Zwischen Fürsorge und Teilhabe - Zum Strukturwandel der öffentlichen und privaten Angelegenheiten












10. März 2011

Tina Hüttl



2010 ist der „Wutbürger“ das Wort des Jahres geworden. Auch wenn die Wahl des Ausdrucks durchaus umstritten ist, sie zeigt: Eine wachsende Zahl von Bürgern hat genug vom Streit der Parteien, von Entscheidungen, die sie nicht verstehen - kurz von „denen da oben“. Ob gegen Schulreform, Bahnhofsbau oder Windkraftanlagen - die aktiven Bürgerinnen aus der Mitte der Gesellschaft mischen sich ein, weil ihr Vertrauen in die Lösungskompetenz des Staates geschwunden ist. Dabei erschöpft sich ihr politisches Engagement nicht nur im Protest. Sie beschreiten auch eigene Wege, wenn sie etwa durch den Kauf von Öko-Produkten die Märkte beeinflussen, beim Fliegen freiwillig CO2-Ablass entrichten oder gegen die Abholzung Land kaufen.

Auf der anderen Seite regiert der liberale Staat heute in Kernbereiche des Privaten hinein, wo er eine Art «Versagen» diagnostiziert: etwa durch staatlich reglementierte Vätermonate in die Kinderbetreuung, durch die Vergaben von Gutscheinen in die Bildung. Die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem stehen keineswegs fest, sie sind Gegenstand politischer Auseinandersetzung und unterliegen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen.

Kann aber bereits von einem Strukturwandel gesprochen werden? Gibt es neue Formen der Interaktion und neue Grenzziehungen zwischen Staat, Öffentlichkeit und Privatsphäre? Und wie funktioniert bürgernahes Regieren? Über diese Fragen diskutierte die Grüne Akademie am 21. und 22. Januar auf ihrer Jahresversammlung im Residenz-Hotel am Deutschen Theater in Berlin. Dabei spannten Wissenschaftler, Praktiker aus Politik und Wirtschaft und interessierte Mitglieder thematisch einen weiten Bogen von der Familienpolitik über neue soziale Akteure hin zu einer veränderten, grünen Regierungskultur.

1. Zwischen Fürsorge und Teilhabe - Zum Strukturwandel der öffentlichen und privaten Angelegenheiten

Den Auftakt bestimmte die Familienpolitik. Auf ihrem Feld wurden die Veränderungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit als erstes beschrieben. Sandra Seubert, Politikprofessorin an der Goethe-Universität in Frankfurt, beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit dem Wert der Familie und der Frage, inwiefern sie gesellschaftlich auch ein Gerechtigkeitsproblem darstellt. Der Soziologe Hans Bertram mit Lehrstuhl an der Humboldt-Universität Berlin ging anschließend auf den Wandel der Familie und ihre neuen Risiken ein.


Familie verhindert soziale Gerechtigkeit

Ausgangspunkt von Seuberts Überlegung war das paradoxe Element der Familie: Obwohl sie für das Funktionieren der Gesellschaft einen unumstritten Wert habe, stelle sie gleichzeitig ein Problem der Gerechtigkeit dar. Familie sei eine Keimzelle sozialer Benachteiligung. Diese gegenläufigen Tendenzen spiegelten sich auch in der politischen Debatte wider: Einerseits würde ein größerer Schutz der Familie gefordert, die durch Individualisierung und Flexibilisierung unter immer größeren Druck gerate. Andererseits gebe es Bestrebungen, den Einfluss der Familie zu verringern, um die familiär bedingten, ungleichen Startbedingungen von Kindern zu kompensieren. Familie stehe damit an der Schnittstelle zwischen Privat und Öffentlichkeit.

