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Die holperigen Straßen der Freiheit

Weitab der Provinzhauptstadt Polokwane: Schild am Straßenrand der südafrikanischen Nationalstraße N1.
Quelle: Aprabhala/ Wikimedia Commons, Bildrechte: BY-SA 3.0

23. Mai 2012
Mamphela Ramphele
Die Freiheit hat meine Heimat, den Bezirk Bochum – beziehungsweise, wie es heute heißt, den Bezirk Senwabarwana – in der Nähe von Polokwane in der Provinz Limpopo noch nicht erreicht. Vergangen ist der Glanz und Ruhm Polokwanes als der Stadt, die Schauplatz einer erfolgreichen Palastrevolte innerhalb der herrschenden Partei war und in der der ANC sich als Instrument eines Entwicklung forcierenden Staates neu erfand.

Polokwane teilt das tragische Vermächtnis des gespaltenen Südafrika, in dem die Geographie der Apartheid entlang von Klassengrenzen nachgezeichnet wird – und das alles unter der Ägide der verschiedenen Nach-Apartheid-Regierungen. Im suburbanen nordöstlichen Teil der Stadt reihen sich wunderschöne Häuser aneinander, dort befindet findet sich auch der Tender Park [1], das monströs große und ethisch zweifelhafte Wohngebiet derer, die sich staatliche Aufträge unter den Nagel gerissen haben und ein Leben in Luxus führen.

Die westlichen Teile Stadt dagegen, dort, wo auch das Seshego Township liegt, sind immer noch arm, und es fehlt weiterhin an grundlegenden Infrastruktureinrichtungen. Auch heute noch strömen arme Menschen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die sowieso schon überbevölkerten, aber weiter wachsenden Shanty-Siedlungen.

Am Karfreitag brach ich zu einer Fahrt in den 95 Kilometer westlich von Polokwane gelegenen Ort meiner Geburt auf. Wenn man aus dem Zentrum von Polokwane hinaus nach Westen fährt und sich Seshego nähert, wird einem der immer sichtbarere Verfall der Stadt und insbesondere ihrer Infrastruktur deutlich. Die schöne Stadt meiner Kindheit mit ihren sauber gekehrten Gehwegen und bunten Gärten, in denen sich Vögel und Bienen tummelten, ist verschwunden. Müll, Lärm und kaputte Dinge sind die neuen Kennzeichen von Polokwane Marothong, dem Ort des frischen Brotes, wie wir ihn damals nannten. Musste, frage ich mich, die Aufhebung der Rassendiskriminierung zum Zerfall der Infrastruktur der Stadt führen?

Fortschritt für wenige

Folgt man der nach Simbabwe führenden Alldays Road D3398 weiter nach Nordwesten, fällt einem die Schönheit der mit Hügeln und Felsenbergen durchsetzten Gras- und Dornbuschlandschaft auf. Unterwegs überquert man den Wendekreis des Krebses und erreicht nach rund 70 Kilometern die Kleinstadt Mogwadi (ehemals Dendron), eine stolze, aufstrebende Gemeinde, in der vor allem Angehörige der schwarzen Mittelschicht leben. Mogwadi ist ein Beispiel für Incremental Housing auf dem Land, einem von der örtlichen Bevölkerung selbst betriebenen Wohnungsbau. Hier sieht man alles, von bescheidenen, aber ausreichenden Häusern über die typischen Mittelschichtgebäude bis hin zu den zweistöckigen Anwesen der Unternehmer und Tenderpreneurs.

So sieht der Fortschritt aus für Menschen, die in der glücklichen Lage und clever genug sind, die Chancen zu nutzen, die sich auftun, wenn man in den Behörden die richtigen Leute an den richtigen Stellen kennt. Ob man Erfolg hat oder nicht, hängt mehr davon ab, wen man kennt, als davon, was man kann.

In Mogwadi biegen wir links auf die Road D3332 Richtung Senwabarwana ab, Verwaltungssitz meines Heimatbezirks Bochum. In dem üppigen grünen Gras, das die schmale Teerstraße säumt, liegen Unmengen von Müll: Plastiktüten, Flaschen, Dosen, kaputtes Zeug. Die Gesichter der Menschen, die entlang der Straßen wohnen, wirken müde, besorgt und traurig. In Senwabarwana machen wir an einer Tankstelle Halt, tanken und schauen uns um. Dass sich der Straßenbelag in einem beklagenswerten Zustand befindet, ist unübersehbar. In einem Restaurant essen Ortsansässige und Leute, die aus umliegenden Dörfern zum Einkaufen gekommen sind, frittierte Nahrungsmittel, die nach ranzigem Öl riechen. Auf der anderen Straßenseite liegt das Wahlkreisbüro des ANC, das an diesem Karfreitag geschlossen ist.

