Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Flutkatastrophe gibt Pakistans Islamisten Auftrieb

Flutopfer in der pakistanischen Provinz Khyber-Pakhtunkhwa. Foto: Globovisión (Quelle: flickr.com) Dieses Bild steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

4. August 2010
Von Britta Petersen und Saima Jasam
Die Flutkatastrophe, die in Pakistan bereits etwa 1.500 Menschen das Leben gekostet und 1,5 Millionen obdachlos gemacht hat, ist noch  nicht vorbei. Das pakistanische Wetteramt erwartet für diese Woche weiteren Regen in den südlichen Provinzen Sindh und Punjab sowie im pakistanischen Teil des Bergstaates Kaschmir; außerdem Springfluten in der bereits am stärksten betroffenen Provinz Khyber Pakhtunkwa (früher: Northwest Frontier Province), im Punjab und in Balutschistan. Auch der Hauptstadt Islamabad drohen heftige Gewitterregen.

Am stärksten betroffen sind das ohnehin schon durch die Auseinandersetzung zwischen Taliban und Militär schwer beschädigte Swat-Tal sowie Teile von Malkand. Zwischen den Orten Chakdarra und Karram wurden alle Brücken über den Swat-Fluss weggespült, Straßen sind gar nicht mehr sichtbar. Nach Einschätzung von Beobachtern wird es Jahrzehnte dauern, bis die Infrastruktur in Swat wieder vollständig hergestellt ist.

Es fehlt an Unterkünften, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Trinkwasser

„Das Schlimmste steht uns noch bevor“, sagt die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation. „Die Menschen, die vom Militär in Hubschraubern und Booten in Sicherheit gebracht wurden fragen: „Warum lasst Ihr uns hier? Wo sind die Zelte? Wo sind Nahrungsmittel? Wo gibt es Wasser?“ Allgemein herrscht der Eindruck, dass die Regierung im Umgang mit dieser größten Flutkatastrophe seit 80 Jahren völlig versagt. Obwohl die Armee inzwischen mehr als 50.000 Mann für Rettungsmaßnahmen abgestellt hat, fehlt es an Unterkünften, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Trinkwasser für die Flüchtlinge. In einigen Regionen ist es bereits zu Kämpfen um Mineralwasserflaschen gekommen.

„Ich habe in den letzten Tage Hunderte von Menschen behandelt“, sagt der Arzt Imtiaz Hussain Bangash aus Khyber Pakhtunkwa. „Die meisten sind depressiv und haben Hautkrankheiten, weil sie den ganzen Tag im Wasser stehen“. Die Regierung der Provinz erwartet den Ausbruch von Seuchen. Rund zwei Millionen Menschen sind von Krankheiten bedroht, die durch das Wasser übertragen werden. „Wir schätzen, dass 100.000 Menschen - vor allem Kinder - bereits mit Cholera und Magen-Darm-Krankheiten infiziert sind“, sagt Gesundheitsminister Syed Zahir Ali Shah.

Doch die geplante Evakuierung der Opfer könnte durch weitere Regen erschwert werden. Die Behörden in Khyber Pakhtunkhwa haben bereits eine Warnung an die Bewohner der Region Warsak – nur 30 Kilometer vor den Toren der Millionenstadt Peshawar  – erlassen. Es besteht die Gefahr, dass der Warsak-Staumdamm, einer der größten des Landes, den Fluten nicht standhält.

Der Präsident reist durch Großbritannien

Während die Vereinten Nationen von einer „ernsthaften humanitären Katastrophe“ sprechen und prüfen, ob sie die Geberländer um weitere Hilfen bitten müssen, befindet sich Präsident Asif Ali Zardari weiter in London. Der umstrittene Politiker weilt  derzeit in Großbritannien auf einer Good-Will-Tour, um seinem Sohn Bilawal den Einstieg in die Politik zu erleichtern. Zuvor hatte er in Paris Präsident Nicolas Sarkozy getroffen. Doch die Reise wird zunehmend zum PR-Desaster. Gestern sagten mehrere pakistanisch-stämmige Mitglieder des Parlaments in London ein Treffen mit Zardari aus Empörung ab. „Ich werde den Präsidenten nicht treffen, weil ein Staatsoberhaupt im Katastrophenfall in seiner Heimat sein sollte“, sagte Lord Nazi Ahmed, ein Mitglied der Labour Partei. „Offen gesagt, ich finde es eine Unverschämtheit, dass er hier mit einer riesigen Entourage in einem 5-Sterne-Hotel wohnt und Dutzende Autos mietet“, so der britische Lord.