Um die verschiedenen Gerechtigkeitsaspekte der Familie analytisch zu trennen, definierte Seubert zunächst den Begriff Familie. Familie habe ein „intergenerationelles Merkmal“, sagte sie. Damit grenzte sie sich von einem weiten Verständnis ab, das Familie als einen langfristigen Zusammenschluss von Personen begreift, die in einem Haushalt leben und sowohl materielle als auch emotionale Ressourcen teilen (vgl. Iris Young). Die sozialen Nahbeziehungen könnten dabei durchaus vielfältige Formen haben (etwa Kleinfamilie, Alleinerziehende, Existenz leiblicher oder nicht leiblicher Kinder). Konstitutiv sei jedoch der Charakter einer Eltern-Kind-Beziehung. Nur sie gehe mit Asymmetrien und Abhängigkeiten einher und sei aufgrund der intergenerationellen Weitergabe für die Frage der sozialen Gerechtigkeit relevant. Denn nicht nur durch materielles Vererben reproduziere die Familie soziale Ungerechtigkeit. Auch gebe sie immaterielle Ressourcen wie Werte, Fähigkeiten und Kompetenzen weiter - Humankapital, das in der wissensbasierten Ökonomie für die Lebenschancen von Menschen immer wichtiger werde.


Das Waisenhaus als gerechtere Alternative?

Auffällig sei, dass liberal-egalitäre Theorien sehr viel besser begründen, warum Familie ein Gerechtigkeitshindernis darstelle. Dabei könne sie durchaus auch ein Element der Gerechtigkeit bilden, sagte Seubert. Die Frage: „Warum die Familie nicht abschaffen?“ finde sich bereits bei Platon. Unter den Zeitgenossen beschäftige sich John Rawls damit. Denn unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit wäre das Waisenhaus die gerechteste Lösung, weil es den sozialisatorischen Einfluss der Familie vollkommen ausschalte.„Dies kann jedoch natürlich nicht gewollt sein“, sagte Seubert und nannte mehrere Begründungsmodelle. Rawls etwa argumentiere damit, dass die familiäre Sozialisation zwar fraglos Lebenschancen beeinflusse, die gesellschaftliche Entwicklung unter ihrer Abschaffung jedoch als Ganze leiden würde. Diesen funktionalistischen Blickwinkel kritisierte Seubert als unbefriedigend. Er rechtfertige streng genommen nicht nur die Familie, sondern jede soziale Institution, die sich die Vermittlung von Werten und Tugenden zur Aufgabe macht.


Die Chance auf Liebe

Seubert begründete den Wert der Familie lieber mit den Philosophen Adam Swift und Harry Brighouse: Nur durch die Elternschaft ergebe sich die Chance auf eine einzigartige soziale Beziehung, etwa Sorge, Liebe und Aufmerksamkeit zu erfahren. Swift und Brighouse stellten aufgrund der gegenwärtigen Politiken jedoch die Tendenz fest, sich gegen Elternschaft zu entscheiden, wenn verschiedene Lebensziele gegeneinander abgewogen werden müssen. Statt Unterstützung zu bieten, machten es „die sozialen und politischen Arrangements ökonomisch Benachteiligten sehr viel schwerer als anderen, Familienwerte in ihrem Leben zu realisieren“, zitierte sie Swift und Brighouse.

Seubert plädierte daher dafür, die Gerechtigkeitsfrage von Familien in Hinblick auf sogenannte „Beziehungsgüter“ neu zu stellen. Das Konzept der Beziehungsgüter (also Güter, die sich nur innerhalb dieser bestimmten Beziehung realisieren lassen) helfe dabei, diejenigen Dimensionen familiären Lebens zu definieren, die Schutz beanspruchen.


Gerechtigkeitsrelevante Beziehungsgüter schützen

Als schützenswerte Güter nannte Seubert etwa Zeit und Raum für Eltern, damit sie gemeinsame Erfahrungen machen, Ideen austauschen, planen und Zuneigung und Identifikation erleben können. Andere mit Elternschaft zusammenhängende Praktiken genießen demgegenüber nicht denselben Schutz, weshalb es eine bewegliche Trennlinie zwischen gerechtigkeitsrelevanten und irrelevanten Gütern gebe, die stets neu zu diskutieren sei. „Ein Vermögen zu vererben oder Kinder in eine exklusive Privatschule zu schicken, ist nicht der Grund, warum wir die Familie einem öffentlichen Waisenhaus vorziehen.“


