Lernen, ein Staat zu sein - Myanmar/Burma nach einem Jahr Öffnung

Podium der Veranstaltung in der Heinrich-Böll-Stiftung zum Stand der Demokratisierung in Myanmar/Burma. Copyright: Rebecca Roth.

3. Mai 2012
Stefan Schaaf
Den Aufstand der Mönche im September 2007 hatte das Militärregime in Myanmar/Burma, dem früheren Birma, noch blutig unterdrückt. Nach dem verheerenden Tropensturm Nargis im Mai 2008 verweigerte das Regime internationale Hilfe und nahm lieber den Tod von bis zu 100.000 Menschen hin. Gleichzeitig ließen die Generäle über eine neue Verfassung abstimmen. Nach den Wahlen im November 2010, die die demokratische Opposition boykottiert hatte, wurde im Februar 2011 der bisherige Premierminister General Thein Sein neuer Präsident.

Niemand erwartete, dass er Reformen oder eine Öffnung einleiten würde. Doch ein gutes Jahr später hat sich die Lage in Myanmar/Burma auf dramatische Weise verändert: Die charismatische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi wurde aus dem Hausarrest entlassen, vom Präsidenten empfangen und bei einer Nachwahl im April ins Parlament gewählt. Ihre Partei, die Nationale Liga für Demokratie (NLD) wird wieder zugelassen. Politische Gefangene kommen frei. Die Medien des Landes erproben neue Möglichkeiten. Die Wirtschaftssanktionen des Westens werden gelockert, Japan kündigt einen Erlass von fast drei Milliarden Euro Schulden an, Touristen kommen ins Land.

Warum Thein Sein diesen Weg gegangen ist und wie weit der Reformprozess das Land noch tragen wird, ist Gegenstand von Spekulationen. Die Generäle hätten erkannt, dass die internationale Isolation ein zu hoher Preis ist und sie in eine fatale Abhängigkeit von China treibt, lautet eine verbreitete These.

Barbara Lochbihler, Abgeordnete der Grünen im Europaparlament, ist Ende Februar mit anderen MEPs in Myanmar/Burma gewesen. Sie trafen dort Parlamentsmitglieder, Minister, den Präsidenten und Aung San Suu Kyi. Bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung zum Stand der Demokratisierung in Myanmar/Burma berichtete sie von den ersten Schritten im myanmarischen Reformprozess. Ihr besonderes Interesse galt der Menschenrechtslage. Das Justizwesen müsse reformiert werden, sagte sie, angefangen bei der Erstellung eines Haftregisters. Erst dann könne man sagen, wie viele der politischen Gefangenen tatsächlich freigekommen seien – was die EU vor der Aufhebung der Sanktionen gefordert hatte. Wichtig sei auch, wie mit den Verbrechen der Vergangenheit, mit den Tätern umgegangen werde. Dies sei offensichtlich ein heikles Thema. Aung San Suu Kyi habe gesagt, für eine Aufarbeitung sei es noch zu früh. Sie sei dagegen, an den Tätern Rache üben zu wollen. Lochbihler lobte die Schaffung einer Menschenrechtskommission, der erfahrene und engagierte Diplomaten des Landes angehören. Noch verfügt diese aber über keine rechtliche Grundlage, noch werden die Mitglieder von der Regierung ernannt, das werde sich aber hoffentlich zukünftig ändern.

Wirtschaftlich abgehängt

Ein großes Problem ist die Lage der ethnischen Minderheiten, die sich zum Teil bewaffnet gegen das Militärregime zur Wehr gesetzt haben. Viele Angehörige der Minderheiten sind in die Nachbarländer geflüchtet. Die Volksgruppe der Rohingya an der Grenze zu Bangladesch hat nicht einmal myanmarische Papiere. Mit einigen Volksgruppen hat die Regierung Waffenstillstände vereinbart und Verhandlungen begonnen.

Zu den Menschenrechten, so Lochbihler, müsse man auch das Recht auf Bildung, auf Nahrung und Wohnung rechnen, doch sei die wirtschaftliche Lage Myanmars/Burmas noch so rückständig, dass diese Rechte nicht garantiert seien. Es gebe verbreitet Mangelernährung, 90 Prozent der Menschen auf dem Land hätten keinen elektrischen Strom. Sie sei fünf Stunden über Land gefahren, ohne einen Traktor zu sehen.

Ohne Elektrizität, sagte die Journalistin Nwet Kay Khine von der Monatszeitschrift „The Voice“, könnten auch die Medien nicht ihre Arbeit tun. Sie sprach von stundenlangen Stromausfällen in den Städten. Immer wenn die Straßen in tiefes Dunkel fallen, halle ein kollektiver Seufzer durch die Nacht, gefolgt von Freudenrufen, wenn die Lichter wieder angehen. „Dann können wir Filme anschauen, Reis kochen, die Wäsche waschen.“ Noch immer gibt es eine Medienzensur, aber sie sei weniger streng als früher. Man könne nun über politische Bewegungen und die NLD berichten. Aber die Besitzer der Zeitungen seien dem Regime und dem Militärgeheimdienst nahestehende Leute gewesen. Sie erwartet, dass ein neues Mediengesetz klare Bedingungen für die Presse, aber auch für Filme und Videos schafft. Sie hoffe, dass sie ihrer Aufgabe, die Bevölkerung aufzuklären, nachkommen könne. Aber dies sei bei dem niedrigen Bildungsgrad schwierig, denn die Menschen in Myanmar/Burma sind nur vier Jahre in die Schule gegangen.