Wir setzten unsere Fahrt in westlicher Richtung fort. Wenn ich an der T-Kreuzung gegenüber dem Helen-Franz-Hospital anhalte, in dem ich vor 63 Jahren geboren wurde, ist das immer ein sehr emotionaler Moment. Die aus Lehmziegeln erbauten Rondavels – Rundhütten –, in denen meine Mutter und Großmutter den Großteil des Dezembers 1947 auf meine Ankunft warteten, stehen immer noch stolz und fest – ein Tribut an den Einfallsreichtum und die Solidität der indigenen afrikanischen Architektur.

Ich darf gar nicht daran denken, wie viel besser wir alles hätten machen können, hätten wir dieses indigene Wissen genutzt und die armen Menschen in die Lage versetzt, auf ordentlich erschlossenen Bauplätzen mit ausreichender Wasserver- und Abwasserentsorgung ihre eigenen Häuser zu errichten. Oder daran, wie viele Jobs wir hätten schaffen können, wenn wir den jungen Menschen auf dem Land Ausbildungsplätze im Handwerk angeboten hätten. Damit hätten sie später Unternehmen gründen und den ländlichen Gemeinden ihre Dienste beim Ausbau und Unterhalt ihrer Infrastrukturen anbieten können.

Die phantasielosen, im Rahmen des Reconstruction and Development Programme (RDP) errichteten Streichholzschachteln beleidigen nicht nur die Würde der Armen, die in ihnen wohnen müssen, viele von ihnen taugen schlicht nicht als Unterkünfte für Menschen. Wie der südafrikanische National Home Builders’ Registration Council Anfang 2011 berichtete, wurden von den bis dahin errichteten drei Millionen RDP-Häusern 2,6 Millionen Einheiten (87 Prozent) als hochriskante Gebäude eingestuft. Die Kosten zur Behebung der Schäden und Mängel an diesen Häusern veranschlagte der NHBRC mit 59 Milliarden Rand.

Ich darf mir gar nicht vorstellen, was 59 Milliarden Rand bewirkt hätten, wäre das Geld in den inkrementellen Wohnungsbau investiert worden. Daran zeigt sich einmal mehr, dass die Korruption eine Steuer für die Armen ist:  Ihnen werden grundlegende staatliche Dienstleistungen vorenthalten, weil das Geld in die Taschen derer umgeleitet wird, die den Staat übernommen haben.

Jenseits der Macht

Wir biegen nach links ab auf die Straße, die uns bis nach Uitkyk No. 1 führt, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Auch diese Straße erzählt eine Geschichte von dem Verrat an unseren Freiheitsidealen. Wie oft schon wurde versprochen, diese Straße, die das Knobel- und das Helen-Franz-Hospital miteinander verbindet, zu asphaltieren, damit die Krankenwagen Patienten leichter zwischen den beiden Krankenhäusern hin und her transportieren können. Zudem ist die Straße eine wichtige Verbindung für den Zugang der ländlichen Bevölkerung zu Märkten für Waren und Dienstleistungen. In den vergangenen zehn Jahren haben ich weiß nicht wie viele Tenderpreneurs Aufträge zum Ausbau der Straße erhalten – geteert worden sind in der Zeit nicht einmal fünf Kilometer. Was ist mit dem ganzen Geld passiert? Wer zieht den für die Infrastruktur zuständigen Minister der Provinz und die für dieses Debakel, dieses nicht erfüllte Leistungsversprechen verantwortlichen Tenderpreneurs zur Rechenschaft?

Die Straße wird zusehends schlechter und wir legen die Sicherheitsgurte an. Wir biegen ab auf das, was früher einer Schotterpiste war und ins zehn Kilometer entfernte Uitkyk führt. Auf dieser Straße setzt man sein Leben und das seines Autos aufs Spiel. Nach den schweren spätsommerlichen Regenfällen ist die Straße gesprenkelt mit Pfützen und Schlammlöchern, um die herum die Fahrbahn zur Rutschbahn wird. Für die zehn Kilometer brauchen wir mehr als eine halbe Stunde.

Während wir langsam über die Straße holpern, fällt mir auf, wie viel Aufwand und Mühe die hier lebenden Menschen in den Bau ihrer kleinen Gehöfte gesteckt haben.

Noch die Ärmsten unter ihnen haben kleine Rondavels, die sich um hübsche Einfriedungen (malapa) gruppieren, was es den Haushaltsmitgliedern erlaubt, in Würde zu leben und einfache Einrichtungen gemeinsam zu nutzen. Viele der Häuser zeigen Anzeichen von inkrementellen Aus- und Anbauten. Die Leute auf dem Land sind sehr erfinderisch.