Mit Blick auf die familienunfreundlichen Arbeitsbedingungen und Flexibilitätsanforderungen, die der Realisierung von Familienwerten entgegenstehen, sprach Seubert sich abschließend nicht für weniger, sondern für mehr staatliche Interventionen und öffentliche Maßnahmen aus. Dennoch wollte sie nicht leugnen, dass sich aus dem Schutz von Beziehungsgütern auch ein Gerechtigkeitsproblem ergebe, etwa wenn das Maß zulässiger Parteilichkeit überschritten werde. „Gerechtigkeit dürfe nicht von uns verlangen, das eigene Kind wie jedes andere zu behandeln“, sagte sie. „Es gilt aber, bestimmte Grenzen der Bevorzugung einzuhalten.“

In der anschließenden Diskussion irritierte der gedankliche Ausgangspunkt vom Waisenhaus als gerechtester Lösung die meisten Teilnehmer_innen. Der Moderator Willfried Maier wies darauf hin, dass durch die vergangenen Jahre umfänglich über Fragen der Gerechtigkeit in der Familie diskutiert worden sei – insbesondere in einer feministischen Perspektive, die aber in der hier vorgestellten Perspektive der „Gerechtigkeit der Familie“ keine Rolle spiele. Der im Vortrag angelegten Definition des Familienbegriffs wollten verschiedene Kommentator_innen nicht folgen. Otto Kallscheuer etwa empfahl, bestimmte Güter – sofern sie erst in und durch die soziale Beziehung einer Familie entstehen können – der Frage nach einer gerechten Verteilung zu entziehen. Anstelle des Extremfalles Waisenhaus wurde auch diskutiert, ob „Mischformen“ wie Kindertagesstätten und Ganztagsschulen eine chancengerechtere Gesellschaft herstellen können oder ob sie als Bevormundung zu beurteilen seien. Sandra Seubert sprach sich eindeutig für die Förderung von staatlichen Einrichtungen aus, die die Polarisierung der Gesellschaft aufhalten können. Zugleich sei hier die Qualitätssicherung das Kernproblem.

Sybille Volkholz wies darauf hin, dass trotz der Vielfalt von Beziehungsformen die übergroße Mehrheit weiterhin in traditionellen Kleinfamilien lebe, was doch auch eine Aussage über in der Gesellschaft gelebte Wertvorstellungen transportiere. Während ein Diskutant bezweifelte, ob die „intergenerationelle Sorge“ als Definitionsmerkmal tauge, da sich in vielen Familien keiner wirklich um den anderen kümmere, hielt es ein anderer geradezu für zentral, den  Familienbegriff an den Generationenbegriff zu koppeln, da erst die intergenerationelle Weitergabe gesellschaftliche Gerechtigkeitsfragen berühre.   

Zuletzt wurde noch die Frage der zulässigen Parteilichkeit fürs eigene Kind kritisch hinterfragt. Welche Rechte und Pflichten die Eltern haben und wo Grenzen gezogen werden, wird politisch kontrovers diskutiert. Die Abwägung, ob es zwar zulässig sei, das eigene Kind an einer Privatschule anzumelden, nicht aber, ihm durch Beziehungen einen Praktikumsplatz zu verschaffen, blieb umstritten.


Die Grenzen staatlicher Familienpolitik

Der Mikrosoziologe Hans Bertram wies zu Beginn seines anschließenden Vortrags auf die Grenzen des staatlichen Einflusses hin, indem er die DDR als Beispiel nannte. Sie habe sich große Mühe gegeben, die Bildungschancen von Kindern  - etwa zwischen bildungsärmeren Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern und protestantisch geprägten Regionen - anzugleichen, ohne dabei große Erfolge zu erzielen. Bertram sprach von einer „Widerborstigkeit“ der privaten Beziehungen gegenüber staatlichen Einflüssen. „Zu allen Zeiten haben Menschen private Lösungen gefunden, obwohl es staatliche Angebote gab.“


Die drei größten Risiken für Kinder

Unter den strukturellen Risiken, die der Wohlfahrtstaat jedoch auffangen könne, nannte er als erstes die relative Zunahme der Kinderarmut. Sie sei nicht nur in Deutschland feststellbar, sondern auch in anderen EU-Ländern wie Großbritannien und Schweden. Allerdings bekämpften Länder wie Schweden die Kinderarmut wesentlich effektiver, da sie in ihrer Wohlfahrtspolitik auf das Konzept des „adult workers“ setzten. Eltern, vor allem Mütter, würden wesentlich besser in die Arbeitswelt integriert, sie erzielten auch in Teilzeit ein ausreichendes Einkommen, da die Sozialversicherungsleistungen während der Kindererziehung vom Wohlfahrtsstaat übernommen werden. Ferner könnten sie auf qualitativ gute Betreuungseinrichtungen für Kinder zurückgreifen.

