Interview mit Gregor Enste, Leiter des Regionalbüros Lahore, über die Kämpfe zwischen pakistanischer Armee und Taliban, Präsident Zardaris Rückhalt im Volk und die Sicherheit der pakistanischen Nuklearwaffen.
Frage: Nach Angaben der Regierung von Pakistan sind inzwischen mehr als 750.000 Pakistanis auf der Flucht - weit mehr als bislang geschätzt. Wie lange kann die Regierung - auch angesichts der zunehmenden Zahl der Opfer - noch auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen?
Gregor Enste: Die Unterstützung wird so lange anhalten, wie die Lage in den Flüchtlingscamps rings um Islamabad und Peschawar sich nicht zu einem sichtbaren Massenelend auswächst, das heißt, so lange, wie die Bevölkerung das Gefühl hat, dass das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und die pakistanische Regierung für ihre Landsleute sorgen und die Zahl der Todesfälle unter Zivilisten nicht ansteigt.
Doch das Elend ist zum Teil schon da, wenn auch kaum sichtbar. Wie so oft leiden die Frauen am meisten. Wir haben weit über 40 Grad im Schatten, und genauso wie die Frauen im öffentlichen Leben nicht sichtbar waren, sind sie es auch jetzt in den Lagern nicht. Die Flüchtlinge, verzeihen Sie den Ausdruck, hausen in diesen einfachen Zelten. Und was sich dort für Dramen abspielen, möchte ich mir gar nicht vorstellen.
Eines ist aber auch klar: Die Unterstützung der pakistanischen Bevölkerung wird in dem Moment aufhören, in dem der islamische Fastenmonat Ramadan beginnt. Das ist in drei Monaten. Die Militäraktion darf nicht zu lange dauern: Im heiligen Monat Ramadan kann man keinen Bürgerkrieg führen und kein Blut vergießen.
In den vergangenen Monaten gab es in der Regierung Pakistans teilweise heftige innenpolitische Konflikte. Sie war nicht in der Lage, sich auf eine gemeinsame politische Linie zu einigen. Welche Position vertreten die verschiedenen politischen Kräfte hinsichtlich der derzeitigen militärischen Offensive? Unterstützt die Zivilgesellschaft die militärischen Maßnahmen?
Die beiden großen Volksparteien, die Pakistan People’s Party der ermordeten Benazir Bhutto und des jetzigen Präsidenten Asif Ali Zardari und die Pakistan Muslim League stehen hinter der militärischen Offensive, und das ist zunächst einmal eine solide Basis. Von den religiösen Parteien hat sich bislang nur Jamaat-e-Islami dezidiert gegen die militärischen Aktionen ausgesprochen. Auch die Zivilgesellschaft - ebenfalls ungewöhnlich für Pakistan - steht geschlossen hinter dem Kampf gegen die Taliban. Sie unterstützt das militärische Vorgehen allerdings nur so lange, wie Regierung und Militär offen und transparent damit umgehen.
Vielen im Militär gilt Indien als der größte Feind: Die Taliban werden als „Reservearmee“ angesehen, die im Notfall gegen den Nachbarn Indien zur Verfügung stünden. Wie geschlossen stehen Armee und der Geheimdienst ISI hinter Präsident Asif Ali Zardaris „Großoffensive gegen die Taliban“?
Trotz der im Krieg immer zweifelhaften Wahrheiten muss man von offiziellen Verlautbarungen ausgehen, die besagen, dass die Armee im Moment „nur“ mit 14.000 Mann gegen die Taliban vorgeht. Das ist ein Bruchteil der gesamten pakistanischen Armee. Von den über 600 000 Soldaten stehen mit Sicherheit noch weit über 500 000 Mann in den gegen Indien gerichteten Standorten.
Das Militär und der Geheimdienst stehen nur so lange geschlossen hinter dieser Großoffensive, wie sie die politische Rückendeckung der Regierung, der Medien und der Parteien haben. Eben das hat die Armee gelernt - zu ihrem Leidwesen lernen müssen: Ohne Rückendeckung kann sie den Kampf gegen Al-Kaida, gegen Terroristen und gegen die Taliban, der in der pakistanischen Bevölkerung sehr oft als Krieg für die amerikanischen Interessen wahrgenommen wurde, nicht führen.
