Wie mit Russland dauerhaft ein Auskommen zu finden ist, bleibt eine schwierige Frage europäischer Außenpolitik. Wo die EU etwas ratlos scheint, braucht man auf die Wortmeldung von Robert Kagan nicht zu warten. In Deutschland durch das Bändchen „Macht und Ohnmacht“ bekannt geworden, schmeichelt er erst den Europäern, wie weit sie schon gekommen sind, um dann zu erklären, dass sie eben deshalb die Welt nicht verstehen. Sie haben Klassen übersprungen und darüber vergessen, wie es die Zurückgebliebenen immer noch treiben. Bei seiner Lektion im Vorfeld des Irakkrieges lobte Kagan, die Europäer seien schon bei Kant. Die übrige Welt sei aber über Hobbes nicht hinausgekommen. Wenn die Musterschüler das nicht verstünden, würden sie letztlich die Dummen sein.
Merkwürdigerweise scheint Kagan trotz des fehlgeschlagenen Marstrips im Irak zu glauben, er könne seinen Lehrplan für Europa einfach um eine russische Lektion erweitern. Die Kluft zwischen den USA und Europa hatte er seinerzeit mit ihren unterschiedlichen Folgerungen aus dem Ende des Kalten Krieges erklärt: „Für Europa bedeutete der Untergang der Sowjetunion nicht nur, dass ein strategischer Gegner wegfiel; in gewissem Sinne erledigte sich damit Geopolitik schlechthin.“ Demgegenüber hätte der „unipolare Moment“ für die USA eine „ganz natürliche und vorhersehbare Konsequenz“ gehabt: „Er erhöhte die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, im Ausland militärische Macht einzusetzen.“
Situationsbedingte Bereitschaft im Ausland militärische Macht einzusetzen, ist keine Strategie, sondern bestenfalls Leichtsinn. Die Notwendigkeit einer Strategie ergibt sich erst aus der Einsicht, dass die eigenen Fähigkeiten zu beschränkt sind, um eine komplizierte Welt beliebig zu steuern. EU und USA folgten nach 1989 nicht unterschiedlichen oder gar entgegen gesetzten Strategien. Sie reagierten überhaupt nicht „strategisch“, sondern spontan: Die EU in der Annahme einer Welt ohne Feinde, die USA in der Überzeugung als „einzig verbliebene Supermacht“ überall das letzte Wort zu haben.
Kagans russische Lektion für Europa folgt demselben Muster, mit dem er den Irakkrieg schmackhaft machen wollte. Wieder sind die Europäer ihrer Zeit voraus und gerade deshalb die Dummen. Sie gäben sich der Illusion hin, die Welt, also auch Russland, sei so weit wie die EU. Doch damit lägen sie daneben: „Geographisch gesehen mögen Russland und die Europäische Union Nachbarn sein, geopolitisch betrachtet aber leben sie in verschiedenen Jahrhunderten. Die europäische Union, die mit ihrer hehren Absicht, alle Machtpolitik zu überwinden und eine neue Ordnung auf Gesetze und Institutionen zu gründen, schon ganz im 21. Jahrhundert angekommen ist, steht einem Russland gegenüber, das noch wie eine Großmacht des 19. Jahrhunderts agiert.“
Kagan deutet die denkbaren Konflikte der EU mit Russland, etwa wenn „Russland in der Ukraine oder in Georgien ernst macht“, als „Kampf der Jahrhunderte“. So könnten eine Krise in der Ukraine, die der NATO beitreten wolle, zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen, die Auseinandersetzungen um Abchasien und Südossetien in Georgien zu einem militärischen Konflikt zwischen Tiflis und Moskau eskalieren. Die „Nationen der Europäischen Union“ wären damit „in einen Konflikt wie im ausgehenden 19. Jahrhundert verwickelt“.
In seiner Auseinandersetzung mit der europäischen Politik arbeitet Robert Kagan mit der Denkfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Kant wirkt schon, aber noch herrscht Hobbes, die Europäer fühlen sich schon im Paradies, können dieser Täuschung aber nur erliegen, weil die USA wissen, dass es soweit noch nicht ist, und Europa unter ihren Atomschirm nehmen. Die Europäer bilden einen „Staatenbund des 21. Jahrhunderts“ und erweisen sich als hilflos, wenn sie sich mit einer „Großmacht aus dem 19. Jahrhundert konfrontiert“ sehen.
Doch das heutige Russland ist kein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts. Es ist völlig angekommen im 21. Jahrhundert. Seine Ideologen gehen davon aus, dass Russland mit Öl und Gas die neuen Waffen in der Hand hätte, mit denen die als demütigend empfundene Niederlage der Sowjetunion im Wettrüsten des Kalten Krieges wett gemacht werden kann. Russlands Stärke wächst ganz aus dem Energie- und Rohstoffhunger des 21. Jahrhunderts. Sie beruht auf der asymmetrischen Verflechtung zwischen einem entscheidenden Energie- und Rohstofflieferanten und fortgeschritteneren Industriestaaten, die im Austausch Maschinerie, Ausrüstung, Konsum- und Luxuswaren liefern. In diesem Verhältnis kann der Lieferant sehr viel unmittelbarer und wirksamer Druck ausüben als Abnehmer. Da seine Macht auf naturgegebenen Vorgaben beruht, treibt ihn zugleich ständig die Furcht um, sie könnten ihm entrissen werden. So schwankt Russland zwischen neuem Machtbewusstsein und neuen Ängsten, trumpft auf, lamentiert und klagt an, droht und erpresst und ist ganz von seiner Zukunft als Großmacht des 21. Jahrhunderts besessen. Beruhte Russlands Stärke im 19. Jahrhundert auf seiner Abgeschiedenheit, so erwächst sie heute ganz aus weltweit gängiger Währung: Gas, Öl und Devisen. Und auch die Atomwaffen sind nicht von Vorgestern.