Als zweites Risiko für Kinder bezeichnete Bertram die Bildung. Ein Kind von Eltern aus der Mittelschicht bekäme in seiner Erziehung etwa 15 bis 20 Millionen mehr Sprachereignisse mit als ein Kind unterer Schichten. Diesen Riesenvorsprung könne kein noch so gutes Bildungssystem ausgleichen, sagte Bertram. Statt die Kinder den Eltern mittels Bildungsinstitutionen zu entziehen, müssten die Strategien bei den Eltern ansetzen, damit sich der Kontext der Kinder verändere. Modelle, bei denen Eltern motiviert werden, etwa ihren Kindern vorzulesen, dürften jedoch keinesfalls selektiv sein, sondern müssten für alle Eltern gelten, damit sie akzeptiert würden.

Als drittes Risiko nannte Bertram schließlich die großen regionalen Unterschiede in den Lebensbedingungen von Familien. In vielen wirtschaftlich abgehängten und bevölkerungsarmen Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt könne der Wohlfahrtstaat kaum mehr soziale Einrichtungen aufrechterhalten, die Familien unterstützen. Ein Problem, dass sich in Zukunft noch verschärfen werde und dringend gelöst werden müsse. Er warnte davor, in diesen Regionen allein auf die Eltern oder die Zivilgesellschaft zu setzen. Letztere brauche einen professionellen Kern, der finanziert werden müsse, um Ressourcen freizusetzen.


Die moderne Familie als Netzwerk

Bertram wies darauf hin, dass es eine sehr spezifisch deutsche Vorstellung von Familie gebe, die die Institution Familie stets in Gegnerschaft zum Staat betrachte. „Die Diskussion, ob etwa die Kindergartenpflicht den Eltern etwas wegnehmen, versteht man in den USA und Frankreich so nicht“, sagte er. In einem modernen Bild sei Familie als Netzwerk zu begreifen, die in einen Kontext eingebettet ist und der Hilfe anderer bedarf. Dies schließe nicht aus, dass es auch private Bereiche gibt, in die sich der Staat nicht einmischt.

Zuletzt ging Bertram noch auf die Problematik von Kindern mit Migrationshintergrund ein, deren Drop-Out-Quote aus den Bildungsinstitutionen besonders hoch sei. „Dies hat jedoch wenig mit den Kindern und Eltern zu tun, vielmehr mit der Migrationspolitik“. In der Vergangenheit seien vor allem bildungsferne Einwanderer angeworben worden. Im Vergleich zu ihren Eltern hätten die Einwandererkinder schon riesige Fortschritte gemacht. Besonders erfolgsversprechend seien diejenigen Strategien, bei denen die Bildung zu den Kindern gebracht werden sowie die Bildungsvermittler selbst Migrationshintergrund haben. Daneben könne auch mehr kulturelle Nähe über Bildungsinhalte geschaffen werden, wenn auch sie sich verändern.

Am meisten bewegte in der folgenden Diskussion die Frage, wie die Kinderarmut zu bekämpfen sei und wie eine Grundsicherung ausgestaltet werden könne. Bertram rechnete, dass eine Kinder- Grundsicherung etwa 100 Milliarden Euro koste, wenn man sich am gegenwärtigen Hartz IV Satz sowie am Betrag für die Bildungsgutscheine orientiere. Statt die Grundsicherung selektiv an Bedürftige zu zahlen, müsse diese aber ausdrücklich jedem Kind zukommen. Der Bedürftigkeitsansatz schaffe nur Diskriminierung. Die Finanzierungsfrage wollte Bertram am liebsten über das Steuerrecht lösen. Statt das Geld wie bisher über viele ausdifferenzierte Töpfe - etwa Kindergeld und Ehegattensplitting - an Familien zu verteilen, müsse es zu einem Finanzierungsinstrument zusammengenommen werden. Krista Sagerer dagegen warnte davor, das Steuersystem zu überschätzen. „Bisher schafft es den Gerechtigkeitsausgleich nicht“.