Neue Freiheiten, neue Risiken

Sie beschrieb, dass sich in Myanmar/Burma eine Zivilgesellschaft bildet, mit mehr als 20.000 Gemeindeorganisationen (CBO), 270 einheimischen und 40 ausländischen Nichtregierungsorganisationen (NGO). Wichtiger noch, so Jost Pachaly, der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Bangkok, ist die neue Handlungsfreiheit der NLD, die bei der Nachwahl vom 1. April 43 von 45 zu vergebenden Sitzen errang. Die Regierung wurde von der breiten Unterstützung für die NLD offenbar überrascht, sagte er. Das werfe die Frage auf, ob bei der für 2015 vorgesehenen Parlamentswahl die jetzigen Machthaber einen klaren Sieg der NLD hinnehmen können. 1990, in einer ähnlichen Situation, waren die Wahlen annulliert worden. Er plädierte dafür, dass die internationale Gemeinschaft „mit Vorsicht“ auf weitere Veränderungen hinwirkt. Myanmars/Burmas Nachbarn haben sich – teilweise aus Eigeninteresse – nicht am strikten Sanktionskurs des Westens beteiligt. Thailand importiert einen großen Teil seines Erdgasbedarfs aus Myanmar/Burma und finanziert dort große Infrastrukturprojekte wie den Hafen in Dawei. 2014 soll Myanmar den Vorsitz des Staatenbundes ASEAN übernehmen, was ein Ansporn ist, vorerst am Reformprozess festzuhalten.

Doch es gibt vielfältige Hindernisse und Risiken für die Transformation Myanmars/Burmas, wie Jasmin Lorch, Gastwissenschaftlerin der Stiftung Wissenschaft und Politik, darlegte: Noch immer sei unklar, wie weit die Hardliner des alten Regimes die Reformer politisch gewähren lassen. Die neuen zivilen Institutionen des Landes sind sehr schwach, und ihre Träger sind unerfahren. Nur drei Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen. Parteien seien nur kleine Grüppchen ohne organisatorische Grundlage. Die neugewählten Abgeordneten können nicht auf einen parlamentarischen Apparat oder auch nur auf Mitarbeiter zurückgreifen. Sie müssen aber demnächst komplexe Aufgaben wie die Verabschiedung eines neuen Investitionsgesetzes oder von Umweltgesetzen bewältigen. Sie müssen auch lernen, ein Budget aufzustellen. Und auf lokaler Ebene agiert eine weiterhin militärische Verwaltung. Die Regionalkommandeure werden eher auf ihre eigenen Pfründe als auf Vorgaben aus der Hauptstadt achten, meinte Lorch. In abgelegeneren Gebieten, so ergaben Befragungen Ende 2011, sei von Reformen eigentlich noch nichts angekommen.

Föderalismus statt Zentralismus

Große Regionen des Landes würden nicht einmal von der Zentralregierung kontrolliert, sondern von bewaffneten ethnischen Minderheiten, etwa im Kachin-Staat von der Kachin Independence Organisation (KIO). 75.000 Menschen sind dort vertreiben worden, bis zu 15.000 sind nach China geflüchtet. In den Minderheitsgebieten werden von Rebellen wie von der Regierung die Menschenrechte verletzt. Die Autonomiebestrebungen dort bergen das Risiko des Staatszerfalls, den das Regime keinesfalls hinnehmen werde. Nur ein Bekenntnis zu einem weitreichenden Föderalismus könne hier zukünftigen Auseinandersetzungen vorbeugen, doch bisher könne sich das Regime mit diesem Begriff nicht anfreunden.

Auf die Minderheitengebiete konzentrieren sich auch die Begehrlichkeiten der internationalen Rohstoffindustrie. Die Aufhebung der EU-Sanktionen lässt hier neue Akteure ins Spiel kommen und in Konkurrenz zu den chinesischen Unternehmen treten. Auch Indien werde sich nun stärker engagieren, erwartet Pachaly. Und japanische Geschäftsleute bevölkern die Hotels der Hauptstadt. Es gibt in Myanmars/Burmas Wirtschaft einen gewaltigen Investitionsbedarf, sagte Lochbihler, auch damit all die Myanmarer, die heute als Arbeitsemigranten in den Nachbarländern die untersten Tätigkeiten erledigen, zurückkehren können. Die Regierung verhandle mit europäischen, aber auch thailändischen Textilunternehmen, entlang der thailändischen Grenze neue Produktionsstätten mit vernünftigen Arbeitsbedingungen zu errichten. Aber in Myanmar/Burma müsse man erst noch lernen, in einer globalisierten Welt seine wirtschaftlichen Interessen zu vertreten. Capacity building sei auch hier eine sinnvolle Aufgabe für die Europäische Union.

Oft wird diese Aufgabe auch von internationalen NGOs übernommen. In Myanmar/Burma droht dabei die gleiche Gefahr wie im benachbarten Kambodscha, wurde in der Debatte angemerkt: Dass die „Demokratisierungs- und Entwicklungsindustrie“ zwar mit den besten Absichten ins Land kommt, aber die Burmesen damit überfordert.

 

 

Dossier

Myanmar/Burma einen Schritt weiter auf dem Weg zur Demokratie?

Die Nachwahlen in Myanmar/Burma am 1. April 2012 haben viel internationales Interesse auf sich gezogen. Die Öffnungspolitik der Regierung Thein Seins und die neue politische Situation bieten ungeahnte Optionen für das stark isolierte Land. Das Dossier gibt eine Momentaufnahme von Eindrücken aus deutscher Sicht und der Region wieder. Es fängt Stimmen aus China, Thailand, Indien und Myanmar/Burma ein.