Es ist ein Donnerstagnachmittag im Frühling. Ayaan ist heute früh gekommen und auf dem Küchentisch sind bereits die Dreiecke gestapelt, aus denen die Sambuus gerollt werden sollen. Elena und Hani schneiden die Zwiebel in Scheiben dünn wie Fingernägel, Tränen laufen ihnen über die Wangen. Neben dem Herd liegt frischer Koriander, den Maryam beim Rühren zum Fleisch gibt. In einer Ecke sitzen drei junge Frauen und teilen sich einen Teller Reis und Salat. Sie unterhalten sich angeregt über Suldaana, die genau wie sie ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia ist und die durch eine Bombe beinahe ihren Vater und ihre Brüder verloren hätte.
All diese jungen Frauen sind über das Meer hierher gelangt. Auf der Suche nach Frieden, den sie bisher nicht kannten, machten sie sich auf in die Wüste. In Italien angekommen stoßen sie auf ein Land, das sie nicht will und dessen Sprache ihre Mütter gesprochen haben. Sie tragen dicke Schleier und sind so alt wie der Bürgerkrieg. Sie erzählen mir von einem Mogadischu, das ich nicht kenne. Wenn sie über meine Heimatstadt sprechen, dann immer über Ruinen, über enge, stinkende Gassen, in denen sich nur Verrückte und Mörder wohlfühlen. Nur Ayaan hat das Zentrum der alten Hauptstadt sehen können, bevor sie aufbrach. Sie nutzte die plötzliche Stille, den Bruder an der Hand. Das war im Sommer 2006 und in der Stadt regierte die Union islamischer Gerichte. Würde es ihnen gelingen, inmitten der Flüchtlinge Spuren der ruhmreichen Vergangenheit zu entdecken, von der Vater und Mutter immer gesprochen hatten? Einer Vergangenheit, in der Somalia ein Staat gewesen war, mit einer Regierung und einem Gedächtnis.
Die Enkelinnen der Unabhängigkeit
Die Luft in der Küche ist feucht und heute findet kein Italienisch-Unterricht statt. Nasra gießt ein wenig gewürzten Tee in die Tassen und fragt mich, was aus unseren Treffen wird. Es sind viele Monate vergangen, seit ich begonnen habe, die Mädchen zu suchen. In den Unterführungen vom Bahnhof Roma Termini, wo ich Stunden in der Bar Momento verbrachte. Man hatte mir gesagt, dass viele sich dort trafen, um eine Tasse Latte macchiato zu trinken, wenn möglich. Im Momento schlagen alle die Zeit tot. Ich fand sie an einem Tisch mit anderen Frauen, Klamotten- und Balukaati-Verkäuferinnen. Waren das die Enkelinnen der Unabhängigkeit?
Wegen dieser Unabhängigkeit war mein Vater nach seinem Studium in Verona enthusiastisch nach Somalia zurückgekehrt, „weil das Land uns braucht“, wie er gesagt hatte. Von der Unabhängigkeit kenne ich nur die Lieder und das heilige Feuer der Jugend, das zwanzig Jahre Diktatur ausgelöscht haben. Meine Generation hatte nicht das Privileg, sie zu erleben, und was uns von unserem Land geblieben ist, ist das düstere Gefühl von Korruption und Konflikten. Diese jungen Frauen in abgetragenen und glänzenden Kleidern und mit feuchten, entrückten Augen stehen für mich für einen Abgrund von zwanzig Jahren, eine Verwahrlosung wegen der ich einfach nicht aufgeben konnte. Mich mit ihnen und Chiara, ihrer Italienisch-Lehrerin von der Sprachschule Asinitas, in einen Kreis zu setzen, hieß einen Unterschlupf zu schaffen, einen Raum der Neuorientierung und des Lernens. Zu diesem Raum ist auch die Küche geworden, wo Speisen und Gegenstände bekannte Namen tragen, pasta, insalata, bicchiere, forchetta klingen wie die somalischen Entsprechungen baasto, ansalaato, bikeeri, forgeeti. Daran sieht man, dass sich selbst in der Vertrautheit des häuslichen Herds Spuren der Kolonialsprache gehalten haben. Eines der Mädchen erzählte von ihrer Mutter, die frische Pasta machte und sie dann zum trocknen auf die Wäscheleine hing. Die italienische Küche war also auch ein bisschen somalisch!
An diesem Donnerstagnachmittag, von dem ich spreche, war der Unterricht zu Ende und man bereitete Sambuus e Bajiye für das Abschlussfest vor. Für dein Heimatland bist du ein wertvolles Gut, sangen Ayaan und Xaawa aus voller Kehle und erzählten Chiara, wie sehr dieses Lied sie an den Zauber ihres Landes erinnerte. Die Zeilen stammten aus Dhuulkaaga hooyo, einem Waddani-Lied, das zur Zeit der Unabhängigkeit geschrieben worden war.
Jetzt fragt ihr euch, warum ich euch von einer Küche, von einer Schule und einer Gruppe von Frauen erzähle, anstatt über den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit zu schreiben und politische und geschichtliche Themen zu behandeln. Die Wahrheit ist, dass ich nur so von meinem Land berichten kann. Mein Land ist ein Hohlraum, ein verbotener Ort. Es ist ein Loch im Bauch, ein Holzwurm, der das Herz meines Hauses aushöhlt. An diesem Donnerstagnachmittag, einem Donnerstag wie so viele andere in der Küche, haben Ayaan und Hani plötzlich gestritten. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an den Grund des Streits, so banal war er. Er war derartig banal, dass ich lachen musste. Aber der Streit wurde immer heftiger und die Stimmen von Ayaan und Hani wurden zu einem lebendigen Wesen, giftig und monströs mit mehreren Köpfen. Da habe ich begriffen, dass die Enkelinnen der Unabhängigkeit gar nicht über Teig und Mehl sprachen, nicht über Hackfleisch und Kardamom. Es ging um Tote, die ermordet worden waren, und ihre gequälten und verunstalteten Gesichter erschienen plötzlich zwischen den Töpfen und dem heißen Wasser, mitten zwischen uns, die wir in der Küche versammelt waren und stritten.
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Ubax Cristina Ali Farah (*1973) ist eine somalisch-italienische Autorin und Dichterin, ihr Vater ist Somali, die Mutter Italienerin. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1991 wuchs sie in Mogadischu auf. 2007 erschien bei Frassinelli ihr erster Roman Madre piccola (Kleine Mutter), der 2008 mit dem Premio Vittorini ausgezeichnet wurde. Sie schreibt für The Black Blog der italienischen Vogue und arbeitet mit der Zeitschrift Internazionale zusammen. Sie lebt in Rom und unterrichtet somalische Sprache und Literatur an der Università di Roma Tre.
Übersetzung: Antje te Brake