Als weiteres Thema diskutierten die Mitglieder, wie mehr Akzeptanz für Betreuungsangebote geschaffen werden könne. Sie gelinge nur, so Bertram, wenn die Angebote alle Eltern erreichen. Lange Zeit etwa galt der Kindergarten als Hort der Benachteiligten, allmählich gelinge es, ihn aus dieser Ecke herausholen.

Auf Nachfrage ging er auch auf das Schulsystem ein: Die herrschende „ständische Gesellschaft“ könne nur überwunden werden, wenn alle Kinder möglichst lange gemeinsam lernen. Hamburg habe gezeigt, dass dies ein schwerer Weg ist. Ebenso würden Privatschulen diesen Community-Gedanken mehr und mehr aushebeln.

Zuletzt kam noch der Hinweis, wie das von Bertram kritisierte Familienbild historisch zu deuten sei: Die Ablehnung gegen das „vergesellschaftete Kind“ sei eine Reaktion auf den  Nationalsozialismus sowie auch auf den Sozialismus. Einig waren sich die Diskutanten aber, dass eine klare Trennlinien zwischen privat und öffentlich bei Familien ein falsches Konstrukt sei. Eltern seien gar nicht in der Lage, ihr Kind alleine zu sozialisieren. Denn sie interagierten ganz zwangsläufig mit dem Staat, der Kommune und Zivilgesellschaft.


2. Strukturwandel: Zur Selbstermächtigung von Bürger_innen

Am zweiten Tag der Jahresversammlung lag der Fokus auf den Gestaltern des Wandels im Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Lena Partzsch, ehemalige Stipendiatin der Böll-Stiftung und Forscherin zu Global Governance an der Universität Greifswald, stellte zunächst das Konzept des „Social Entrepreneurs“ als einem neuen globalen Akteurstyp vor, der soziale Reformziele mit privaten Engagement und wirtschaftlichem Interesse verwirklicht. Um neue und alte Formen der Selbstermächtigung von Bürgern ging es auch im Vortrag von Peter Siller, Beiratsmitglied der Grünen Akademie und Vorsitzender der Grundsatzkommission von Bündnis 90/Grüne. Er fragte, inwiefern die Politik, und insbesondere die Grünen, auf Bürgerbewegungen wie Stuttgart 21 reagieren können und wie ein neuer demokratischer Regierungsstil zu beschreiben sei.   


Social Entrepreneurs als Weltverbesserer?

Adalbert Evers, der diesen Abschnitt moderierte, betonte eingangs die Notwendigkeit, den folgenden Beitrag in einen weiteren Rahmen zu setzen: die lange Geschichte, die auch in Deutschland Versuche haben, im Kontext sozialer Bewegungen wie der Arbeiterbewegung eigene sozialwirtschaftliche Projekte zu realisieren – von den Genossenschaften über die gemeinnützigen Unternehmen unter dem Dach von Wohlfahrtsverbänden, Beiträge aus der alternativen Ökonomie nach 68 bis hin zu den heutigen vielen Projekten und Initiativen des „Dritten Sektors“, in denen es neben Interessenvertretung und advocacy auch um Hilfen und Dienstleistungen mit einer wirtschaftlichen Dimension und einem unternehmerischen Ansatz gehe. Wirtschaften finde somit nicht nur  in den üblichen Formen des for-profit-Unternehmens statt und social entrepreneurship könne als ein neuer Zweig an diesem „Traditionsbaum“ gesehen werden, ein Ansatz, der neben den sonstigen Beiträgen aus der Zivilgesellschaft besondere Beachtung gerade von Seiten der Grünen verdiene. Lena Partzsch definierte zunächst die Merkmale des Social Entrepreneurs (S.E.), den sie als privaten Akteur bezeichnete, der sich aufgrund seiner materiellen Ressourcen (etwa Bill & Melinda Gates-Stiftung) oder seiner Prominenz (Sänger Bono) öffentlichen Angelegenheiten annehme. Ein dritte, im engeren Sinn als S.E. verstandene Gruppe bildeten diejenigen, die aufgrund einer neuen Idee soziale Innovationen und ein neues Wirtschaftsmodell durchsetzten. Das klassische Narrativ des S.E. sei das eines Einzelkämpfers. Als Beispiel nannte sie Muhammad Yunus, den Gründer der Grameen Bank, die Kleinstkredite an Arme vergibt. Ashoka, die größte Förderorganisation von S.E, unterstütze Akteure wie ihn mit materiellen und ideellen Mitteln. Partzsch kritisierte die von Ashoka gern verbreitete Botschaft „Das Individuum kann die Welt verändern“. S.E seien nur selten als Einzelkämpfer erfolgreich. Sie brauchten organisatorische Plattformen, Netzwerke und Koalitionen. Zudem handelten sie auch in privaten Interesse.