Wie ernst meint es Präsident Zardari mit seiner Schlacht um das Überleben Pakistans? Um ernst genommen zu werden, muss sich der Mann schleunigst wieder in Pakistan blicken lassen. Die Armeeoperation, der Krieg gegen die Taliban, ist angekündigt worden und hat begonnen, als Zadari am 6./7. Mai in Washington war. Der Präsident befindet sich seither schon über eine Woche auf dem Rückweg, war Anfang der Woche in London und will Ende der Woche nach Paris. Der Präsident muss sich in Pakistan bei seinem Volk blicken lassen, sonst nimmt man ihm die Entschlossenheit nicht ab, und sonst geht das ohnehin schon ramponierte Vertrauen in die Regierung und die Ernsthaftigkeit Zardaris endgültig verloren.
Die Taliban hatten im Swat-Tal unter anderem auch deswegen an Einfluss gewonnen, weil sie die landlosen Bauern im Kampf gegen die Grundbesitzer unterstützten. Wie kann die Regierung im Falle eines militärischen Sieges über die Taliban die Region auch langfristig sichern und eine Rückkehr der Extremisten verhindern?
Mit der These, dass die Taliban die landlosen Bauern im Kampf gegen die Großgrundbesitzer unterstützt haben, bin ich nicht ganz einverstanden. Es gibt keine Landlosenbewegung in Pakistan, es hat auch keinen Kampf gegen Grundbesitzer gegeben. Richtig ist, dass die Taliban teilweise die Klassenunterschiede ausgenutzt haben. Sie haben erst die Großgrundbesitzer vertrieben und dann das Land verteilt.
Nichtsdestotrotz: Was muss der Staat, was muss die Regierung tun, um die Gebiete wieder langfristig zu sichern? Sie muss schlicht und einfach wieder Autorität zeigen, das was man hier „The writ of the state“ nennt. Das heißt, als Behörde, als Regierung, als Polizei sichtbar sein, für Recht und Ordnung sorgen und nicht vor den Taliban Reißaus nehmen oder sich einkaufen lassen. Die Regierung muss dafür sorgen, dass die staatlichen Sicherheitsorgane ordentlich bezahlt werden und nicht der Korruption anheim fallen.
Entscheidend ist also, dass Präsident Zardari jetzt sichtbar Präsenz und Leistung zeigt, Schulen, und Polizeistationen schnellstens wiederaufbaut und gemeinsam mit dem UNHCR die über 750 000 Flüchtlinge aus dem Swat-Tal und aus der großen Malakand-Region zurücksiedelt.
Diese Regionen müssen aufgebaut, Arbeit muss geschaffen werden, damit die Menschen wieder eigenes Einkommen haben. Das alles ist nicht vorhanden - staatliche Daseinsvorsorge, so wie in Deutschland, fehlt. Der Staat muss für die Bevölkerung sorgen und nicht nur für eine kleine Eliten. So lange das nicht geschieht, sind diese Gebiete weiterhin anfällig für extremistische Verführungen und Anfeindungen.
Während die Regierung von Barack Obama - unterstützt von den Briten und Saudis - auf eine Art pakistanische Einheitsregierung gegen die Taliban drängt, bei der Zardaris Erzfeind Nawas Scharif ins Kabinett geholt werden soll, favorisieren einige US-Generäle einen Staatsstreich und ein Militär-Regime. Wie lange wird sich Präsident Zardari noch an der Macht halten können?
