Kabul Mitte Januar. Ariana-TV zeigt Präsident Karzai dabei, wie er sieben weitere Minister des neuen afghanischen Kabinetts vereidigt. Parallel dazu läuft auf Tolo-TV die Live-Übertragung dessen, was sich draußen abspielt: Aufständische greifen den Regierungspalast und mehrere Ministerien an. Am Nachmittag ist die Situation unter Kontrolle, es hat viele Tote gegeben und ein Einkaufszentrum liegt in Schutt und Asche.
Die Szene ist paradigmatisch für das, was gerade in Afghanistan geschieht. Es gibt viele Interessenten für die Macht, aber niemanden unter ihnen, der willens und in der Lage wäre, die Situation wirklich zu kontrollieren. Der Krieg dringt mittlerweile bis ins Herz der Hauptstadt vor. Militante setzen einem durch die Hängepartie seiner Neuwahl angeschlagenen Präsidenten zu, dessen Kandidaten für Ministerposten das Parlament reihenweise durchfallen lässt.
In Ermangelung von Ideen, wie man das politische System in Afghanistan stärken kann, konzentriert sich die internationale Gemeinschaft in London auf das Thema Sicherheit, auf Truppenaufstockung und eine “Wiedereingliederung” von Taliban. Nach acht Jahren Wiederaufbau geht es bei einer zumindest symbolisch wichtigen Geberkonferenz nicht vorrangig um diejenigen, mit denen man gedenkt, etwas aufzubauen – sondern um diejenigen, die der Entwicklung des Landes entgegenstehen. Doch wie verhandelt man mit einer Gruppe, die aufgrund der eigenen Stärke wenig geneigt ist, Konzessionen einzugehen? Und deren Vorstellungen einer Neuordnung eingangs formulierten Interventionsinteressen diametral entgegenstehen?
Als es 2001 galt, die militärische Intervention in Afghanistan zu begründen, waren Menschen- und Frauenrechte ein prominentes Thema. Es still geworden um diesen Bereich. Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission legte bereits 2005 einen Aktionsplan zur Versöhnung vor, dem die afghanische Regierung damals zustimmte – ohne ihn umzusetzen. Ausgerechnet diese Kommission wurde spät und halbherzig nach London eingeladen. Die Akteure der Zivilgesellschaft, von außen bislang massiv gefördert, können sich des Eindrucks nicht erwehren, man wolle ihre Stimme eigentlich doch nicht zu laut hören.
Dass alles Wichtige ohnehin über ihre Köpfe hinweg und hinter verschlossenen Türen entschieden wird, argwöhnen viele Afghanen. Das spiegelt sich auch in der Erklärung der “50%-Kampagne”, einer afghanischen Frauenrechtsinitiative im Vorfeld der Konferenz: Sie lehnt Verhandlungen mit den Taliban nicht ab, aber fordert, dass dieser Prozess transparent ablaufen und nicht auf Kosten von Menschen- und Frauenrechten gehen darf – auch wenn zu befürchten ist, dass es letztlich genau darauf hinauslaufen wird.
Es mag unbequem sein, daran erinnert zu werden, was man versprochen hat, wenn es nicht gelingt, seine Zusagen einzulösen. Für einen Staat, der auf eigenen Beinen stehen soll, reicht es jedoch nicht, sich militärischen Fragen zu widmen und Wahlen ungeachtet ihrer Qualität als Zeichen der Demokratisierung zu beschwören. Die internationale Gemeinschaft sollte über Fragen der Sicherheit nicht die konstruktiven Kräfte vernachlässigen, mit denen sie in den vergangenen Jahren gearbeitet hat. Ein Staat braucht Bürger, die sich für ihn engagieren – und funktionsfähige Institutionen, denen diese vertrauen können.
Dieser Kommentar erschien zunächst am 29. Januar 2010 bei The European.