Russland auf dem Rückmarsch in seine finsterste Vergangenheit sieht der Schriftsteller Wladimir Sorokin. Das „russische Imperium Iwan des Schrecklichen“ lebe wieder auf: „Die neue Gesellschaftspyramide sieht im Inneren und nach außen nur Beziehungen von Befehl und Gehorsam.“ Zugleich werde der „russische Staat zum Geschäftsmodell. Unser Moralkodex ist feudal, folgt korporativen Interessen. Ich handle so, wie mein Vorgesetzter es mir vorschreibt. Unsere Führung redet uns ein, dass wir nicht anders überleben können. Dass Amerika uns erobern und Europa unsere Energieressourcen wegpumpen will.“
Mit „Der Tag des Obritschniks“ imaginiert Sorokin das brutale und groteske Treiben eines verschworenen Männerbundes im Jahr 2027. Anregungen dürfte er auch in einem „tschekistischen Manifest“ gefunden haben. Viktor Tscherkessow, Putinfreund schon lange und heute Chef der Anti-Drogen-Behörde, beschwört dort seine Kollegen: „Ich glaube an unsere Gemeinschaft, an unseren Stand als Stütze des Staates. Ich glaube an unsere Fähigkeit, angesichts der Gefahr alles Kleinliche und Nichtige beiseite zu lassen und den Eid nicht zu verraten.“ Das Zitat findet sich in dem neuen Buch von Dirk Sager „Pulverfass Russland. Wohin steuert die Großmacht?“
Es gibt gewiss keinen Grund, die Entwicklung Russlands zu verharmlosen. Aber klingt nicht gerade die Vorstellung von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ so, als würde auf der Zeitschiene alles irgendwann ins Reine kommen, wenn man einer „Großmacht des 19. Jahrhunderts“ nur angemessen, also mit Hobbes entgegentritt? Ich fürchte, Russland, in anderer Weise China und viele Staaten in dieser Welt des 21. Jahrhunderts befinden sich nicht einfach in einem ungleichzeitigen Verhältnis zu EU und USA: Sie sind von anderer Art. Selbst im Verhältnis von USA und EU kann keine „Amerikanisierung“ etwas daran ändern: Hier steht eine große Staatsmacht, die sich ihre herausragende Stellung von niemand streitig machen lassen will, einem Nicht-Staat gegenüber, der in der Konzentration der Macht und der Schnelligkeit der Entscheidung mit den Staatsgroßmächten nicht gleichziehen kann.
Globalisierung und Geopolitik sind keine Gegensätze, wie Kagan meint. Durch transnationale Vernetzung der Weltwirtschaft und internationalen Verkehr unter Staaten wird dauerhaft das Problem aufgeworfen, wie verschieden geartete Staaten mit gemeinsamen Problemen zum Vorteil aller umgehen können. Die EU kann Konflikten mit Russland nicht aus dem Weg gehen. Sie ergeben sich aus Problemen des 21. Jahrhunderts. Ihre Lösung kann nur in den Formen des 21. Jahrhunderts selbst gesucht werden: der wechselseitigen Abhängigkeit, dem Pluralismus der Staatenwelt, in Integration. Die Chancen liegen nicht in einer raschen Angleichung der Staaten, sondern in den globalen Herausforderungen, denen sich verschiedenartige Staaten und Staatenunionen gleichermaßen stellen müssen: Klimafragen, Vermeidung von selbstzerstörerischen Kriegen im Umgang mit Ressourcenknappheit, Epidemien, Kollapse der internationalen Kommunikation. Entschlossenheit im Umgang mit solchen Problemen schließt Behutsamkeit im Umgang untereinander ein. Wenn Menschenrechte und Demokratie für die EU der Maßstab des eigenen Handelns sind, wird er gegenüber manchen Staaten, auch Russland, oft nur den gegenwärtigen Abstand ermessen lassen. Aus diesem Abstand kann Einfluss erwachsen. Das ist die außenpolitische Grunderfahrung der EU.
Texthinweise:
Robert Kagan, Kampf der Jahrhunderte. Neues Europa, altes Russland, SZ vom 9./10. 08; ders. Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003;
Wladimir Sorokin im Gespräch mit Kerstin Holm, FAZ 12.1.08; ders., Der Tag des Opritschniks. Roman, Köln 2008; Dirk Sager, Pulverfass Russland. Wohin steuert die Großmacht?
Berlin, Februar 2008