Präsident Zardari wird sich so lange an der Macht halten, wie er die Unterstützung seiner Pakistan People's Party hat. Noch kann er zudem auf das große Parteienbündnis zählen, das er mit zum Teil unlauteren Mitteln um sich geschart hat - ein Bündnis, das von religiösen Parteien über weitere Mitte-Rechts-Parteien bis hin zu seiner sozialistischen Partei reicht. Aber der Mann ist zutiefst unbeliebt, wenn nicht verhasst. Die Tatsache, dass er die Militäroperation von Washington aus angekündigt hat, um - wie es die Pakistani empfunden haben - bei den dortigen Verhandlungen um Finanzzusagen bessere Chancen zu haben, hat ihn noch angreifbarer gemacht. Er muss schleunigst nach Pakistan zurückkommen und sich in den Flüchtlingslagern sehen lassen, nur dann wird er als überparteilicher Präsident, als Landesvater wahrgenommen werden.
Die Machtübernahme der Militärs - ein neues Militärregime - sehe ich in Pakistan im Moment nicht. So schlecht ist die Lage noch nicht.
Den Taliban war es kurzzeitig sogar gelungen, bis in den Distrikt Buner vorzustoßen, nur hundert Kilometer bzw. fünf Autostunden von der Hauptstadt Islamabad entfernt. Die Blitzoffensive der Extremisten hatte international Besorgnis ausgelöst. Wie sicher sind die pakistanischen Atomwaffen wirklich?
Experten verweisen darauf, dass die Amerikaner das Sicherungssystem für die pakistanischen Nuklearwaffen mit entwickelt haben. Die Sicherungsverwahrung soll internationalen Standards entsprechen. In Pakistan gibt es rund hundert nukleare Anlagen, die zum Schutz vor einem indischen Angriff über das ganze Land verteilt sind, von der Wüste Belutschistans bis zum Arabischen Meer.
Pakistan bewahrt seine atomaren Sprengköpfe und die Trägersysteme getrennt auf. Die Extremisten müssten also erst die Fähigkeit und das Ingenieurswissen entwickeln, beide zusammenzuführen. Sollte ihnen das gelingen und sie Atomwaffen gegen ihre Feinde einsetzen können, müssen wir davon ausgehen, dass das in der üblichen Nukleardoktrin gültige Prinzip der Abschreckung für die Extremisten nicht gelten wird: Für diese Islamisten ist der eigene Tod, die eigene Vernichtung kein Schrecken. Die vollständige Kontrolle über die pakistanischen Atomwaffen hat das pakistanische Militär. Gefährlich wird es, wenn die Armee von islamistischen Kräften unterwandert wird.
Ein anderer Aspekt ist hier von Interesse: Kürzlich hat die US-Regierung ein neues Hilfspaket für Pakistan angekündigt. Geplant sind allein 497 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe sowie 400 Millionen Dollar Militärhilfe. Weiterhin beraten Senat und Repräsentantenhaus über 7,5 Milliarden Dollar, die über fünf Jahre hinweg an Pakistan ausgezahlt werden sollen.
Die US-Regierung muss dieses Hilfspaket an Bedingungen knüpfen: Eine Voraussetzung sollte sein, dass Pakistan amerikanischen Dienststellen und der Internationalen Atomenergiebehörde die Einvernahme pakistanischer Nuklearforscher, darunter des Atom-Händlers Abdel Quader Khan, gewährt. Bislang hat die Regierung Zardari dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten abgelehnt.
Abdul Qadeer Khan, der Vater der pakistanischen Atombombe, hat jahrelang - mit Billigung des pakistanischen Geheimdienstes - nukleare Blaupausen nach Nord-Korea, Libyen und in den Iran verkauft … vielleicht auch noch an andere. Trotzdem hat die pakistanische Regierung ihn aus dem Hausarrest entlassen. Völlig unklar ist, ob gegen Auflagen oder nur gegen Kaution.
Dieses Verhalten schürt weltweit Ängste und fördert den Verdacht, dass die Regierung Abdul Qadeer Khans kriminelle Netzwerke schützt. Die US-Regierung sollte in diesem Punkt unnachgiebig bleiben und keine Zugeständnisse machen.
Die Fragen stellte Karoline Hutter.
- Siehe auch: Karte der Konfliktgebiete in Pakistan (BBC News)