Die Grenzen des sozialen Unternehmertums

Ebenso bezweifelte sie, ob es sich bei den Aktivitäten des S.E. tatsächlich um eine neue Variante des Kapitalismus handle, die Soziales mit Unternehmertum verbinde. „Die wenigsten der von Ashoka ausgezeichneten S.E. verfügen über ein Business Modell“, sagte Partzsch.  Die Refinanzierung der öffentlichen Angelegenheiten sei bisher etwa der Grameen Bank gelungen, die eine Rückzahlquote für ihre Mikrokredite von 99 Prozent hat. Dabei skizzierte sie auch die Gefahren für ein erfolgreiches Modell wie die Grameen Bank, sobald sie sich über den regionalen Kontext hinaus ausweitet. Mittlerweile kooperiere die Bank mit transnationalen Unternehmen, etwa dem Konzern Veolia oder Telefongesellschaften. Mit dem „scaling“ gehe aber der lokale und soziale Bezug verloren, auch flössen die Gewinne mit den Kooperationen ab. Ebenso würden oftmals die strukturellen Gründe für die sozialen Missstände ausgeblendet. Armutsbekämpfung sei originär vor allem politisch zu lösen, eine Kommodifizierung dieser Aufgabe sei bedenklich.

Abschließend räumte Partzsch noch mit einem weiteren Narrativ des S.E. auf: Fallstudien zeigten, dass der S.E. nicht wie gerne erzählt, direkt in die Gesellschaft hineinwirke, sondern meist auch den Weg über den Einfluss auf die Politik nehmen. Es bestünden demnach also keine strikt getrennten Sphären. Der S.E. handle politisch, ohne jedoch im Gegensatz zum politischen Akteur demokratisch durch Wahl legitimiert zu sein. Seine Legitimation geschehe allein durch den Output seiner Ideen, ohne dass über diese im Konsens abgestimmt wurde. 

Die zwei wichtigsten Fragen in der anschließenden Diskussion waren, was am S.E. tatsächlich neu sei und wo bei solchen neuen Ansätzen die Grenze zum „social sponsoring“ oder gar „social washing“ von Unternehmen zu ziehen sei. Auch wurde diskutiert, wie das  soziale Engagement von S.E. in den vorhandenen Rahmen demokratischer Institutionen und Abstimmungsformen eingebracht werden könne.

Partzsch wies darauf hin, dass der Begriff des S.E. nicht geschützt ist und auch in der Forschungsliteratur keine klare Abgrenzung existiert. Etwa werde auch der Großunternehmer Krupp als S.E. bezeichnet. Als neu am Erscheinungsbild des S.E. bezeichnete sie die Dimension des jeweiligen Engagements, das - wie bei der Gates-Stiftung - im Einzelfall staatliche Beiträge in den Schatten stellen könne.

Am Beispiel der Grameen Bank bezweifelte Willfried Maier, ob ein Zinssatz von 20-30 Prozent als sozial zu werten sei. Er äußerte grundlegende Skepsis, wenn Unternehmen wie Veolia bei der Bank einstiegen. Ebenso sei Ashoka eng mit der Beratungsindustrie verbunden, ergänzte Lothar Späth. Dies ergebe eine klare politische Linie. Wie Politik jedoch auf diese neuen Formen der Einmischung reagieren soll, blieb eine offene Frage.

