Die Bonner Außenministerkonferenz sollte die Grundlagen schaffen, „die von allen gemeinsam begangenen Fehler und Mängel der letzten zehn Jahre endlich in Erfolg und Leistung für die Zukunft umzuwandeln“. Diese Hoffnung hatten Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft im Dezember 2011 auf der Bonner Afghanistan-Konferenz geäußert und sich mit Forderungen an die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung gewandt. Sie plädierten u.a. für effektive Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, Unterstützung beim Aufbau der nationalen Armee und Polizei und für die Unabhängigkeit der Justiz.
Vorausgegangen war ein monatelanger innerafghanischer Meinungsbildungsprozess, der von der "Afghanistan Independent Human Rights Commission" (AIHRC) moderiert worden war und ein breites Spektrum zivilgesellschaftlicher Organisationen umfasste. Begleitet wurde dieser Prozess von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung unter Mitwirkung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Eine Gruppe von 34 gewählten Vertreter/innen der afghanischen Zivilgesellschaft nahm anschließend an einem "Zivilgesellschaftlichen Forum Afghanistan" in Bonn teil und präsentierte ihre Politikempfehlungen der Öffentlichkeit. Die Hälfte der Vertreter/innen stammte aus den Provinzen Afghanistans, unter ihnen waren Repräsentant/innen von Gewerkschaften, Jugendorganisationen und Medien, der Frauenanteil lag bei rund 50 Prozent. Zwei Sprecher, der Journalist Barry Salaam und die Frauenrechtlerin Selay Ghaffar, präsentierten ihre Forderungen bei der offiziellen Außenministerkonferenz in Bonn.
Interview mit Barry Salaam, einer der beiden Sprecher der Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft und zugleich Journalist, Menschenrechtsaktivist und Leiter des Radioprogramms „Good morning Afghanistan“ und des TV Senders Channel 7. Barry Salaam ist Repräsentant des „Civil Society and Human Rights Network“ (CSHRN), einer der größten Dachverbände von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Afghanistan.
Barry Salaam, was waren Ihre Erwartungen, nachdem Sie neben Selay Ghaffar zum Sprecher der afghanischen Zivilgesellschaft für Bonn ausgewählt wurden?
Ich habe mich sehr geehrt gefühlt, dass ausgerechnet ich gewählt wurde. Das war aber nicht der alleinige Grund, sondern auch die Tatsache, dass ich durch einen sehr demokratischen Prozess bestimmt wurde, organisiert von fast allen großen, zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsorganisationen in Afghanistan. Dieser Vorgang ist beispiellos, wir hatten noch nie einen derartigen Prozess. Ich war sehr glücklich, aber selbstverständlich auch nervös, ob ich in der Lage sein würde, unsere Zivilgesellschaft bestmöglich zu repräsentieren. Ich denke aber, dass uns zusammen mit den anderen 32 Delegierten ein sehr positiver Austausch mit der internationalen Gemeinschaft gelungen ist, wir konnten ausgiebig unsere Ansichten diskutieren.
Was war Ihr Haupterfolg in Bonn?
Unser erster Erfolg war der schon in Kabul entwickelte Prozess, währenddessen wir 34 Repräsentant/innen wählten, die an der internationalen Afghanistan-Konferenz teilnehmen konnten, und das in diesen schwierigen Zeiten. Wir sind der Meinung, dass die Bonner Konferenz ein Wendepunkt war sowohl für Afghanistan als auch für die internationale Gemeinschaft – mit Blick auf die beiderseitigen Beziehungen, auf die Zukunft Afghanistans und auf die fremde Besatzung. Regierungen werden gewählt, um Nationen zu repräsentieren, aber dennoch ist die Zivilgesellschaft die wahre Stimme des Volkes. Es war für die afghanische Bevölkerung wichtig, dass die Zivilgesellschaft in Bonn vertreten war und ihre Ansichten und die der Afghanen präsentieren konnte. Unser zweiter Erfolg bestand in der Art und Weise, wie wir aufgetreten sind. Während des zweitägigen zivilgesellschaftlichen Forums konnten wir mit internationalen Akteuren – darunter Wissenschaftler, Think-Tanks, Medien und Politiker/innen – diskutieren und die Ansichten der afghanischen Zivilgesellschaft herausarbeiten. Auch auf der Hauptkonferenz in Bonn haben wir mit unseren Reden bei vielen Delegierten und Außenminister/innen einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Wir konnten der internationalen Gemeinschaft mitteilen, was wir wollen.
Unser dritter Erfolg war die offizielle Abschlusserklärung, bei der wir das Gefühl hatten, dass viele unserer Forderungen übernommen wurden.
Hat sich die Zivilgesellschaft nach der Bonner Konferenz verändert? In welche Richtung?
