Von Bente Scheller
Die Friedens-Jirga Anfang Juni soll Präsident Karzai möglichst breite Zustimmung für Verhandlungen mit den Taliban sichern. Je näher das Ereignis rückt, desto deutlicher werden jedoch gesellschaftliche und politische Spannungen. Die Regierung hat keine Lösung für den sich zuspitzenden Konflikt zwischen der ethnisch-religiösen Minderheit der Hazaras und paschtunischen Nomaden. Die Opposition will die Jirga boykottieren. Zusätzlich treiben Präsident Karzais plumpe Versuche, das Parlament zu umgehen, die Volksvertreter in einen erbitterten Widerstand. Wie repräsentativ kann das Ergebnis der Jirga unter diesen Bedingungen sein?
Zwei Mal wurde die „Friedensjirga“ verschoben, die nun am 2. Juni in Kabul beginnen soll. Das Hauptziel ist, Präsident Karzai das Mandat für Verhandlungen mit den Taliban zu sichern. Nachdem sich in den vergangenen Jahren immer stärker gezeigt hat, dass man um die Taliban und ihnen nahestehende Kräfte nicht herumkommt, soll ein versöhnlicherer Kurs das Land sicherer und regierbarer machen. Die Taliban sind eine gesellschaftliche Kraft. Ihre konservativen Wertvorstellungen spiegeln die eines Großteils der Bevölkerung wieder. Doch ebenso wesentlich basiert ihr Erfolg auf Einschüchterung. In vielen Gegenden bedeutet es Gefahr für Leib und Leben, sich ihnen entgegenzustellen. Wenn mit Verhandlungen eine Verbesserung der Sicherheitslage erreicht werden kann, ist aus der Sicht vieler Afghanen bereits viel gewonnen.
Schritt für Schritt hat die Regierung von Präsident Karzai konservativen Idealen nachgegeben. Das umstrittene Personenstandsgesetz für die schiitische Minderheit im letzten Herbst war ein Fall davon. Gerade vor einem Monat hat die Regierung Razzien in einigen Kabuler Restaurants durchgeführt und Verfahren gegen die Besitzer angestrengt, weil die Lokale Alkohol ausschenkten – was für die Islamische Republik Afghanistan zu unmoralisch wäre. Dass dieselbe Regierung diesen Lokalen Schanklizenzen ausgestellt hatte, störte hierbei nicht. Seit dem 17. April bekommen auch Internet-Nutzer zu spüren, wie der afghanische Staat versucht, Unsittlichkeit zu bekämpfen. Ob Blog-Webseiten, Informationsportale oder die Bundesliga – je nach Provider bekommt man hier den Hinweis auf eine Sperrung der Seiten wegen Prostitution, Werbung für Drogen oder Glücksspiel. „Wenn das so weiter geht“, bemerkte neulich ein Kollege zynisch, „gibt es bald nichts mehr, worüber Regierung und Taliban verhandeln müssen, weil all deren Interessen schon vorab umgesetzt werden.“
Umso wichtiger scheint der Regierung zu sein, einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens über die Gespräche zu demonstrieren. Bislang kann sich niemand ein Bild davon machen, wie repräsentativ die Teilnehmer der Jirga für die afghanische Bevölkerung sind. Auch Tage vor dem Großereignis ist noch keine Teilnehmerliste veröffentlicht worden. Das leistet den Gerüchten Vorschub, dass ohnehin nur diejenigen geladen wurden, die Karzai unterstützen. Dr. Abdullah Abdullah, Karzais stärkster Rivale in den vergangenen Präsidentschaftswahlen, erklärte, er werde die Jirga nicht unterstützen. „Der Pfad, den Karzai einschlägt, führt in Richtung Diktatur, nicht Demokratie“, sagte Abdullahs Sprecher.
Immerhin in einer Richtung ist im Vorfeld der Jirga etwas erreicht worden. Auf Druck afghanischer Frauenrechtsbewegungen hin wurde die Zahl der weiblichen Teilnehmer erhöht. Nachdem ursprünglich vorgesehen war, nur 30 Frauen einzuladen, sollen sie jetzt etwa 320 der insgesamt 1600 Teilnehmer stellen.