Sibylle Volkholz und Michael Daxner äußerten sich unterstützend zum Ansatz der social entrepreneurship „Wozu braucht er eine demokratische Legitimation?“, fragte Volkholz. Wie bei jedem normalen Unternehmer auch, entscheide allein, ob das Angebot von sozialen Unternehmen angenommen werde oder nicht. Sie verglich das Engagement mit dem der Dienste, Einrichtungen und Hilfen im Umkreis der Kirchen, die in der Vergangenheit soziale Bindungskräfte geschaffen hätten. Damals wie heute gehe es nicht um einen Ersatz des Wohlfahrtsstaates, sondern um seine Ergänzung. Daxner wies darauf hin, dass ganz Osteuropa ohne große social entrepreneurs wie etwa George Soros, der in Albanien das Schulwesen ausbaue, traurig aussehe. Es gehe um Gegenden „off und beyond the state“, und daher bestehe kein aktiver Konflikt zwischen solchen Ansätzen und demokratischer Staatlichkeit.

Nach wie vor blieben aber viele Widersprüche bestehen, resümierte Partzsch. Gefordert sei vor allem eine verbesserte Transparenz hinsichtlich der Geschäftsaktivitäten von social entrepreneurs, wie sie mittlerweile aus den Reihen der Engagierten selber gefordert wird (vgl. hierzu etwa die Transparenzinitiative bzgl. gemeinnützigen Organisationen, die Transparency International im Juni 2010 startete).


Eine Frage des Regierungsstils

Eine neue Runde eröffnete Peter Siller mit einem Ausblick, wie Politik auf  die Verschiebungen zwischen privat und öffentlich reagieren kann. Er sprach sich dafür aus, die Frage „Was ist gutes Regieren, vor allem mit dem Adjektiv grün?“ zunächst im kleinen Kreis zu diskutieren, bevor man an die Öffentlichkeit gehe. Es sei keine Hellseherei zu sagen, dass die Grünen in absehbarer Zeit wieder mehr Regierungsverantwortung, auch im Bund, übernehmen werden.

Im Vorfeld der Spitzenkandidatur von Renate Künast hätten die Grünen deshalb die Debatte  um „Green Governance“ eröffnet. Siller erklärte, warum er den Begriff für nicht geeignet hält, um einen neuen, grünen Regierungsstil zu beschreiben. Neben der Tatsache, dass ihn nur wenige verstehen, verweise er auf den supranationalen, nicht demokratisch strukturierten Raum. Er ziele darauf, effiziente Steuerungsmechanismen zu etablieren und Output zu generieren. Dabei kümmere er sich jedoch wenig um die Frage der Legitimation. Gerade sie sei aber mit Blick auf ein möglichst bürgernahes, transparentes Regieren das entscheidende Kriterium. Siller schlug daher vor, die Debatte unter dem Arbeitstitel einer „neuen demokratischen Regierungskultur“ zu führen.


Grüne Paradoxien

Um die inhaltlichen Aspekte dieser Regierungskultur zu klären, müsse man zunächst die neuen Bürgerproteste analysieren und fragen, wo sie sich mit grüner Programmatik decken. Siller beschrieb die Bürgerproteste als das stark in die Zukunft gerichtete Engagement einer gehobenen Mittelschicht, die den Staat nicht länger als Garanten sondern als Gefährder ihrer Stellung sieht. Die Protestbürger fürchteten, dass Großprojekte wie Stuttgart 21 oder die Schulreform in Hamburg zu Lasten ihrer Privilegien gehen. Im Unterschied zu früheren sozialen  Bewegungen haben sie kein übergeordnetes, gesamtgesellschaftliches Anliegen. Ferner dominiere bei den Protesten eine Technikskepsis und die Argumentation einer knappen Haushalts- und Finanzlage. Den Grünen käme innerhalb der neuen Bürgerbewegungen eine Doppelrolle zu: Einerseits könnten sie Teile der Bewegung binden. Andererseits seien auch sie von der dort herrschenden Parteienverdrossenheit betroffen. Siller hielt fest, dass die Partei selbst uneinig sei, wie sie damit umgehen solle. Sie könne nicht, wie in vielen Parteipapieren geschrieben, auf „schnelle, effiziente Entscheidungen“ drängen und gleichzeitig „mehr Mitsprache der Bürger“ versprechen.