Was hier fehlt für den nötigen Aufbau der Infrastruktur, ist die Unterstützung der örtlichen Behörden und der Provinzregierung. Das größte Problem sind die fehlenden Straßen. Es gibt keine Müllabfuhr, und was mit den Abwässern passiert, bleibt jedem Haushalt selbst überlassen. Manche Häuser haben Strom, aber Anzeichen für einen planvoll betriebenen Ausbau mit Anschlüssen für vorausbezahlten Strom finden sich keine. Mein Bruder versucht seit einer ganzen Weile, einen Anschluss für Prepaid-Strom in sein Haus legen zu lassen, und Eskom [2] hat auch versprochen, in absehbarer Zeit ein entsprechendes Stromnetz zu installieren. Aber passiert ist nichts, und so warten wir eben.

Warten ist eine treffende Metapher dafür, was arme Menschen in ganz Südafrika über sich ergehen lassen müssen. Doch das Warten der Menschen auf dem Land findet jenseits der Sicht- und Hörweite der Leute in Machtpositionen statt, die eigentlich dafür zuständig wären, ihnen zu dienen. Proteste wegen »Nichtbereitstellung öffentlicher Dienstleistungen« in Uitkyk bringen nichts. Hier gibt es keine Medienbeachtung. Keine Würdenträger, die zu Besuch kommen. Also warten die Menschen.

Ich habe mit einigen der vielen jungen Menschen gesprochen, die hier geboren und aufgewachsen sind. Sie gehören zur verzweifelten, zur »Nicht in der Schule, nicht in der Ausbildung und nicht im Beruf«-Jugend.

In den 1990er Jahren gab es hier ein paar ländliche Entwicklungsprojekte, aber die sind längst eingestellt. Einkommen haben hier nur Alte, Wanderarbeiter im Ruhestand und junge Kinder, die staatliche Beihilfen bekommen. Freizeiteinrichtungen gibt es ebenso wenig wie Sportanlagen. Auch die örtliche Mittelschule Madwike, die für ihren herausragenden Mathematik- und naturwissenschaftlichen Unterricht bekannt war, befindet sich wegen schrumpfender Schülerzahlen im Niedergang.

Ländliche Kommunen wie zum Beispiel mein Geburtsort werden nur dann zu Wohlstand gelangen, wenn sie die Herausforderungen, vor denen sie stehen, als Chance für eine nachhaltige ländliche Entwicklung begreifen. Sie müssen nutzen, was sie im Überfluss verfügen – Humankapital.

Warum mobilisieren die lokalen Behörden die arbeitslosen Jugendlichen im Bezirk nicht? Sie könnten sie in Ausbildungsprogramme vermitteln. Damit würden sie dafür sorgen, dass angemessene Infrastrukturen nicht nur aufgebaut, sondern von ihren stolzen Bürgern auch unterhalten werden. Darum geht es doch bei der Freiheit: um das Gefühl des Mitbesitzes am eigenen Wohnort und das Bewahren der Umwelt, in und von der wir leben.

Den Ausgang der anstehenden Kommunalwahlen sollten wir danach bewerten, wie gut es uns gelingt, die Freiheit im Leben aller Menschen in Südafrika zu verwirklichen.

Dieser Artikel erschien am 15.5.2011 in der Sonntagszeitung "City Press".

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Die Ärztin Mamphela Ramphele wurde von der Apartheidregierung in einen kleinen Ort verbannt. Nach 1990 hatte sie verschiedene Führungsämter inne, u.a. an der Universität Kapstadt und in Washington als Direktorin bei der Weltbank. Heute ist die Unternehmerin eine scharfe Kritikerin sozialer Missstände und der vom ANC verfolgten Transformationspolitik.

Fußnoten:
[1]
Als „tenderpreneur“ wird in Südafrika eine Person bezeichnet, die sich an einer Ausschreibung (= tender) beteiligt und sie meist aufgrund guter politischer Vernetzung oder auch durch direkte Korruption, gewonnen hat. Die Provinz Limpopo mit ihrer Hauptstadt Polokwane ist dafür berüchtigt. Viele tenderpreneure sind so in kurzer Zeit reich geworden und stellen das auch gern zur Schau. Im Volksmund wird das Neureichenviertel in einer wohlhabenden Gegend von Polokwane deshalb „Tender Park“ genannt.

[2] ESKOM ist das quasi-monopolistische südafrikanische Stromversorgungsunternehmen.