Doch während die Vorbereitungen und PR-Arbeit zur Präsentation der Jirga auf Hochtouren laufen und ganz Kabul von Werbeplakaten nur so strotzt, ist die Situation angespannt. Im Ausland weitgehend unbeachtet spielt sich in Behsud in der Provinz Wardak eine Tragödie ab. Afghanische Nomaden – Kuchis – und die ethnisch-religiöse Minderheit der Hazara bekämpfen sich. Laut der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission haben bereits 18.000 Familien die Gegend aus Angst vor den Kämpfen verlassen. „Schüre die Konflikte unter den Stämmen und du wirst König sein“, lautet ein afghanisches Sprichwort, und viele hegen den Verdacht, dass die Regierung in Behsud nach dieser Maxime verfährt. Auch wenn seit einigen Tagen der afghanische Vizepräsident Karim Khalili vor Ort versucht, den Konflikt beizulegen: Vielen klingt noch im Ohr, wie das Innenministerium zunächst bekundete, es handle sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Stämmen, in die sich die afghanische Regierung nicht einmischen könne. Zudem häufen sich die Berichte darüber, dass die Kuchi von der afghanischen Armee bewaffnet werden. Wenn es bis zur Jirga keine Lösung gibt, drohen die Hazara-Abgeordneten der Friedensjirga fernzubleiben.
Doch auch das Parlament insgesamt befindet sich derzeit im Streik. Seit den Präsidentschaftswahlen im vergangenen August ist das Verhältnis zwischen Präsident Karzai und dem Sprecher des Unterhauses, Younes Qanuni, zerrüttet. Im Januar 2010 nutzte Hamid Karzai die Winterpause des Parlaments, um ein neues Wahlgesetz am Parlament vorbei zu verabschieden. Bei dem Versuch, dieses Gesetz nachträglich vom Parlament absegnen zu lassen, scheiterte Karzai. Das ließ ihn jedoch unbeeindruckt. Trotz nahezu einhelliger Ablehnung der Neuregelungen richten sich Wahl- und Wahlbeschwerdekommission für die Parlamentswahlen im September 2010 danach.
Zwei Mal verweigerten die Volksvertreter Karzai die Zustimmung zu einem Großteil der von ihm vorgeschlagenen Minister. Daher sind bis heute 11 der 25 Kabinettsposten unbesetzt. Mit ihrem derzeitigen Streik wollen die Abgeordneten Karzai dazu zwingen, die Minister noch vor der Jirga zu nominieren und bestätigen zu lassen. Parlamentssprecher Qanuni sagt, was viele Leute denken: Karzai spiele auf Zeit, um diese Posten nach der Jirga Vertretern von Hizb-e Islami und den Taliban anzubieten. Bereits am Tag nach der Jirga beginnt die Sommerpause des Parlaments, und zwei Wochen später endet die Amtszeit der Abgeordneten endgültig. Somit hätte die Regierung bis zum Zusammentreten des neuen Parlaments im November 2011 innenpolitisch freie Hand.
Das Parlament, früher eine handzahme Absegnungsinstitution präsidentieller Interessen, wird in den letzten Tagen seiner Amtszeit rebellisch. „Es ist ein Fehler des Präsidenten, anzunehmen, dass wir nach dem 22. Juni nicht mehr da sein werden“, bekundet der Parlamentssprecher Qanuni. „Auch Präsident Karzai ist nach dem formalen Ende seiner Amtszeit nicht zurückgetreten, sondern hat monatelang weiterregiert.“ Seinem Beispiel folgend würden auch die Abgeordneten ihr Mandat erst dann niederlegen, wenn das neue Parlament vereidigt sei. Angesichts der tiefen Spaltung, die sich zwischen der afghanischen Regierung und wichtigen politischen und gesellschaftlichen Akteuren zeigt, ist fraglich, wie aussagekräftig ein Konsens sein kann, der auf der Jirga erzielt wird.