen zu gewinnen, zu mobilisieren. Auf Stimmenfang erhält selbst die Stimme eines Konferenz-Delegierten ihren Preis. Und um einen Vortragenden bei einem kürzlich abgehaltenen Gauteng-Workshop für politische Bildung zu zitieren: eine giftige Führung erzeugt giftige Mitglieder, von denen sogar einige finanzielle und sonstige Anreize verlangen, um entsprechend abzustimmen.

Unter den Aufrührern in der Gesellschaft entwickelt sich eine nationale Politik der bequemen Opferrolle, bei der mit radikalen Parolen Inkompetenz und Gier kaschiert werden sollen. Die Logik, die dahinter steckt: weil du unterdrückt worden bist, steht es dir zu, Chaos zu verbreiten, zu rauben und zu plündern; und wenn dich jemand dafür zur Rede stellen will, schreist du einfach: Rassismus!

(...)

Wir müssen uns darüber Gedanken machen, ob sich die Frage nach den „Sünden der Amtsinhaber“ noch lediglich als interne organisatorische Angelegenheit abhandeln lässt! Schon alleine deshalb, weil neben der oben genannten Klassendynamik, diese Sünden negative Auswirkungen auf die Kosten für Infrastruktur und die Zahlungen für bereits geleistete Arbeit haben, auf die Ausgabe von Schulbüchern für die Kinder der Armen; die Qualität der vom Parlament verabschiedeten Gesetzgebung und die Gehaltsforderungen der unteren Mittelschicht im öffentlichen Dienst, die die Verringerung der Lohnunterschiede und ihren Anteil an den Privilegien der „Mittelklasse“ einfordern.

Wir müssen darüber nachdenken, ob wir die Existenz eines starken und autonomen Privatsektors – Teil der Hinterlassenschaft der spezifischen Form von Kolonialismus [2] – nicht positiv bewerten sollten. Dies aus der Perspektive der Diskussion über die „Sünden der Amtsinhaber“, in Hinsicht darauf, dass dieser private Sektor eine alternative Plattform für den Zuwachs in der „Mittel-und Oberklasse“- bietet. Von daher könnte, anders als in vielen anderen ehemaligen Kolonien, die Anfechtung der politischen Macht in diesem Fall weniger auf eine Frage von Leben und Tod hinauslaufen.

Daraus resultiert die Frage, ob es – außer bei ethischen Angelegenheiten – nicht im Sinne des strategischen Eigeninteresses der politischen Amtsinhaber ist, dass diejenigen, die von parteipolitischen Bühne abtreten, eine Beschäftigung in der Privatwirtschaft finden, darin erfolgreich sind und damit keinen Grund haben, eine „phuma singene“, „Weg da, jetzt sind wir dran!“-Lösung anzustreben.

Nachdem wir nach so vielen Jahren die 1-Million-Marke an Mitgliedern erreicht und überschritten haben, sollte sich der ANC vielleicht einmal fragen, ob er nicht 2012 –2022, die ersten zehn Jahre seines beginnenden zweiten Jahrhunderts, zum Jahrzehnt des Kaders erklärt, damit wir mit der Aufräumarbeit anfangen und die Qualität verbessern können!


Joel Netshitenzhe ist Direktor des Mapungubwe Institute for Strategic Reflection (MISTRA) in Johannesburg und Mitglied des Nationalen Exekutivkomitees des ANC.

Der gekürzte Beitrag geht auf eine Rede zurück, die Netshitenzhe auf einer Veranstaltung der Young Communist League gehalten hat. Der vollständige Text ist auf der Webseite des Instituts zu finden.

Fußnoten:
[1] Roger Southall: Political Change and the Black Middle Class in Democratic South Africa, in: Canadian Journal of African Studies, Vol.38, No. 3(2004), S. 521-542; Justin Visagie and Dorrit Posel: A reconsideration of what and who is middle class in South Africa. University of KwaZulu-Natal: Working Paper 249, October 2011)

[2] Dabei handelt es sich um die marxistisch-leninistische Lesart des Konflikts in Südafrika, die über die Komintern in die Programmatik der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP) gekommen ist.