„Zivilgesellschaft“ ist ein sehr vager Begriff, er umfasst Medien, Menschenrechtsorganisationen, Organisationen, die sich für verschiedene Gruppen einsetzen, soziale und kulturelle Gruppierungen, den privaten Sektor, Think-Tanks. Verständlicherweise ist es in allen Ländern sehr schwierig, diese Teile der Gesellschaft zusammenzubringen und zu mobilisieren.
Aber lassen Sie mich eine Sache hervorheben: Nationale Themen betreffend herrschte schon vor der Bonner Konferenz ein Konsens unter den zivilgesellschaftlichen Gruppen. Nach der Konferenz wurden dieser Konsens, die Solidarität und die Mobilisierung innerhalb der Zivilgesellschaft weiter gestärkt. Momentan arbeiten die großen zivilgesellschaftlichen Netzwerke an einer gemeinsamen Herangehensweise und einer gemeinsamen Haltungen zu großen nationalen Themen. Ein Beispiel ist die Wahl der Kommissare der „Afghanistan Independent Human Rights Commission" (AIHRC). Für manche von ihnen läuft die Amtszeit aus und Präsident Karzai muss neue Kommissare einstellen. Die Zivilgesellschaft arbeitet eng zusammen, um eine Liste mit geeigneten Personen aufzustellen, die sowohl einen Menschenrechtshintergrund haben als auch in der Lage sind, diesen Posten zu übernehmen. Wir beobachten mehr Solidarität, mehr Konsens und mehr Koordination und Kooperation unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Geht die internationale Gemeinschaft heute anders auf die Zivilgesellschaft zu?
Sowohl vor als auch nach Bonn konnte man beobachten, dass die internationale Gemeinschaft der Zivilgesellschaft mehr und mehr Anerkennung schenkt – auch bei ihrer Aufgabe, Afghanistan in dieser kritischen Zeit zu formen. Trotzdem versuchen einige Länder, die in Afghanistan involviert sind, mit Oppositionsgruppen wie den Taliban einen Friedensdeal auszuhandeln und somit den Konflikt in Afghanistan und die fremde Besatzung möglichst zügig zu beenden. Dabei dürfen jedoch die in der Verfassung garantierten Rechte nicht geopfert werden.
Während wir also auf der einen Seite die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft wertschätzen, gibt es auf der anderen Seite Themen, bei denen wir anderer Meinung sind als die internationale Gemeinschaft oder die afghanische Regierung. Unterm Strich ist es aber gut und stimmt uns hoffnungsvoll, dass wir zusammenarbeiten und Teil des Prozesses der internationalen Gemeinschaft sind. Wir arbeiten hart, um mehr Anerkennung von der afghanischen Regierung für unsere soziale und politische Rolle zu erhalten, damit wir unsere ergänzende Funktion in allen Bereichen der afghanischen Politik wahrnehmen können. Wir brauchen nicht nur mehr Anerkennung und mehr Engagement von der internationalen Gemeinschaft, sondern auch von der afghanischen Regierung.
Was würden Sie Akteuren raten, die mit der afghanischen Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, diese unterstützen?
Meine erste Empfehlung ist eine engere Kooperation und Koordination mit allen Bereichen der Zivilgesellschaft. Außerdem eine engere Kooperation mit und mehr Unterstützung für die Medien, da die Medien die Stimme der Zivilgesellschaft und der Nation sind. Wir müssen der Zivilgesellschaft und ihren Aktionen eine Stimme geben.
Meine dritte Empfehlung richtet sich an die internationale Gemeinschaft, die afghanische Regierung stärker unter Druck zu setzen. Diese muss sich an Regeln halten und der Zivilgesellschaft einen angemessen Status, Anerkennung und das Recht zur Beteiligung an Entscheidungsprozessen zugestehen.
Außerdem erhoffe ich mir von der internationalen Gemeinschaft, mit uns zu kritischen Themen wie Frieden, Aussöhnung und der Zukunft Afghanistans zusammenzuarbeiten. Sie sollten uns als zuverlässigen Partner akzeptieren, unsere Fähigkeiten nutzen und uns helfen, diese weiter auszubauen und uns technische und sogar finanzielle Unterstützung zur Verfügung stellen. Wir wollen ja keine Unternehmen gründen, sondern wir wollen einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Dafür brauchen wir Hilfe und Unterstützung und es ist wichtig für uns, dass wir langfristig unterstützt werden – um Fortschritte für Afghanistan zu erreichen.
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Das Interview führten Sarah Braig und Karoline Richter, Pressesprecherin der Heinrich-Böll-Stiftung.
Dossier
Afghanistan 2011 - 10 Jahre Internationales Engagement
Nach zehn Jahren internationalem Einsatz in Afghanistan wird im Dezember 2011 eine weitere Afghanistan-Konferenz in Bonn stattfinden. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt seit 2002 aktiv den zivilgesellschaftlichen Aufbau in Afghanistan und fördert den Austausch zwischen deutscher und afghanischer Öffentlichkeit. Das folgende Dossier gibt Raum für Kommentare, Analysen und Debatten im Vorfeld der Bonner Konferenz zu Afghanistan.