Schätzungen zufolge macht die Schattenwirtschaft in Indien etwa 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Das sind, anders gesagt, 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr, die zum offiziellen BIP addiert werden müssen. Verbunden damit ist eine Kapitalflucht, denn etwa 15 Prozent (an die 90 Milliarden US-Dollar) der so erwirtschafteten Gewinne werden ins Ausland verschoben.
In einem Bericht des US-Instituts Global Financial Integrity wird davon ausgegangen, dass Indien seit seiner Unabhängigkeit 1947 etwa 462 Milliarden US-Dollar durch Kapitalflucht eingebüßt hat – den Großteil davon nach Beginn der Wirtschaftsreformen von 1991. Derselbe und andere Berichte sprechen davon, dass die tatsächlichen Zahlen wahrscheinlich noch weitaus höher sind. Das bedeutet, dass ein armes Land in großem Maße Kapital exportiert hat, was zu Devisen- und Kapitalknappheit führte und die Entwicklung Indiens gebremst hat.
Großer informeller Sektor
Die Schattenwirtschaft betrifft nicht nur das Organisierte Verbrechen. Sie betrifft die gesamte indische Ökonomie. Und sämtliche Eliten, Politiker, Geschäftsleute, Manager, Lehrer und Ärzte sind an ihr beteiligt. Geschäftsleute zum Beispiel geben geringere Einnahmen an, um Steuern zu sparen. Ärzte kassieren entgegen den Vorschriften Provisionen von Laboren, an die sie Patienten für Untersuchungen überweisen oder beteiligen sich am Organhandel. Lehrer geben Schülern gegen eine kleine Zuwendung bessere Noten oder händigen ihnen die Prüfungsaufgaben aus, Polizisten untersuchen Gesetzesverstöße nicht, wenn sie wöchentlich etwas zugesteckt bekommen (solche Zahlungen werden „hafta“ genannt). Politiker lassen sich bestechen oder kassieren für Freundschaftsdienste einen Anteil vom Profit.
Die Trennlinie zwischen legal und illegal ist dünn, die meisten Verstöße sind Teil des offiziellen, ganz legalen Alltagsgeschäfts. Ein Arzt beispielsweise kann überflüssige Untersuchungen verordnen, um so von den Labors mehr Provision zu erhalten. Patienten können nicht erkennen, ob eine Untersuchung erforderlich ist, und sie werden im Zweifelsfall kein Risiko eingehen wollen. Eine Geburtshelferin kann, auch wenn eine normale Entbindung möglich ist, einen Kaiserschnitt anordnen, da sich mit diesem Eingriff mehr Geld machen lässt. Eine Patientin in den Wehen kann nicht wissen, ob dies notwendig ist, und sie ist nicht in der Lage, sich zu wehren.
In der Finanzbranche werden große unversteuerte Einkommen erzielt. An den Börsen wird Schwarzgeld umdeklariert und gewaschen, und man richtet Konten ein, um Geld zu verschieben. An solchen Vorgängen sind Bankmanager in der Regel aktiv beteiligt, denn sie hoffen auf eine gute Beteiligung und fühlen sich wegen des Bankgeheimnisses auch sicher vor Verfolgung. Die Banken fördern solches Vorgehen, sie wollen möglichst viele hoch liquide Kunden – Firmen und Reiche – akquirieren.
Guten Kunden sind sie gern behilflich, Gelder in Steueroasen zu verschieben. Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, dass Banken Hunderte von Zweigstellen in Steueroasen betreiben. Kapitalflucht gibt es in allen Staaten, entwickelten wie Entwicklungsländern – nur gehen letzteren dadurch prozentual mehr Steuereinnahmen verloren. Da sie zudem meist eine negative Handelsbilanz haben, die entwickelten Länder hingegen eine positive, trifft sie die Kapitalflucht besonders hart.
Hoffnungsloser Kampf
Dem Financial Action Task Force Report von 1996 zufolge ist das Volumen der Finanztransaktionen so groß, dass die Suche nach illegalen Vorgängen ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen ist. Trotz aller Anstrengungen von Softwareentwicklern ist es bislang nicht gelungen, die illegalen Transaktionen – einige Billionen US-Dollar weltweit pro Jahr – von den Hunderten von Billionen legalen Transaktionen zu trennen. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Regierungen beim Kampf gegen Kapitalflucht auf verlorenem Posten stehen.
Da sämtliche Eliten systematisch wie strukturell an der Schattenwirtschaft beteiligt sind, kann sie sich immer weiter ausbreiten. Jede Seite hat in diesem Netzwerk etwas auf dem Kerbholz und deswegen nicht das geringste Interesse, das ganze Spiel auffliegen zu lassen. Da auch die Aufsichtsbehörden Teil illegaler Machenschaften sind, können sie ihrer Rolle nicht gerecht werden. Vielmehr dienen sie ihren Chefs – Geschäftsleuten, Politikern, und Beamten – als Werkzeug, das illegale Treiben um so besser zu kaschieren.
Im Laufe der vergangenen 60 Jahre haben sich in Indien mindestens 40 Komitees und Kommissionen mit der Schattenwirtschaft befasst und Tausende von Empfehlungen ausgesprochen. Einige hundert von ihnen wurden sogar umgesetzt, der Schattenwirtschaft hat es nicht geschadet. Die Entscheider wissen sehr wohl, was zu tun wäre, wollte man das Problem angehen, aber der Eigennutz der Eliten verhindert, dass je etwas geschieht. Und sie sind geschützt von einer schwachen Demokratie, in der die Herrschenden den Menschen nicht Rede und Antwort stehen müssen. In Indien ist im Jahr 2005 eine verwässerte Form des so genannten Informationsfreiheitsgesetztes in Kraft getreten, das Bürgern das Recht gibt, Anfragen an Behörden zu stellen und so etwas von ihrem Innenleben zu erfahren. Es hat tatsächlich bereits zu ein paar Verbesserungen geführt –es bleibt zu hoffen, dass es auch langfristig für mehr Transparenz, für mehr Gesetzestreue sorgt.
Prof. Dr. Arun Kumar, Ökonom an der Jawaharlal Nehru University, New Delhi, Indien