Eine neue demokratische Kultur

Zur Frage, wie die Grünen künftig das Wissen und die Kraft der Bürgerinnen und Bürger für sich nutzen können, so dass sie sich beim Regieren auf demokratisch legitimierte Entscheidungen berufen können, machte Siller mehrere Vorschläge: Als Elemente einer demokratischen Regierungskultur nannte er die Belebung der Demokratie aus dem Parlament heraus („Parlamente als Auftraggeber von Regierungen“), die Erweiterung der demokratischen Akteure durch das Wahlrecht und durch Instrumente wie Bürgerhaushalte, eine verbesserte, durch die digitale Community gestützte Informationspolitik, neue Dialogformen und Anhörungen mit Bürgern sowie die Modernisierung und Professionalisierung der Verwaltung. Als letzten und wichtigsten Punkt für gutes Regieren wies Siller allerdings auf das Entscheidende hin: Gutes Regieren hänge an guten Konzepten, die die Zivilgesellschaft mitgestalten sollte und die vor der Regierungsbeteiligung feststehen sollten.

Wie die rege Beteiligung zeigte, war der Diskussionsbedarf bei diesem Thema besonders groß. Zunächst beschäftigte die Frage, ob es sich tatsächlich um eine neue Form der Bürgerbewegung handle. Rebecca Harms, die in Stuttgart dabei war, widersprach. Seit jeher gebe es Proteste gegen Infrastrukturprojekte. Ebenso sei die Art der Protestorganisation und Unterstützung schon seit den 70er Jahren bekannt. Neu sei allerdings, dass nun eine Partei existiere, die aus der Bürgerbewegung kommt. Die Grünen hätten daher den Wunsch, der „verlängerte Arm der guten Bürger“ zu sein.  „Das geht aber nicht, wenn man als Partei einen grundlegenden ökologische Umbau zum Ziel hat“, sagte sie. Nicht nur der Stil des Regierens müsse sich ändern, sondern Konzepte debattiert werden, wie die Megaprobleme inhaltlich anzugehen seien. Ralf Fücks dagegen konnte schon eine neue Qualität in den Bürgerprotesten erkennen. „Ohne dass die Bürgerschaft überzeugt ist, sind parlamentarische Entscheidungen heute nicht mehr durchsetzungsfähig“. Er sprach sich dafür aus, mehr politische Kompetenzen an die Zivilgesellschaft zu delegieren. Formen der Bürgerbeteiligungen müssten schon im Vorfeld bei den Planungsverfahren garantiert werden.

Willfried Maier wies in diesem Zusammenhang auch auf die Hamburger Erfahrung hin: Dort habe sich die Bürgerinitiative der Instrumente der direkten Demokratie bedient, wozu sie ja auch gedacht waren. „Allerdings richteten sie sich hier gegen uns“, sagte er. Die Grünen müssten die Reaktion der Öffentlichkeit künftig vorab mitbedenken, statt nur auf eine parlamentarische, mehr auf eine gesellschaftliche Mehrheit schauen.

Dagegen warnte ein Teilnehmer vor der Gefahr, allein auf die Beteiligung und Zustimmung der Bürger zu schielen. Neu an den Protesten sei nicht, wogegen sie sich artikulieren, sondern wer sich artikuliert. Die immer engeren Gestaltungsspielräume in der Politik erzeugen eine Frustration bei einer Klientel, die eine reaktionäre Politik wünscht. „Doch diese Bürgergesellschaft vertritt möglicherweise gar nicht, was den Grünen vorschwebt.“ Peter Siller stimmte ihm in seinem Schlusswort zu, indem er das Beispiel Hamburg nannte. Sicher hätten die Grünen hier auch einige kommunikative und handwerkliche Fehler in der  Schulpolitik gemacht. Im Kern halte er sie aber für richtig. Die Grünen müssten eben auch einsehen, dass sie für manche Projekte keine gesellschaftliche Mehrheit haben. Aus Angst, keine Position zu beziehen, sei jedoch weitaus gefährlicher. 

Abschließend bestand Einigkeit, dass die Debatte über Strukturwandelaspekte des Demokratischen fortzusetzen lohne. Ein nächster Termin hierfür ist die Sommerakademie im Juni 2011.