Auch in Pakistan wächst die Wut über die Politik. „Zardari sollte die Regionen besuchen, die von der Flut betroffen sind und Hilfe für die gestrandeten Menschen organisieren statt Vergnügungsreisen nach Paris und London zu unternehmen“, schimpft  der 40-jährige Sher Khan aus Majuky Faqirabad, einem der am schlimmsten betroffenen Dörfer. „Von einer demokratischen Regierung erwartet man, dass sie alle Ressourcen mobilisiert um den Menschen zur Hilfe zu eilen“, sagt Riffat Hussein, Chef der Abteilung „Verteidigung und Strategische Studien“ an der Qaid-e-Azam Universität in Islamabad. „Was wir stattdessen sehen ist eine völlige Lähmung.“ Der frühere General und Verteidigungsexperte Talat Masood vermutet etwas hilflos: „Die Regierung ist so sehr damit beschäftigt, an allen Ecken und Enden Feuer zu löschen. Sie hat weder die Vision noch die Fähigkeit, eine langfristige Perspektive für den Umgang mit Katastrophen zu entwickeln.“

Obwohl vereinzelt Politiker wie die Parlamentarierin und Partnerin der Heinrich-Böll-Stiftung, Bushra Gohar, unermüdlich in ihrem Wahlkreis Hilfe organisieren, fühlen sich die Menschen auch von den Provinzregierungen allein gelassen. „Es ist leider so, dass hier in Khyber Pakhtunkhwa die Vertreter der regierende Awami National Party (ANP) aus Angst vor den Extremisten nicht in die betroffenen Regionen fahren“, sagt Altaf Ullah Khan, Professor an der Universität von Peshawar. Die säkulare ANP hat bereits zahlreiche hochrangige Mitglieder durch Attentate verloren. Zwar sei es überaus lobenswert dass Bushra Gohar sich engagiere, so Khan. „Aber die Leute hier sind zutiefst konservativ. Sie fragen: „Warum schickt Ihr uns eine Frau? Wo sind die Männer?“

Islamistische Hiflsorganisationen verteilen Essen und richten Ambulanzen ein

Die weitaus meisten Männer schicken derzeit islamistische Hilfs-Organisationen wie Falah-e-Insaniyat. Die Gruppe gilt als Nachfolgeorganisation der verbotenen Jamat-ud-Dawa, ein ziviler Arm der Terrororganisation Lashkar-e-Tayyba (LeT). LeT war nach den Attentaten in der indischen Stadt Mumbai 2008 auf Druck Indiens und der USA in Pakistan verboten worden. „Wir sind in den Katastrophengebieten voll präsent“, freut sich Falah-e-Insaniyat-Sprecher Salman Shahid. „Wir sind die einzige Organisation, die den Menschen in den eingeschlossenen Gebieten und denen, die am Straßenrand campieren gekochtes Essen zur Verfügung stellt.“ Außerdem habe seine Organisation bereits 13 Lager für Obdachlose in den am stärksten betroffenen Regionen sowie sechs medizinische Einrichtungen und ein Dutzend Ambulanzen eingerichtet.

Zwar haben sich auch liberale Nicht-Regierungsorganisationen sich zu Konsortien zusammengeschlossen und organisieren Hilfe. Doch die Islamisten sind bei weitem am besten aufgestellt. „Das war immer schon so“, sagt Altaf Ullah Khan aus Peshawar. „Die Islamisten waren bei jeder Katastrophe die ersten, die zur Stelle waren. Auf diese Art und Weise gewinnen sie die Herzen der Menschen.“ Und sie nutzen die Not der Menschen für ihre Propaganda. Nach einem Bericht des britischen TV-Senders „Channel 4“ haben die Taliban in den betroffenen Flutregionen einen Waffenstillstand verkündet. Zugleich verbreiten sie die Botschaft, dass die Naturkatastrophe eine Strafe Gottes dafür sei, dass Pakistanis gegen den Islam und die Scharia-Gesetzgebung verstoßen.

Die demokratisch gewählte Regierung in Islamabad braucht deshalb dringend unsere Unterstützung, um einer weiteren Radikalisierung des Landes entgegen zu wirken.

.....
Britta Petersen ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore

.....
Weiterführende Links:


.....
Das Interview mit Britta Petersen zur Flutkatastrophe in Pakistan wurde veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von DRS 4 News.